Heinz-Elmar Tenorth: Wilhelm von Humboldt
Rezensiert von Dr. Sebastian Engelmann, 29.07.2019

Heinz-Elmar Tenorth: Wilhelm von Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform. Verlag Ferdinand Schöningh (Paderborn) 2018. 262 Seiten. ISBN 978-3-506-78880-1. D: 49,90 EUR, A: 51,30 EUR, CH: 60,90 sFr.
Wilhelm von Humboldts Überlegungen zu Bildungspolitik und Universitätsreform
Fast schon unübersichtlich stapelte sich die Literatur zu Wilhelm von Humboldt 2017 in den Buchläden Deutschlands. Zum 250. Geburtstag wurden nicht nur die Biografien von Gall und Geier, sondern auch die zahlreichen Reclam-Ausgaben und die Studienausgabe seiner Schriften prominent platziert; teilweise ergänzt um das Buch von Konrad. Und bereits im Jahr zuvor war das „Humboldt-Buch“ von Maurer erschienen. Man sieht: Ähnlich wie aktuell zahlreiche Publikationen zu seinem Bruder, Alexander von Humboldt, in den Regalen landen, war Wilhelm schon in 2017 ein heißes Thema. Die Kulturwissenschaften, die Germanistik und auch die Pädagogik haben sich bereits intensiv um ihn bemüht; Regalmeter an Literatur wurden produziert. Und trotzdem scheitert das Gedächtnis der Disziplin manchmal. Zeit genug also, eine Textsammlung vorzulegen, die sowohl ältere Ideen als auch neuere Versuche von einem Autor versammelt, der sich bereits seit geraumer Zeit aus bildungshistorischer Perspektiven mit Humboldt, Bildungsreformen und der Geschichte der Universität(en) auseinandersetzt.
Autor
Heinz-Elmar Tenorth war nach einer Professur für Wissenschaftstheorie und Methodologie der Erziehungswissenschaft von 1979–1991 an der Goethe-Universität Frankfurt a.M. von 1991 bis 2011 Professor für Historische Erziehungswissenschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Seine Arbeitsschwerpunkte – so der bescheidene Kommentar im hier vorgestellten Werk selbst – sind Theorie und Geschichte pädagogischen Wissens und die Universitätsgeschichte. Sein Oeuvre umfasst zahlreiche Publikationen zu Einzelthemen der Geschichte der Pädagogik, einführende Überblicksdarstellungen und sehr konkrete Arbeiten zu schulpädagogischen Themen. Mit dem hier besprochenen Werk liegt nun eine Sammlung zahlreicher bereits an anderer Stelle veröffentlichter Texte vor, die um bisher unveröffentlichte Texte ergänzt wurde.
Aufbau
Der Band wird mit einer Einleitung eröffnet, die anlässlich des 250. Geburtstags von Wilhelm von Humboldt im Jahr 2017 diskutiert, wieso eine erneute Auseinandersetzung mit Humboldt überhaupt von Relevanz sei. Tenorth führt hier als Argumente für die erneute Auseinandersetzung an, das ebendiese heute zum einen a) reduziert und b) wenig informiert geführt würde. Es verlange – gerade vor dem Hintergrund der immer wieder genutzten „Argumentationsfigur Humboldt“ – einer kritischen (Über)Prüfung des bekannten und teilweise unbekannten Wissens über die oftmals hagiografisch vereinnahmte Figur Humboldt. Man könnte Humboldt also nicht einfach einmotten; denn schließlich ist er als Signifikant noch immer Teil der Diskussion. Skepsis statt Verehrung, diesen Ton schlägt die Einführung an. Und dieser Ton wird die gesamte Publikation in gebotener Schärfe durchziehen.
Gegliedert ist der Band dann schließlich in drei Abteilungen:
- Die Idee der Universität und die „Humboldtsche Universität“,
- Die Universität zu Berlin – Humboldts Gründung, der Bildungspolitische Kontext und die Historische Dynamik der Universität sowie
- „Bildung durch Wissenschaft“ – Universität als Lebensform.
Die einzelnen Abteilungen werden mit jeweils drei bis fünf Artikeln bestückt, wobei der zweite Abschnitt der wohl umfangreichste ist.
Inhalt
Nun wäre es an dieser Stelle möglich, minutiös die einzelnen Argumentationsschritte aller Beiträge Tenorths nachzuvollziehen und auch die bereits veröffentlichten Beiträge einer erneuten Analyse auszusetzen. Ich möchte den Band aber gerade aufgrund seiner bisher unveröffentlichten Beiträge genauer betrachten. Hierbei geht es mir um die Texte, die bisher noch nicht veröffentlicht wurden und auch im Abschnitt zu den Drucknachweisen keinen Bezug zu anderen Argumenten ausweisen. Ziel dieser Texte muss es sein, eine kritische Perspektivierung des in der Einleitung aufgerufenen „Mythos Humboldt“ zu ermöglichen.
