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Leslie Jamison: Die Klarheit

Rezensiert von Arnold Schmieder, 17.04.2019

Cover Leslie Jamison: Die Klarheit ISBN 978-3-446-25856-3

Leslie Jamison: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. Hanser Berlin (Berlin) 2018. 636 Seiten. ISBN 978-3-446-25856-3. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Riesselmann, Kirsten (Übersetzer) .

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Thema

Frau Jamison widmet ihr Buch allen, „die je mit Abhängigkeit in Berührung gekommen sind“, womit sie vorrangig Alkohol und Drogen meint und vermutlich sehr viele Menschen anspricht. Sie erzählt im besten Sinne des Wortes eine Lebensgeschichte von der frühen Jugend bis ins erst noch beginnende Erwachsenenalter, speist kritische Seitenblicke auf Institutionen der Suchtherapie ein und zeigt ebenso die Ver- und Befangenheit von Mitbetroffenen/Co-AlkoholikerInnen auf, ohne dabei je in die Nähe einer Exkulpation oder Selbstanklage zu kommen. Sie beschreibt, wie sie mehr und mehr auf ihre Droge zentriert war und ihr Leben um diesen Fokus arrangierte, wie sich Auswege, Versuche, mit den misslichen Erscheinungen ihres missbräuchlichen Konsums, als irreleitende Umwege bis ins Rückfallgeschehen erwiesen – um schließlich nach langen Wegen „Klarheit“ zu findet, die nicht nur in Abstinenz aufgeht.

Die Autorin beschreibt nicht nüchtern und sachlich in Form eines Berichts, sondern vor allem die Personen auf ihrem Lebensweg mit Verständnis und Empathie. Wo sie urteilt, sehr klar in Bezug auf institutionalisierte Suchtkrankenhilfe und moderat hinsichtlich der Arbeit in Selbsthilfegruppen (in den USA vorrangig die Anonymen Alkoholiker), wird sie nicht konfrontativ oder barsch, sondern streift Ursachen, was reicht, da ihre Schrift auch nicht mit wissenschaftlichem Argumentationsanspruch auftritt. Ohne Weiteres ist dieses Buch auch nicht in eine Flut vergleichbarer (publizierter) ‚Selbstbekenntnisse‘ einzureihen, wie sie aus den Meetings der AA bekannt sind und dort durchaus ihren Stellenwert im Sinne einer Hilfe durch Selbsthilfe haben; die Autorin schreibt schnörkellos und weiß zugleich ihre Leserin und ihren Leser durch ihre plastischen Beschreibungen und ihre einfühlsame Sprache zu faszinieren – was sicherlich auch der Übersetzerin Kirsten Riesselmann zu danken ist. Worauf manche Leserin und mancher Leser hinsichtlich verallgemeinerbarer Statements der Autorin treffen mag, ist das, was sie im Hinblick auf den Austausch über persönliche Drogenwerdegänge in Meetings sagt: Das könnte jeder hier gewesen sein. Das könnte die Geschichte von jedem hier gewesen sein“ (S. 383) – was auf Mitbetroffene gleichermaßen zutrifft.

Autorin

Leslie Jamison lehrt an der Columbia University und lebt in New York.

Inhalt

Eingangs beschreibt die Autorin, wie sie als Einundzwanzigjährige in Gegenwart eines nur drei Jahre älteren jungen Mannes eine „Line in die Nase“ zog. Der junge Mann war wegen ihres Alters skeptisch, erinnert sie sich, ob sie alt genug für Drogenkonsum wäre. Diesem Freund hätte sie sagen wollen: „Dann verleite mich doch!“, und nach dem Konsum hätte sie das Gefühl gehabt, „richtig viel zu sagen zu haben.“ (S. 24) Damit klingt der idealtypische Weg in Abhängigkeit und Sucht an: Sie will eine Normalität, auch ihre innere, fliehen, sich ausprobieren, und steigt so in eine nur anscheinend andere Normalität ein; ein vergeblicher Ausbruchsversuch, wie sie wird – nicht nur – leidvoll erfahren müssen. Auch der Weg in die Abstinenz ist von herrschender Normalität überschattet, die es, soweit es geht, zu beherrschen gilt. Diese implizite Kritik, die sie in dem von ihr geschilderten Erleben sinnfällig macht, bezeichnet sie an mehreren Stellen als „Logik eines Vertragsmodells“ (z.B. sehr deutlich in Bezug auf die Abstinenz S. 287).

Dass die sogenannte ‚nasse Phase‘ eben nicht nur als sich verdichtender Leidensprozess wahrgenommen und erinnert wird, unterschlägt die Autorin nicht: „Einige Momente meines Trinkerinnenlebens sind in meiner Erinnerung zu angenehm rhythmisierten Wiederholungsschleifen geworden – Whisky-Shots, leichtsinnige Nächste“, wobei sie dann aber ziemlich bald herausfand, „dass ich tatsächlich am liebsten alleine trank.“ (S. 105) Erst im Nachhinein wird die Rolle und Funktion von Freunden und Bekannten klar, zum Beispiele im Dialog mit einem Freund im Auto, der ihr auf eine Frage „exakt das“ antwortete, „was ich hören wollte, und ich mache ihm da auch keinen Vorwurf, denn anders hätte er mich kaum aus seinem Wagen gekriegt.“ Solche Interaktionen sind nicht nur typisch in alkohologenen Zusammenhängen, aber das Geschäft der Instrumentalisierung lernen AlkoholikerInnen perfekt zu beherrschen wie ebenso sich selbst Gründe für das Trinken zu suggerieren: „Ich machte mir vor, wegen meines Ex zu trinken, aber eigentlich war seine Abwesenheit nur der Anlass, den ich mir selbst gab.“ (S. 67) Was sich darin auch zeigt: „Ich wollte einfach nur diese selbstgerechte Traurigkeit über das, was aus mir geworden war, weiter empfinden“ (S. 232); Ausdruck eines Phänomens psychischer Disposition, das sich nicht nur bei AlkoholikerInnen findet und ein Zusammenleben arg zu belasten vermag. Gleichwohl – im Zuge und auf der Folie der üblichen Beziehungsgeschichten – ersehnte sie eine „tief miteinander geknüpfte Verbindung“, eine „Art stabile Einheit“. (S. 163) Was auf dem Weg dorthin – erst einmal – unverzichtbar ist, wofür Ratschläge gegeben werden, auch nach gesundheitlichen Einbrüchen wie „Tachykardie“ (S. 185), fruchtet nicht: „Als ich aus dem Krankenhaus wieder nach Hause kam, beschloss ich, dass der Rat der Ärztin, nichts zu trinken, schlicht ein Rat war.“ (S. 187) Das wesentliche Moment, das sie in ihre Erfahrung einbaut, ist: „Das Trinken ist ein Feind. (Es schadet.) Es ist ein Händler. (Es ist überzeugend.) Es liebt. (Es spendet Trost.)“ (S. 167) – Und so lassen sich Ratschläge entdramatisieren.

Um aus den unangenehmer werdenden „Wiederholungsschleifen“ herauszukommen, bietet sich das Aufsuchen professioneller Hilfe an, was sie im Endeffekt mit dem lapidaren Satz kritisiert: „das alte Schicksal wird über Bord geworfen, ein neues wird ausgegeben.“ Sie bezieht es auf die Therapie in einer „Narco Farm“, die sie als ein „trojanisches Pferd“ bezeichnet, „in dessen Kern ein deutlich niederer Antrieb steckte: die Sucht einzuhegen, ohne es gleich Gefängnisstrafe zu nennen. Die Rhetorik der Narco Farm barg das Versprechen, gebrochene Menschen wieder ganz zu machen und zurück in die Welt zu schicken, wobei allerdings die Linie zwischen Rehabilitation und Reprogrammierung sehr durchlässig war.“ (S. 227) Dazu zitiert sie aus einem Artikel der Chicago Daily News, wo es heißt: „Ein Mann kommt mit einem – seinem – Schicksal in die Farm. Dort wird dann dessen Handelswert evaluiert, und der Mann bekommt ein neues Schicksal. So einfach.“ (S. 227) Dass es so einfach nicht ist und letzten Endes den Betroffenen nach diesem simplen Strickmuster der Integration nicht hilft, dass es um Einfügung in Normalität, wie sie ist, und damit um, was die Autorin in der Deutlichkeit nicht sagt, Widerherstellung der Arbeitskraft (was subjektiv den Betroffenen und ihren Familien frommt), kennzeichnet (auch hierzulande) das Problem samt imponierendem Rückfallgeschehen unter stationär Behandelten (was sehr augenscheinlich auch von nicht explizit offengelegten, internen Kriterien der Genehmigung von Therapien durch Versicherungsträger gespiegelt wird). – Ein Beispiel dafür, wie die Ausführungen der Autorin zum Weiterdenken nicht nur in Bezug auf Parallelen eigener Betroffenheit anregen. Bevor aber (und auch noch nach einer Therapie) eine Betroffene oder ein Betroffener überhaupt einen Gedanken an Hilfesuche fasst, kommen die Ausflüchte nach dem Muster: Man nähert sich der Situation, in der man bestreitet, „eine Alkoholikerin zu sein“, wo man dann immerhin „maßvoll zu trinken“ hat, sich aber gleichzeitig „berechtigt“ fühlt, „genau das Gegenteil zu tun“, weil man es sich durch die Zeitspanne seiner Abstinenz „verdient“ hat, „alles zu trinken.“ (S. 309)

Vor der Droge zu kapitulieren ist ein langer und verschlungener Weg, der sich bis weit in die ‚trockene Phase‘ ziehen kann; die ‚nasse‘ Eva (oder Adam) regt sich noch, zum Beispiel in der allbekannten Variante, „wie ich das mit dem Trinken vielleicht doch noch besser hinkriegen könnte als früher“ – oder: „Sollte ich wieder mit dem Trinken anfangen, würde ich nur an drei Abenden pro Woche trinken.“ (S. 267) Es soll Betroffene geben, denen das gelingt; meist aber kommt man wie Frau Jamison in Konfliktsituationen, dass man sich „weiterhin nach Alkohol verzehrte, ohne den zu leben er“, nämlich ein Wassersprudler (Geschenk ihres Freundes, den sie verdächtigte, sie zu betrügen), „mir doch eigentlich helfen sollte.“ (S. 281) ‚Mahnwachen‘ wie ein Wassersprudler mögen hilfreich sein, eine Garantie geben sie nicht, ebenso wenig wie die eigene Geschichte auf AA-Meetings immer wieder zu erzählen (was in Zweifel zu ziehen ist, wie von der Autorin später anmerkt, dass man nämlich das, „was von der Sucht in Unordnung gebracht wurde, neuronal rekonfigurieren“ kann, wobei der so informierende Mediziner hinzufügte: „Man kann einem Menschen so viel Methadon geben, wie man will. Ein soziales Netz wird er trotzdem noch brauchen.“ [S. 402]). Die Autorin fragte sich, „ob das tatsächlich immer zutraf“ und begründet: „Die Logik der Nüchternheit hatte ich mir wie eine Leergutannahmestelle vorgestellt: Allen Alkohol, den ich nicht trank, würde ich dorthin bringen und dafür meine Beziehung so zurückbekommen, wie sie anfänglich gewesen war. Abstinenz nach der Logik eines Vertragsmodells: Wenn ich nüchtern werde, bekomme ich dafür x.“ (S. 287) Abspulen der eigenen Geschichte und Wiedererkennung in den Geschichten Dritter, Vergegenwärtigung, dass man das, was war, so nicht mehr will, alles eingefangen in den programmatischen Lernschritten der AA, ist vielleicht nicht der Weisheit letzter Schluss. Dann kann, muss man nicht im Alltagsleben (wieder) in die Falle tappen, dass man es doch mit gutem Vorsatz noch mal probiert und zum Glas (zur Flasche) greift: „Das muss der letzte Abend sein. Es war genau wie an dem anderen letzten Abend, den ich gehabt hatte: Ich igelte mich mit einem großen Plastikbecher Whisky ein. Obwohl ich diesmal die ganze Flasche mitnahm. Zur Sicherheit.“ (S. 331) – Auch diese Geschichte kann man nicht nur in der AA, vermutlich kann man sie nach demselben Muster in allen Selbsthilfegruppen hören.

Kreativitätsdruck – ein kurioses Kompositum und bei näherer Betrachtung schon ein Oxymoron – lässt zum Alkohol greifen (und ist anders zu diskutieren als über Drogen induzierte Entkoppelung des Denkens und Fühlens von gesellschaftlich-alltäglicher Standardisierung). Besonders für diejenigen, denen beruflich innovatives Denken abverlangt ist, die von Üblichem und Routinen abweichen sollen und müssen, die flexibel und eben kreativ auf aktuelle Problemlagen reagieren müssen, ist dies eine Gratwanderung; oft erst nach Jahren, wenn sie versucht haben, mit der Balancierstange Alkohol (oder anderen Drogen) sich einigermaßen auszupendeln, ‚stürzen sie ab‘. Leslie Jamison, bei Burroughs anleihend, spricht diese äußere und innere Situation an, die zwar nicht nur, aber vielfach für Intellektuelle ein Gefährdungspotenzial birgt: „Auch für mich hatte das Trinken immer damit zu tun gehabt, etwas in sich reinzutun, etwas hinunterzutrinken – etwas Tröstliches von außen, was für einen Augenblick als Stärke missverstanden werden konnte. Wenn das Trinken reingegangen war, dann ging die Arbeit raus“. (S. 353) Dieses sogenannte Erleichterungstrinken, es hilft nicht nur über die Stupidität repetitiver Teilarbeiten hinweg, es ist vornehmlich, da weniger äußeren Kontrollen ausgesetzt, bei Menschen unter Kreativitätsdruck zu finden und solchen, die ein hochgradig oszillierendes Verhalten in wechselnden sozialen Arrangements an den Tag legen und sich ständig positionieren und inszenieren müssen – was bis in den nur scheinbar ungezwungenen Bereich des Privatlebens reicht. Die Autorin vergisst nicht zu erwähnen, dass die „Kritik an der ‚Illusion‘ trunkener Kreativität (…) gleichermaßen eine Kritik an der Illusion der Einzigartigkeit“ ist (die in sogenannter neoliberaler Anrufung an subjektive Ausstattung prominentes Desiderat ist).

Festigt sich der Entschluss, mit dem Drogenkonsum aufzuhören, birgt das bevorstehende „echte (…) Ende das Antiklimatisches der Erlösung“ – kurzum und ganz banal dränge sich die Frage auf: „Und jetzt?“ Die Floskel, jedes Ende sei ein Anfang, hilft da nicht sonderlich weiter, weil mehr oder minder bange im Raume steht, „welches Leben wohl hinter dem Leben liegen mag, das man gerade hinter sich gelassen hat.“ (S. 482) Guten Rat findet man an dieser Stelle zuhauf, aber es sind eben nur Ratschläge (die allzu oft, in dem Berufs- und Alltagsleben, wie es ist, nur annährend oder nur in Nischen zu verwirklichen sind). Um zu der Aussage von Raymond Carver, den die Autorin zitiert,zu gelangen: „Ich empfinde es wirklich so, dass ich zwei verschiedene Leben gelebt habe“ (S. 531), muss man erst einmal in das andere Leben hineingewachsen sein. Mit Aufnahme abstinenter Lebensweise überschreitet man immerhin und zugleich nur eine Grenze. Bei Carver, seine Gedichte wurden zu einem Halt für die Autorin – lautet eine Gedichtzeile: „‚Alles das zu lieben, was mich mehr werden lässt.“ Die Autorin, die „nach den Mythen der Nüchternheit“ griff, sobald sie „nüchtern war“, wie sie „nach den Mythen des Trinkens gegriffen hatte“, als sie noch trank (S. 535), kann hier Orientierung beziehen, jenes „mehr“ muss sie sich – für sich – selbst erschließen. Und dabei muss sie erkennen, „dass das alte Gespenst der Vertragslogik neben“ ihr saß. (S. 546) Um aus dieser vertrackten Logik herauszufinden, hat sie sich weiter orientieren können an jenen, wie sie in ihrer „Danksagung“ bemerkt, „deren Klarheit und Nüchternheit ein Teil der meinigen wurde.“ (S. 555)

Diskussion

Das Buch lädt zum Stöbern ein, was durch das Inhaltsverzeichnis leicht gemacht wird, da es den Werdegang in eine Suchtkarriere und die markanten Punkte eines süchtigen Lebens bis zum oft sehr schwierigen und nicht immer gelingenden Übergang in ein ‚anderes‘ (idealtypisch) auflistet. Am Ende wird man das ganze Buch gelesen haben. Nur autobiographisch ist das Buch nicht, dafür regt es an zu vielen Stellen weitergehende Reflexionen an – und dies deutlich. Es ist auch keines der (handelsüblichen) ‚Bekennerschreiben‘, dafür ist es zu feinsinnig, immer ohne erhobenen Zeigefinger, weder anklagend noch belehrend. Dass Leslie Jamison in ihrer „Nachbemerkung“ Tacheles redet, ist als durch das Buch ausgewiesener Schlussstrich zu sehen. Dass sie ganz allgemein in Bezug auf das Drogengeschehen fordert, kommen „wir weg von der Inhaftierung und hin zur Entkriminalisierung“ (S. 552), ist in den USA wohl deutlicher auf die Agenda zu setzen als bspw. in Deutschland, wo es aber auch umstrittenes Thema ist und realiter weniger zu Hoffnung Anlass gibt als in anderen europäischen Ländern. Entschieden stellt sie das Dogma des Zwölf-Schritte-Programms (der AA) in Frage und damit auch alle Rehabilitationsansätze, die medikamentöse Unterstützung beim Schritt in abstinente Lebensweise ablehnen. Sie selbst glaubt, „dass ein pluralistischer Ansatz für die Genesung am besten ist“, was eben auch heißt, „das Zwölf-Punkte-Programm mit einer medikamentengestützten Behandlung zu kombinieren.“ (S. 550)

Abgesehen davon, dass in akuten Situationen (vulgo: ‚Entgiftung‘) hierzulande schon lange medikamentös interveniert wird, war vor und in dieser akuten Situation eine aufsuchende Suchtkrankenhilfe von Mitgliedern örtlicher Gruppen der verschiedenen Verbände so sinn- wie hilfreich. Verschiedene Verbände haben sich von dieser direkten Intervention des ‚Aufsuchens‘ abgewandt; das mag daran liegen, dass professionelle Stellen den Rang abgelaufen haben, das kann aber auch daran liegen, dass örtliche Selbsthilfegruppen ‚überaltert‘ und vielfach auch auf Alkohol und ggf. ‚legale‘ Medikamente fixiert sind und ihnen, wenngleich gutwillig, das Verständnis für neue Formen des Suchtmittelmissbrauchs und der -abhängigkeit von meist jüngeren Betroffenen fehlt, was gegenwärtig ein zentrales Problem im Hinblick auf Mehrfachabhängige ist, sogenannte ‚Multitoxikomane‘. Sicher wird man mit einer „ausschließlich auf Abstinenz gepolten Kultur“ scheitern, einer sehr „eng gesteckten Definition der Heilung“, was sich inzwischen herumgesprochen haben dürfte, aber als Zielerreichung für Versicherungsträger und ihre Entscheidung, einen stationären Aufenthalt zu finanzieren, eine vorrangige Rolle spielt, weil der oder die Betroffene schließlich nicht nur zu seinem bzw. ihrem eigenen Wohl und Wehe, sondern für den Arbeitsmarkt (wovon selbstredend ein Gutteil seines Wohls abhängt) ‚fit gemacht‘ werden soll – und so die Kassen der Versicherungsträger füllt (die Sache mit dem „Handelswert“ [s.o.]).

In diese Kerbe schlägt die Autorin, wenn sie fordert, „politische Maßnahmen zu ergreifen, die nicht so tun, als wäre Abstinenz der einzige Zielpunkt, den zu erreichen wir uns überhaupt vorstellen können“ (S. 551), da, was ihr Buch dokumentiert, „die Geschichte einer Besserung eben nicht die Geschichte einer absoluten Abstinenz“ ist. (S. 552) Auch dessen ist man sich in suchttherapeutischen Institutionen hierzulande bewusst und sicher stellt man sich auch im Konkurrenzdruck um vorzeigbaren Zahlen aus Katamnesen mit Fokus auf Abstinenzdauer und Rückfällen die Frage: „Was hilft einem Menschen dabei, dass es ihm bessergeht?“ (S. 553) In Selbsthilfegruppen weiß man, dass die Dunkelziffer der ‚Selbstheiler‘ sehr groß ist. Wie diese Menschen mit den Ursachen oder mehr noch den Wurzeln des Übels, aus denen Drogenmissbrauch mehr wuchert als sprießt, fertiggeworden sind, weiß man nicht und zum Thema wird nicht, was der Nährboden solcher als Unkraut betrachteten Pflanzen ist – das wäre ein Thema für Gesellschaftskritik, die es braucht, eine kritische und ad fontes gehende Analyse, die anschließt, Betroffene und Mitbetroffene vielleicht aufklärt, ad hoc aber nicht hilft.

Fazit

Ganz im Sinne der Widmung der Autorin ist dieses Buch allen zu empfehlen, die „je mit Abhängigkeit in Berührung gekommen sind“ oder noch damit in Berührung sind, was ein häufiger Fall sein dürfte. Menschen, die in Abhängigkeit stecken oder sich in diese Richtung bewegen, was ihnen zumeist bewusst ist und was sie sich selbst gegenüber verharmlosen, könnten in sich kehren – falls ihnen die im Untertitel genannte „Genesung“ nicht das Weihwasser ist, das nicht nur der Teufel meidet. Jenseits von und über wissenschaftliche gelehrsame thematische Bearbeitung hinaus bietet dieses Buch – ganz und gar unprätentiös – Aufklärung für den Zweck der Selbstaufklärung.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 17.04.2019 zu: Leslie Jamison: Die Klarheit. Alkohol, Rausch und die Geschichten der Genesung. Hanser Berlin (Berlin) 2018. ISBN 978-3-446-25856-3. Riesselmann, Kirsten (Übersetzer) . In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25219.php, Datum des Zugriffs 07.06.2023.


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