Rudolf Richter: Soziologie für Dummies
Rezensiert von Arnold Schmieder, 02.08.2019

Rudolf Richter: Soziologie für Dummies.
Wiley-VCH Verlag
(Weinheim) 2019.
388 Seiten.
ISBN 978-3-527-71409-4.
19,99 EUR.
Reihe: Lernen einfach gemacht.
Thema
Das Buch bietet einen umfangreichen Einblick in die breit gefächerten Gegenstandsbereiche der Soziologie. Richter stellt relevante Theorien in ihren Kernaussagen vor und geht sehr ausführlich auf Methoden und ihre Problematik ein. Das Buch versteht sich als „Einladung zur Soziologie“, eine „angebliche Modewissenschaft“, und der Autor verspricht, dass man beides findet, „Wissen und Bildung“, und vor allem würde man „Werkzeuge und Denkweisen der Soziologie“ kennenlernen. (S. 21) Gleich eingangs tut Richter seine Auffassung kund, die er in jahrzehntelanger Arbeit als Soziologe gewonnen hat: „Soziologie bringt nichts, wenn man sie nur für die Soziologen betreibt. Sie ist für alle da.“ (S. 7; n. pag.)
Was besonderes Interesse der LeserInnen finden dürfte, wird im Klappentext hervorgehoben, „wie die Soziologie Individuen und ihre Beziehungen zueinander betrachtet, (…) wie diese Wechselwirkungen zu Gewohnheiten und Regeln, zu Systemen und Institutionen werden“, woraus zu lernen wäre, „was eine Gesellschaft ausmacht.“ Der Autor selbst avisiert vor den entsprechenden Kapiteln, „Sie lernen das Gesellschaftliche im Menschen kennen“, und er hebt dabei hervor, die Individuen seien „Träger dieser gesellschaftlichen Phänomene, die da sind: Normen, Rollen, Handeln“, wobei insbesondere soziales Handeln, „das auf andere Menschen bezogen ist, (…) immer auf Werten“ beruhe, wobei der Hinweis folgt: „Werte ohne Normen sind kraftlos.“ (S. 136 f.; n. pag.) Wenn es sich hier auch um den Kernbereich der Soziologie zu handeln scheint, lenkt der Autor doch ganz im Sinne der Reihe, in der das Buch erschienen ist, „Lernen einfach gemacht“, die gleiche Aufmerksamkeit dem gesamten Themenspektrum der Soziologie, und er gibt seiner Leserschaft mit auf den Weg: „Was ist schon normal? Hüten Sie sich davor, etwas als normal zu bezeichnen, nur weil es die Mehrheit der Gesellschaft tut. Hüten Sie sich auch davor, etwas als normal zu bezeichnen, weil es durchschnittlich der Fall ist.“ (S. 380) Vor allem soll das Buch helfen, „das alltägliche Leben besser zu verstehen.“ (S. 24)
Autor
Rudolf Richter ist Professor für Soziologie i. R. an der Universität Wien und war mehrfach Gastprofessor in den USA. Er hielt über Jahrzehnte einführende Vorlesungen in die Soziologie. Forschungsschwerpunkte waren Familiensoziologie und Lebensstile.