Diese Selektionsoperation führt dazu, dass die Texte „Idee der Universität“ – Humboldts Vermächtnis, Newmans Erbe, Kerrs Analysen und ihre aktuelle Bedeutung, „Bildung der Nation“ – Bildungspolitik zwischen Staat und Zivilgesellschaft und der Beitrag „Bildung durch Wissenschaft“. Ein Bildungskonzept und seine Geschichte hier in gebotener Kürze besprochen werden. Durch diese Auswahl werden alle drei Abschnitte des Bandes abgebildet und die Diversität und Breite der Ideen Tenorths sichtbar.
„Idee der Universität“ – Humboldts Vermächtnis, Newmans Erbe, Kerrs Analysen und ihre aktuelle Bedeutung
In diesem Text setzt Heinz-Elmar Tenorth sich mit zwei Fragen auseinander. Zum einen wirft er die Frage auf, ob es sich bei der Diskussion um „die“ Idee der Universität nicht um eine spezifisch deutsche Diskussion handelt. Zum anderen stellt er die Frage, ob eine solche Diskussion in Anbetracht ausdifferenzierter und diverser Realität(en) überhaupt sinnvoll zu bearbeiten sei. Er vergleicht zur Diskussion die Ideen Humboldts mit denen Newmans. Hierbei arbeitet er materialgesättigt – und mit zahlreichen Bezügen zu Fichte, Schelling, Luhmann, Derrida und anderen – das Spannungsverhältnis einer Idee der Universität und der Realität der Universität heraus. Gerade mit Bezug auf Derrida und die Idee der unbedingten Universität kommt in der Argumentation Tenorths eine Art des Denkens ins Spiel, die sich letztlich einer Feststellung auf einige spezifische Wesensmerkmale entzieht. Universität ist – und darauf weisen auch die Herausgeber_innen des 2010 erschienenen Readers „Was ist Universität? Texte und Positionen zu einer Idee“ hin – im Zuge von ökonomischen und sozialen Veränderungen komplexer und differenzierter zu denken. Die im Band hergestellten Bezüge zu Deleuze und auch Barthes werden im Beitrag von Tenorth nicht aufgenommen. Stattdessen bleibt dieser bei Humboldt und versucht, kritisch zu vermitteln. Die systematische Releküre der Ideen Humboldts führt hier dazu, dass sie erneut in eine aktuelle Diskussion eingeordnet werden können – nun aber mit anderen verknüpft. Fraglich bleibt bei diesem Beitrag für mich aber, ob es nicht sinnvoll gewesen wäre, Humboldt mit Derrida, Barthes und Anderen in Beziehung zu setzen, um so auf die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der (Nicht-)Diskussion um eine „Idee der Universität“ genauer zu erschließen. Freilich ist dies keine Kritik an der allgemeinen Stoßrichtung des Textes, der andere Ziele verfolgt. Dieser Aspekt der Diskussion kann aber als kritische Sensibilisierung für den von Tenorth abgebildete „State of the Art“ hinzugefügt werden.
In „Bildung der Nation“ – Bildungspolitik zwischen Staat und Zivilgesellschaft thematisiert Heinz-Elmar Tenorth das Verhältnis von Bildung und Nation – ein für die Erziehungswissenschaft weiterhin relevantes Feld (egal ob systematisch oder historisch interessiert) mit bleibender Aktualität wie die umfangreichen Fußnoten ab Seite 143 belegen. Tenorth selbst rekonstruiert hier zentrale Texte Humboldts, ordnet sie neu an und erschließt sie so für die Leser_innenschaft. Kontrastiert bzw. ergänzt wird Humboldts Werk auch mit Überlegungen des um Längen unbekannteren Eberhard von Rochow, der dennoch im Zuge der Volksaufklärung zu einiger Bekanntheit gelangte. Hier verweist Tenorth nachdrücklich auf den Kontext der Volksaufklärung. Ebenfalls sinnvoll im Zuge der Betrachtung des „Mikrokosmos Rochow“ erscheint mir auch die von Silke Siebrecht vorgelegte Arbeit zu Rochow. Die Gedanken Humboldts und Rochows werden dann zeitgeschichtlich noch genauer ausgewiesen und in eine größere Entwicklung eingeordnet – am Ende steht die erschreckende Erkenntnis einer Entkernung der zuvor historisch verankerten Ideen. Von der Nation Humboldts ist nicht mehr viel übrig; das Bildungswesen ist – noch stärker – zum Motor sozialer Selektion geworden. Der hier von Tenorth vorgebrachte Gedanke ist heute wahrscheinlich aktueller denn je. Humboldt zeigt sich hier – in Bezug auf seine Texte in Tenorths Lesart und weniger in Bezug auf seine Interpretation im Mainstream – als Kritiker der vorherrschenden Verhältnisse.
„Bildung durch Wissenschaft“. Ein Bildungskonzept und seine Geschichte ist der aus meiner Perspektive für heutige Diskussionen – insbesondere in der Hochschuldidaktik und der Fachkulturforschung – wohl anschlussfähigste Text. Er birgt enormes Potenzial für eine theoretisch anspruchsvolle und zugleich praxisorientierte Diskussion. Tenorth formuliert hier die neben dem Stichwort Autonomie relevanteste Problemformel, die im Kontext der Universität diskutiert wird. Wissenschaft und Bildung als voneinander abhängige und miteinander verschränkte Konzepte können als Regulationsinstanzen verwendet werden, um Universität auf verschiedene Arten auszurichten. Dazu ist aber ein Verständnis davon notwendig, was unter Wissenschaft genau begriffen wird; im Sinne Humboldts und nicht im Sinne der von Tenorth kritisierten Exzellenzinitiative. Tenorth arbeitet hier beeindruckend präzise und nutzt die Herkunft und Genese der Formel zur Kritik an der Aneignung durch wettbewerbsgesteuerte Akteure. Aber auch die zunächst angenommene Herkunft des Wortlauts bei Humboldt erweist sich als trügerisch. Dennoch hilft der Blick in das Werk Humboldts bei der informierten Erarbeitung der Problemformel. Universität – das findet sich dann tatsächlich bei Humboldt – ist eher ein loser Anlass für individuelle Bildung; eben auch oder gerade für die Bildung des Charakters. Aber so einfach ist es dann doch nicht. Denn die Tradition hat sich maßgeblich ausdifferenziert. Konsequenterweise macht Tenorth nun verschiedene Varianten des Programms aus und diskutiert einige der „klassischen“ Varianten (Schelling, Fichte, Schiller, Schleiermacher, Weber und auch institutionelle Selbstverständnisse) miteinander verschränkt. So ergibt sich auf wenigen Seiten ein facettenreiches Bild von Aktualisierungen der aufgerufenen Formel. Sowohl der soziale Ort der Bildung als auch die inhaltliche Bestimmung sind heute aber mindestens fraglich geworden.
- Ist nun aber das gesamte Konzept einer Bildung durch Wissenschaft überflüssig geworden?
- Ist es gar gescheitert?
- Wie geht es in einer in die Bachelor- und Masterstruktur überführten Universität weiter?
Tenorth setzt sich zu diesen Fragestellungen kenntnisreich ins Verhältnis. Er setzt an und weist darauf hin, dass Universität als spezifische Sozialform verstanden werden kann, in der Bildung durch Wissenschaft prinzipiell stattfinden kann. Angehende Expert_innen, ausgestattet mit Grundwissen über drängende Probleme können sich an der Universität heranbilden. Die konkreten Schritte zu diesem hehren Ziel skizziert Tenorth nur kurz – hier gilt es anzuschließen und abseits von Verschulung und Ästhetisierung, abseits von eingeschränkter Employability und Vorstellung eines zweckfreien Studiums neue Manöver zu entwickeln, um Universität als Sozialform zu realisieren.
Fazit
Heinz-Elmar Tenorths Aufsätze sind komplex, mäandernd, enorm kenntnisreich, informativ und anregend. Sie fordern die Leser_innen heraus, sind die Gedankengänge doch hochkomplex; oftmals verbirgt sich die Diskussion in den Verweisstrukturen der Fußnoten. Die Hürden, die während der Lektüre zu bewältigen sind, sind keine niedrigen – aber sie sind es definitiv wert, überwunden zu werden. Es handelt sich bei allen Beiträgen um weiterhin hochrelevante Fachtexte, die bereits bei ihrer ursprünglichen Publikation Geltung beanspruchen durften. Aber auch heute, versammelt in Tenorths aktuellem Band, leisten sie einen Beitrag zur nicht abbrechenden Diskussion um Wilhelm von Humboldt, Bildungspolitik und die Universität. Der Band darf dementsprechend in keiner Leseliste zu Humboldt fehlen; auf die kritische Überprüfung der Thesen Tenorths und weitere Perspektivierungen mag man dementsprechend gespannt sein – diese müssen dann auch endlich die bereits von Maurer angemahnte Auseinandersetzung mit Humboldts Überlegungen zu Sexualität und Beziehung liefern.
Rezension von
Dr. Sebastian Engelmann
Universität Tübingen, Institut für Erziehungswissenschaft, Abteilung Allgemeine Pädagogik
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Es gibt 16 Rezensionen von Sebastian Engelmann.
Zitiervorschlag
Sebastian Engelmann. Rezension vom 29.07.2019 zu:
Heinz-Elmar Tenorth: Wilhelm von Humboldt. Bildungspolitik und Universitätsreform. Verlag Ferdinand Schöningh
(Paderborn) 2018.
ISBN 978-3-506-78880-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25232.php, Datum des Zugriffs 24.03.2023.
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