Joel Whitebook: Freud
Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 08.07.2019
Joel Whitebook: Freud. Sein Leben und Denken.
Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2018.
559 Seiten.
ISBN 978-3-608-96245-1.
D: 32,00 EUR,
A: 32,90 EUR.
Vorspohl, Elisabeth (Übersetzer) .
Thema
Über Sigmund Freud, den Begründer der Psychoanalyse, wurde bereits eine Vielzahl an Biographien verfasst. Mit diesem Buch wird ein weiterer Beitrag zur Freud-Forschung vorgelegt. Joel Whitebook nennt seine Studie eine „intellektuelle Biographie“, die den Zusammenhang zwischen Sigmund Freuds Lebensgeschichte und der Entwicklung seines Denkens in den Blick nimmt.
Autor
Joel Whitebook ist ein New Yorker Psychoanalytiker, der sich in seinem Studium der Philosophie intensiv mit der Frankfurter Schule auseinandersetzte. Er leitete das Psychoanalytic Studies Program an der Columbia University und lehrt am dortigen Center for Psychoanalytic Training and Research.
Aufbau und Inhalt
Einleitend begründet der Autor die Notwendigkeit, eine weitere Freud-Biographie zu veröffentlichen, mit dem hermeneutischen Prinzip, dass jede Generation sich die Klassiker erneut aneignen müsse. Zwei Themen sollen in dieser Biographie bearbeitet werden und offene Fragen zu Freuds Leben klären:
- die Rolle der „frühen Mutter“ bei Sigmund Freud, die sowohl in seinen Theorien als auch in bisherigen Biographien über ihn wenig Raum einnimmt, und
- Freuds „Bruch mit der Tradition“.
Der Autor betrachtet Sigmund Freud als Vertreter der so genannten „dunklen“ Aufklärung, der sich der Aufgabe verpflichtet fühlte, „das Irrationale zu untersuchen und in eine umfassendere Konzeptualisierung der Vernunft zu integrieren“ (Whitebook, S. 24).
Im ersten Kapitel wird beschrieben, wie sich die Familie Freud im Laufe dreier Generationen von provinziellen Ost-Juden zu säkularisierten modernen Juden „neuen Typs“ wandelte und ihren Weg von Galizien über das mährische Pribor/Freiberg in die moderne Metropole Wien fand. In der Schilderung von Freuds früher Kindheit wird dem von ihm selbst geprägten Bild seiner jungen und lebensfrohen Mutter die Charakterisierung von Amalie Freud als schwieriger, narzisstischer Persönlichkeit gegenübergestellt. In Whitebooks Darstellung sind Freuds erste Jahre durch eine Reihe von Verlusterfahrungen gekennzeichnet, die ihn zu vorzeitiger Ich-Reifung und der Entwicklung eines „phallologozentrischen“ Charakters (Whitebook, S. 62) veranlassten. Aufgrund des traumatischen Charakters dieser Erlebnisse, so Whitebooks Annahme, sei es Freud nicht möglich gewesen, die präödipale, mütterliche Welt später in sein Theoriegebäude zu integrieren.
Das zweite und dritte Kapitel haben Freuds Schul- und Studienzeit zum Gegenstand. Es wird gezeigt, welch hohe Bedeutung Bildung für Freud hatte und von welchen Lehrern er sich beeinflussen ließ. Besondere Aufmerksamkeit wird auf Freuds erste Begegnungen mit dem weiblichen Geschlecht gelegt. Sie wühlten ihn offenbar in einer Weise auf, die den Autor Freuds wissenschaftliche Ambitionen als Gegenreaktion darauf interpretieren lässt, „als Teil seiner Bemühungen, den Kessel der in ihm brodelnden Gefühle und Begierden unter Kontrolle zu bringen, indem er sich der Rigorosität wissenschaftlichen Denkens und der straffen Struktur wissenschaftlicher Forschung unterwarf“ (Whitebook, S. 95).
Die Zeit der Praxis- und Familiengründung steht im Zentrum des vierten Teils. Mehr Raum als die Beziehung Freuds zu seiner Frau Martha nimmt allerdings jene zu Josef Breuer und die gemeinsame Erforschung der Hysterie ein.
In einem theoretischen Exkurs greift der Autor Loewalds Unterscheidung zwischen Freuds „offizieller“ und „inoffizieller“ Konzeptualisierung der menschlichen Psyche auf, auf die im weiteren Verlauf des Buches immer wieder Bezug genommen wird: Im „offiziellen“ Modell ist der Vater der erste – unlustvolle – Repräsentant der Realität, die den psychischen Apparat des Kindes dazu veranlasst, Abwehrmechanismen zu entwickeln, um diese unlustvollen Reize auszuschließen. Diese Annahme beruht auf einem „Spannungsreduktionsmodell“ (Whitebook, S. 169), das dazu führt, dass das Ich zunehmend versucht, primitivere Schichten und Entwicklungsphasen der Psyche zu beherrschen. Nach dem „inoffiziellen“ Modell jedoch beginnt das psychische Leben nicht in einem Zustand der Getrenntheit, sondern von Bezogenheit (der in der Regel mit der Mutter erfahren wird), aus dem schließlich Separation entsteht. Die weitere Entwicklung ist dann davon geprägt, dass die Psyche stets zwischen Getrenntheit und Verbundenheit mit dem Objekt alterniert und diese Beziehung zur Realität immer wieder neu verhandeln muss. In dieser Konzeptualisierung ist die „vornehmste“ Funktion des Ich nicht die Abwehr, sondern die Synthese. Psychische Reife ist nach Loewald nicht durch die Beherrschung von Triebimpulsen gegeben, sondern durch ein „Übereinkommen“ mit ihnen, „eine gelungene Konstellation, in der zwischen den fortgeschrittenen und den primitiveren Schichten des Seelenlebens ein ‚freier Verkehr' besteht“ (Whitebook, S. 422). In einem späteren Abschnitt greift der Autor diese Überlegungen wieder auf, um Freuds Schwierigkeiten bei der Einführung des Lebenstriebs Eros in „Jenseits des Lustprinzips“ (Freud 1920) zu erläutern.
Die nächsten beiden Abschnitte sind Freuds Beziehung zu Wilhelm Fließ- die in erster Linie als homoerotisch gedeutet wird – gewidmet und den daraus resultierenden ersten psychoanalytischen Konzepten, die in die Veröffentlichung der „Traumdeutung“ (Freud 1900) mündeten. Anschließend werden Ähnlichkeiten zwischen Freuds Beziehung zu Fließ und zu Carl Gustav Jung und die Entwicklung von Freuds Wissenschaftsverständnis, die in der Korrespondenz mit Jung deutlich wird, nachgezeichnet.
Kapitel 10 und 11 behandeln den Ersten Weltkrieg und die Schicksalsschläge, die Freud danach bewältigen musste – seine Krebserkrankung, den Verlust mehrerer ihm nahestehender Personen – und die ihn zu theoretischen Revisionen wie der Einführung des Todes- und des Lebenstriebs bewegten.
Daran schließt die Erörterung von Freuds Religionstheorie an, die den Autor zu dem Schluss veranlasst, dass Freuds theoretischem Denken auch bei diesem Thema durch „seine Angst vor dem prä-ödipalen Erleben“ Grenzen gesetzt waren. „Seine Schwierigkeiten mit der Figur der frühen Mutter wurden zum Ursprung einer Reihe fragwürdiger theoretischer Formulierungen.“ (Whitebook, S. 409)
Im letzten Abschnitt werden die prägenden biographischen Ereignisse in Freuds letztem Lebensabschnitt – seine zunehmende Hilflosigkeit aufgrund seiner Krankheit und die Machtergreifung der Nationalsozialisten – mit seinen letzten Arbeiten z.B. zur weiblichen Entwicklung und seinem Vermächtnis für die Psychoanalyse in Verbindung gebracht. Vor allem Freuds letzte Schrift, „Der Mann Moses und die monotheistische Religion“ (Freud 1939) wird gleichsam als Freuds „Testament“ untersucht.
Diskussion
Wer eine allgemeine Einführung in Freuds Leben sucht, mag von der Bezeichnung „Biographie“ am Schutzumschlag des Buches in die Irre geführt werden. Lediglich Freuds Lebensgeschichte und die Entwicklung seiner psychoanalytischen Theorien nachzuerzählen, ist nicht das Anliegen des Autors. Aus der reichen Lebensgeschichte Sigmund Freuds und der Entwicklungsgeschichte der Psychoanalyse werden ausgewählte Ereignisse herangezogen, um ihre Bedeutung für Freuds Theoriebildung nachzuzeichnen oder sie – wie bereits andernorts häufig praktiziert – mit Freuds eigenen Konzepten psychoanalytisch zu deuten. Der Blickwinkel, aus dem diese Interpretation erfolgt, ist in erster Linie ein philosophischer, der Freuds Gedanken mit verschiedenen philosophischen Denktraditionen in Verbindung bringt. Dies macht die Lektüre mitunter komplex und lässt den biographischen Aspekt in den Hintergrund treten. Freuds Biographie bereits gut zu kennen, erleichtert die Lektüre, denn nicht jeder Handlungsstrang wird chronologisch und abschließend erzählt, wie etwa die „amour fou“ (Whitebook, S. 179) zwischen Freud und Fließ.
Zentrale Weggefährten und -gefährtinnen, wesentliche Kontroversen (wie etwa der erste große Bruch mit Alfred Adler), bedeutsame Fallgeschichten wie der Fall Dora oder der Wolfsmann, der Aufbau der psychoanalytischen Bewegung und Freuds Rolle als deren Oberhaupt u.v.m. finden im Buch keine oder kaum Erwähnung.
In zweiter Linie ist die Perspektive auf die Bedeutung der „frühen Mutter“ in Freuds Lebens gerichtet und versucht damit, Freuds Lebensgeschichte für aktuelle Kultur- und Entwicklungstheorien anschlussfähig zu machen. Dies ist verdienstvoll und hebt diese Biographie sowohl von frühen hagiographischen Annäherungen als auch von späteren kritischen Abrechnungen mit Freud ab. Allerdings kann Whitebook bei seiner Studie bereits auf eine Reihe von (feministischen) Quellen der Freud-Forschung zurückgreifen.
Getrübt wird die Freude am Lesen dadurch, dass dem Text zwar ein umfangreicher Appendix an Referenzen angeschlossen ist, aber dennoch viele Textstellen unbelegt bleiben, sodass oft nicht nachvollziehbar ist, aufgrund welcher Quellen und Überlegungen der Autor zu seinen Schlussfolgerungen kommt. Auch ein Nachlesen in der Originalliteratur ist dadurch nicht möglich. Hinzu kommt, dass einige seiner Thesen spekulativ anmuten. So interpretiert der Autor Freuds häufig zitierten Ausspruch nach einem Ohnmachtsanfall, „Es muß süß sein zu sterben“, der von Jung als Ausdruck einer Vatersehnsucht verstanden wurde, um in: „Es muß süß sein, zur frühen Mutter zurückzukehren“ (Whitebook, S. 304 f.). Die zwei „Fakten“, auf die Whitebook sich dabei stützt, bestehen lediglich darin, dass Freud ein Jahr nach diesem Vorfall im „Motiv der Kästchenwahl“ (Freud 1913) den Tod mit dem mütterlichen Prinzip assoziierte, und dass er ebenfalls in diesem Zeitraum das Konzept des primären Narzissmus einführte.
Auch eine Fülle blumiger Formulierungen, die wohl für viele Leser gewöhnungsbedürftig sind, findet sich im Text. So charakterisiert der Autor beispielsweise Freud mit Kants Metapher des krummen Holzes, aus dem „kein ganz Gerades gezimmert werden kann“, um dem Begründer der Psychoanalyse anschließend zu attestieren: „Das Staunenswerte seiner Leistung verhält sich direkt proportional zum Krümmegrad des Holzes.“ (Whitebook, S. 180)
Fazit
Joel Whitebook legt einen Beitrag zur Freud-Biographik vor, der sich vielleicht nicht als Einführungslektüre eignet, aber vor allem für all jene interessant sein wird, die sich für Freuds Denken und die Entstehung der Psychoanalyse in Zusammenhang mit gender studies und Philosophie interessieren und die Freuds Biographie aus einer anderen Sichtweise als jener der zentralen Figur des ödipalen Konflikts betrachten möchten.
Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Es gibt 19 Rezensionen von Barbara Neudecker.
Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 08.07.2019 zu:
Joel Whitebook: Freud. Sein Leben und Denken. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2018.
ISBN 978-3-608-96245-1.
Vorspohl, Elisabeth (Übersetzer) .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25208.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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