Aufbau und Inhalt
Die erste Seite des Buches ist eine zum Austrennen gedachte „Schummelseite“ (am Rande bemerkt, ein sehr sympathischer Auftakt). Richter konturiert ‚soziologische Perspektiven‘ und nennt an „Ordnung“, am „Handeln orientierte Sichtweisen“ sowie „Gesellschaftskritik“, also Kritik an „herrschenden Verhältnissen“, wobei er Marxismus und Kritische Theorie als „klassische“ bezeichnet. Er grenzt sie ab von neu entstandenen ‚kritischen‘ Theorien (denen er u.a. „Individualisierungstheorien“ zurechnet), die vor allem „das Auseinanderklaffen von System und Lebenswelt“ einkreisten. Nach „Zentrale Grundbegriffe“ und vor „Die Methoden“ weist er unter „Dynamik der Gesellschaft“ auf die grundlegenden treibenden Kräfte in der Gesellschaft hin, die da sind „Macht und Herrschaft, soziale Ungleichheit, sozialer Wandel.“ Das alles erfährt man gleich auf der „Schummelseite“, die einen ersten groben Überblick über das gibt, was in den folgenden Kapitel immer sehr verständlich und ausführlich behandelt wird, wobei mit unterschiedlichen Symbolen durchgehend auf Definitionen und zentrale Wissensinhalte hingewiesen wird, auf für Einsteiger in die Soziologie besonders wichtige Inhalte. Auch auf Beispiele wird mit einem Symbol hingewiesen, schließlich werden so auch Warnungen vor irrigen Meinungen angezeigt, auch um Fallstricke zu vermeiden – zum Beispiel im Hinblick auf vorschnell unterstellte Zusammenhänge, bei denen man kritisch nachfragen muss: Was „ist die Ursache, was die Wirkung?“ (So am Beispiel des Rauchens; S. 356) Schon in der Einführung stellt der Autor die von ihm behandelten Themenfelder vor und erleichtert es so den LeserInnen, sich zunächst je nach besonderem Interesse einzulesen, gleichsam zu ‚stöbern‘; Richter hält es für durchaus statthaft, Stellen zu „überspringen“. (S. 22) – Das ist kein Hinweis auf Beliebigkeit und sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Buch systematisch strukturiert ist.
„Soziologie für Dummies“ ist in sieben Teile von insgesamt dreiundzwanzig Kapiteln untergliedert.
- Zunächst wird (im Teil I) eingeführt, was eigentlich das Besondere am soziologischen Blick auf die Gesellschaft ist, woraus auch erhellt, warum sich die Soziologie an welchen Themen abarbeitet und Informationen bereitstellt.
- Da man aber von der Soziologie eigentlich nicht sprechen kann, werden im Anschluss (im Teil II) Sichtweisen vorgestellt, solche, die mehr um den Alltag und zwischenmenschliches Verhalten kreisen, andere, die Gesellschaft als Ganzes in den Blick nehmen, ihre Struktur oder etwa Gesellschaft als System.
- Danach wird (in den Teilen III und IV) unter Grundbegriffe I und II erst der „Mensch und die Gesellschaft“ und dann „Formen des Zusammenlebens“ zum einen dargestellt, wie gesellschaftliches Handeln von Individuen erklärt werden kann, zum anderen wird auf Steuerungselemente in sozialen Gruppen und Organisationen eingegangen.
- Dass der Autor danach (in Teil V) auf die Dynamik der Gesellschaft eingeht, ist insoweit nur folgerichtig, weil die Formen gesellschaftlicher Organisation und des Zusammenlebens von Ungleichheit in der Gesellschaft und dem überformt sind, was unter gesellschaftlichem Wandel abgehandelt wird.
- Methoden (um die es im Teil VI geht) ist darum Beachtung zu schenken, weil man im Alltag häufig mit empirischen Ergebnissen und deren Interpretationen konfrontiert wird, die mit einiger Überzeugungskraft daherkommen, die man glauben oder bezweifeln kann und wo man erst dann zu gesicherteren Einschätzungen gelangt, wenn man sich die Methoden vergegenwärtigt, mit deren Hilfe soziologische Erkenntnisse über Gesellschaft und ihre Entwicklungen zustande gekommen sind.
