Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Thomas Fuchs, Lukas Iwer et al. (Hrsg.): Das überforderte Subjekt

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 05.07.2019

Cover Thomas Fuchs, Lukas Iwer et al. (Hrsg.): Das überforderte Subjekt ISBN 978-3-518-29852-7

Thomas Fuchs, Lukas Iwer, Stefano Micali (Hrsg.): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2018. 403 Seiten. ISBN 978-3-518-29852-7. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR, CH: 28,90 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2252.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

Dem zunehmenden Gebrauch von Begrifflichkeiten wie Burnout, Überforderung und damit in Zusammenhang gebrachten Krankheitskonzepten entspricht in der Tat zwar tatsächlich ein Anstieg in der Anzahl von Depressions- und Burnout-Diagnosen, ein Schluss auf eine erhöhte Realprävalenz dieser Erkrankungen – darauf weisen Fuchs, Iwer und Micali in ihrer Einleitung hin – kann daraus allein jedoch nicht geschlossen werden. Veränderungen in der Klassifikation von Krankheiten und Diagnosegewohnheiten u.a.m. lassen unterschiedliche Interpretationen der entsprechenden Statistiken zu.

Herausgeber

Prof. Dr. med. Dr. phil. Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophie und Psychiatrie an der Universität Heidelberg.

Lukas Iwer, M.Sc. M.A. ist Psychologischer Psychotherapeut in Ausbildung am Frankfurter Psychoanalytischen Institut.

Prof. Dr. phil. Stefano Micali arbeitet als Professor für Philosophische Anthropologie am Husserl-Archiv der Katholischen Universität Löwen.

Inhalt und Aufbau

Nach der Einleitung, in der die Herausgeber Anliegen und Aufbau des Buches erläutern, gehen die insgesamt 23 Autoren in drei großen Teilen der Geschichte, den Ursprüngen und den Folgen von Überforderung nach; jeder Teil schließt mit einem Kommentar, der die von den jeweiligen Autoren aufgezeigten Perspektiven gegeneinander stellt und reflektiert [1].

1. Zur Philosophie und Kulturgeschichte von Überforderung

Die Beiträge dieses Teils zeigen die Komplexität des Phänomenbereiches Depression und Erschöpfung. Dabei wird deutlich, dass Fragen zu sozial bedingten Pathologien nicht vorschnell und monokausal, sondern nur unter Bezugnahme auf gesellschaftliche Strukturen, „die von den Herrschaftsmechanismen einer neoliberalen Logik bestimmt“ sind [2], zu beantworten sind.

2. Epidemiologie und Soziologie der Überforderung

Anhand der Datenlage zur epidemiologischen Entwicklung klinisch definierter Depressionen lässt sich eine Zunahme dieser „Volkskrankheit“ nicht belegen. Vielmehr scheint die Zahl entsprechender Diagnosen bei gleichzeitig steigendem Behandlungsangebot zu stagnieren. Die zu Beginn dieses Teiles formulierte Annahme, dass steigendes Behandlungsangebot „eigentlich“ zu einer Verringerung dieser Diagnosezahlen führen sollte, leuchtet nicht so ganz ein; Verringerung wäre eher in der Folge von Prävention als in der Behandlung diagnostizierter Depression zu erwarten. Empirisch-epidemiologische Befunde verweisen auf Belastungen in der Arbeitswelt, die das Risiko stressbedingter Erkrankungen erhöhen; dazu gehören

  • Leistungsdruck,
  • eingeschränkter Kontroll- und Entscheidungsspielraum,
  • Fehlen angemessener Gratifikationen u.a.m.,
  • vor allem aber auch die Normalisierung von tendenziell überfordernden Praktiken, die damit zu einer selbstverständlichen und zugleich selbstschädigenden Praxis werden können.

3. Klinische Perspektiven aus Psychiatrie und Psychotherapie.

In den Beiträgen dieses Teiles werden klinische Phänomene der Überforderung aus sozialpsychiatrischer und psychoanalytischer Perspektive beschrieben und anhand von Fallbeispielen diskutiert. Einschränkungen beispielsweise in den Fähigkeiten zur Selbstreflexion und Selbstverantwortung oder zur Abgrenzung gegen Informationsüberflutung, eine mit der Betonung der Selbstbestimmung einhergehende Steigerung der psychosozialen Belastungen verweisen auf gesellschaftliche Bedingungen von Überforderungserleben in der Arbeitswelt. Dabei werden diese der Arbeitswelt zuzurechnenden Faktoren weitgehend zu individuellen Problemen umgedeutet, was dadurch verstärkt wird, dass das Verstehen neoliberaler Sozial- und Arbeitsverhältnisse in der psychotherapeutischen Ausbildung so gut wie keine Rolle spielt.

Diskussion und Fazit

Das Buch versammelt anspruchsvolle Beiträge zu einem auch und vor allem in der nicht-fachwissenschaftlichen Öffentlichkeit breit diskutierten Thema. Sie zeigen, dass es auf die Fragen nach dem Zusammenhang zwischen (Arbeits-)Belastung und Belastungsstörungen keine einfachen und monokausalen Erklärungen gibt, sondern dass die Beziehungen zwischen lebens- und arbeitsweltlichen Anforderungen, Gratifikationen und Gestaltungsfreiräumen komplex sind und genauere Analysen erfordern.


[1] Die Beiträge gehen zum großen Teil auf den Kongress „Das überforderte Subjekt – Psychopathologie und beschleunigte Lebensformen“ im Herbst 2015 in Heidelberg zurück.

[2] Flatscher im Kommentar, S. 154

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
Mailformular

Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Rechtien.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 05.07.2019 zu: Thomas Fuchs, Lukas Iwer, Stefano Micali (Hrsg.): Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2018. ISBN 978-3-518-29852-7. Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2252. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25217.php, Datum des Zugriffs 12.12.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht