Jürgen Stremlow, Gena Da Rui et al. (Hrsg.): Gestaltung kommunaler Alterspolitik in der Schweiz
Rezensiert von Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt, 02.12.2019
Jürgen Stremlow, Gena Da Rui, Marianne Müller, Werner Riedweg, Albert Schnyder (Hrsg.): Gestaltung kommunaler Alterspolitik in der Schweiz. Interact Verlag Hochschule Luzern (Luzern) 2018. 168 Seiten. ISBN 978-3-906036-29-8. D: 31,00 EUR, A: 31,90 EUR, CH: 36,00 sFr.
Thema
Neben der Reform der Finanzierung ist die Kommunalisierung der Steuerung innovativer, bedarfsgerechter Versorgungsinfrastrukturen als Kontexte lokaler sorgender Gemeinschaften vor dem Hintergrund der Differenzierung der Wohnformen im Alter das große Thema in dem Pflegepolitikdiskurs in der Bundesrepublik Deutschland. Was können wir von der Schweiz lernen? Wie entwickelt sich dort die kommunale Alter(n)spolitik? Es geht hier nicht um naive Erfahrungstransfererwartungen? Internationale Vergleiche haben die Unterschiede der Länder zu beachten. Die Größe und die Homogenität einer staatlich verfassten Gesellschaft spielen ebenso eine Rolle wie historische Pfadabhängigkeiten und Unterschiede in der Wohlfahrtskultur. Auch Einbettungen (wie im Fall Deutschlands) in die Wettbewerbsregeln der EU, aber auch in die sozialen Vergrundrechtlichungen der Unionsbürgerschaft spielen eine Rolle. Die Schweiz ist ja bekanntlich kein vollwertiges Mitglied der EU, wohl aber den Grundrechtskonventionen der UN völkerrechtlich verpflichtet.
Dennoch lohnt immer ein Blick in die Nachbarschaft.
Autor*innen
14 Autor*innen aus Wissenschaft und Praxis (aus Deutschland und der Schweiz) sind an dem von den Herausgeber*innen organisierten Band beteiligt.
Aufbau
Das Spektrum der Autor*innen korreliert mit der Architektur des Bandes.
- Im ersten Teil (S. 14 ff.) werden Perspektiven aus der kommunalen Welt der Behörden und Verwaltungen auf das Themenfeld geworfen.
- Im zweiten Teil (S. 60 ff.) nehmen Expert*innen aus Deutschland und der Schweiz Stellung zu einer zukünftigen Alterspolitik.
- Im dritten Teil (S. 116 ff.) kommen Fachpersonen aus Gerontologie, Ökonomie und Public Management zu Analysen und Überlegungen.
Die Beiträge des gut strukturierten Bandes sind also transdiszplinär (Wissenschaft und Praxis), interdisziplinär (die selbst intern multidisziplinäre Gerontologie, die eher volkswirtschaftsorientierte Wirtschaftswissenschaft und Public Management als Fach in der Betriebswirtschaftslehre), transnational (Analysen, Überlegungen und Beispiele aus der Schweiz und aus Deutschland) angelegt. Die Einleitung von Stremlow gibt einen Überblick (S. 9 ff).
Inhalt
Die alterspolitischen Rahmenbedingungen werden von Stremlow (16 ff.) knapp im Lichte einer Makro-Meso-Mikro-Mehrebenenanalyse (S. 19) skizziert und verweisen auf kategorial vergleichbare Diskurskonstrukte wie in Deutschland: Steuerung auf kommunaler Ebene, Rolle des Bundes, Dezentralisierung, also Fragen von Föderalismus und Subsidiarität, dann konkretisierte Fragen von Planung, Netzwerkarbeit, Verwaltungskulturentwicklung, letztendlich Fragen der Zielgruppenerreichung. Wie vertraut die Schweizer Welt doch dem bundesdeutschen Ohr klingt.
Eine solche strukturierte Sichtweise auf das Themenfeld hält sich bei weiteren Beiträgen durch, so auch bei der Darstellung ausgewählter Schweizer Städte und Gemeinden im Beitrag von Da Rui u.a. (S. 25 ff.). Es geht um Governancefragen (so auch Gisler S. 110 ff.) innovativer Erreichung der Zielgruppen im Rahmen einer Sozialraumorientierung. Die bundesdeutsche Perspektive sieht das ähnlich (so Bremstahler, Schubert & Zinn: S. 62 ff.). Schnyder bringt sodann das Beispiel Allschwil ein (S 86 ff.).
Wenn in den bisherigen Analysen und Überlegungen Fragen der Zielgruppenorientierung und auch der Beteiligungskultur im Rahmen von Netzwerkarbeit thematisiert worden ist, so fokussiert der Beitrag von Heusser nochmals explizit auf Fragen der Partizipation (S. 97 ff.), eine Einforderung, die der sehr knappe gerontologische Beitrag von Bennett (S. 118 ff.) auch aus den Alter(n)s(bild)verständnissen der Gerontologie begründend ableiten kann.
Der Beitrag von Wächter (S. 127 ff.) ist instruktiv und arbeitet die Finanzierungsregimefrage als wichtige notwendige Rahmenbedingung für eine zukünftige Alter(n)s- und Pflegepolitik heraus. Hinreichende Bedingung sind aber auch hier die Steuerungskompetenzfragen auf kommunaler Ebene, die Probleme einer Mischfinanzierung, die Sozialraumorientierung und Fragen von Case Management, Prävention u.v.a.m. Dazu ist der Beitrag höchst kompatibel, den Tabatt-Hirschfeldt (S. 138 ff.) aus bundesdeutscher Perspektive im Kontext der Welfare-Mix-Idee vorlegt.
Diskussion
Hier liegt ein fachpolitisch wertvoller Band vor. Er ist von der Druck- und Gestaltungsqualität sehr gelungen. Der Band insgesamt ist ebenso strukturiert wie die Einzelbeiträge. Der in der obigen Inhaltsdarlegung erkennbare „rote Faden“ und ebenso der Fokus auf die Kulturfragen des kommunalen Governance der Sozialraumbildung sind ausgeprägt. Natürlich kann der Band diese Komplexität (angesichts des Volumens des Bandes) nicht vollumfänglich abhandeln. Der Band ist kein Kompendium, auch kein Lehrbuch, aber auch kein Forschungsbericht. Der Band ist eine problemfokussierende, sehr systematische und kohärente Analyse und eignet sich zur Einführung vor allem für fachlich interessierte Personen, die sich aber in diesem unüberschaubaren Feld der Vielfalt kommunaler Welten im Mehr-Ebenen-System der Politik und der Rechtsregime und angesichts der Akteursvielfalt noch nicht so souverän auskennen.
Was mir etwas fehlt, sind die dichten Darlegungen der ganzen Problemsichtung der existenziellen Dramatik des Alter(n)s vor dem Hintergrund der normativ-rechtlichen Fragen des Menschenbildes (Anthropologie der Personalität des Menschen) und der rechtsphilosophischen Kontexte (Würde als „Sakralität der Person“, Axiome der Selbstbestimmung, Selbstständigkeit, Teilhabe). Kaum ist auch die Sprache von der Chancengleichheit als Voraussetzung des Grundrechts der freien Entfaltung der Person im Lebenslauf, die wiederum eine wohlfahrtsstaatliche Gewährleistung einer solidarischen und daher - re-distributiven Moralökonomik benötigt. Im gerontologischen Beitrag fehlt dieser Bezug zur philosophischen Anthropologie und Ethik. Ein sozialpolitiktheoretischer Beitrag hätte das Ganze aus der Sicht des modernen Capability Approach fundieren können.
Fazit
Das alles schmälert aber den großen Wert des vorliegenden Bandes nicht wirklich so, dass eine große Leserschaft unbedingt auf den Band ertragreich zurückgreifen sollte.
Rezension von
Prof Dr. Frank Schulz-Nieswandt
Univ.-Prof. für Sozialpolitik, qualitative Sozialforschung und Genossenschaftswesen an der Universität zu Köln
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Zitiervorschlag
Frank Schulz-Nieswandt. Rezension vom 02.12.2019 zu:
Jürgen Stremlow, Gena Da Rui, Marianne Müller, Werner Riedweg, Albert Schnyder (Hrsg.): Gestaltung kommunaler Alterspolitik in der Schweiz. Interact Verlag Hochschule Luzern
(Luzern) 2018.
ISBN 978-3-906036-29-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25229.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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