- Der „Top-Ten-Teil“ (VII) sensibilisiert gegen „vorschnelle Behauptungen“ und „vorschnelle Schlüsse“ und warnt davor, „Ergebnisse, die den eigenen Erfahrungen und Erwartungen entsprechen, sofort zu glauben“, wogegen Wissenschaftler wie Laien nicht gefeit seien. (S. 376; n. pag.) Nachdem der Autor die gängige Floskel auf den Prüfstand gestellt hat, die Gesellschaft sei an allem schuld, hebt er – im Symbol – warnend den Zeigefinger und entlässt mit dem Schlusssatz über „Möglichkeiten, die Sie persönlich wahrnehmen können oder nicht“: „Sehen Sie es so: Die Gesellschaft bietet die Möglichkeit und entlastet durch Vorgaben. Schlussendlich liegt es aber an Ihnen, wie sie mit den Strukturen umgehen.“ (S. 382) – Ein ausführliches, jedoch nicht überfrachtetes Stichwortverzeichnis komplettiert den Band.
Diskussion
Bei einer ersten Beschäftigung mit der „Soziologie für Dummies“ mag das geflügelte Wort durch den Kopf gehen „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“, wobei die- oder derjenige, die oder der schon vertrauter mit der Soziologie ist, ihrer Geschichte und ihren theoretischen Ansätzen, dann auch an die Fortsetzung dieses Goethe-Zitats aus dem ‚Faust‘ denken mag und sie oder er dann skeptisch gegenüber der Aussage in der Folgezeile wird: „Und jeder geht zufrieden aus dem Haus.“ Es gab und gibt in der Soziologie in der Spannbreite von positivistischen bis kritischen Ansätzen jeweils differenzierende und breit gefächerte Positionen, die Richter wenn auch häufig knapp, so doch in großem Umfange darstellt oder benennt. Der Raum, den er jeweils einräumt, mag auf seine Nähe zu bestimmten Ansätzen spekulieren lassen. So kann man da, wo es um Interaktionen geht, auf die Idee kommen, es fänden sich höchst ausgedünnte Spuren jener alten Beziehungslehre eines Leopold von Wiese, der Konzentration auf eine Wechselwirkung zwischen Menschen, was aber nicht explizit zur Sprache kommt, höchstens da aufscheint, wo es mit ‚Merkhinweis‘ versehen heißt: „In der Soziologie geht es um Wechselwirkungen und Strukturen zwischen Handelnden, die soziale Systeme bilden.“ (S. 35) Dort ist Marx, muss man zunächst festhalten, ist die Kritische Theorie von Horkheimer, Adorno und anderen Vertretern der Frankfurter Schule nicht zu verorten (wobei, was nicht unterschlagen werden soll, Richter die Marxsche Analyse und die Kritische Theorie in den wesentlichen Zügen darstellt und letztere von Habermas und Honneth abzugrenzen weiß).
Gerade hier, in Bezug auf diesen „fundamentalen kritischen Ansatz in der Soziologie“ (S. 113) brandet der wissenschaftliche Streit auf, wo es um Verflachungen der bei Richter so bezeichneten ‚älteren‘ durch die ‚neuere‘ kritische Theorie geht. Wesentlicher aber ist, dass es sich, wo es um „Gesellschaft als Ganzes“ geht, nicht um Soziologie in ihrem Selbstverständnis als Disziplin geht, sondern um Sozialphilosophie, die auf ökonomischer Analyse aufsattelt resp. sich damit verbindet. Von einer sich kritisch verstehende Soziologie wurde diese Sozialphilosophie aufgenommen, die damit eine Aufklärung intendierte, die vom verengenden Mainstream dieser Wissenschaft eben nur ‚oberflächlich‘ geleistet wurde und wird, womit sie selbst noch im Aufzeigen von gesellschaftlichen, zu bereinigenden Turbulenzen das bleibt, was sie ihrer Anlage nach in der erkenntnisleitenden Frage ist, wie denn gesellschaftliche Ordnung möglich ist: Ordnungswissenschaft. (Auch in Richters Worten ist damit das „Grundproblem der Soziologie gegeben: das Problem der sozialen Ordnung.“ [S. 52]) Das heißt auch, um es mit Adorno (s.u.) zu sagen, „daß die Tatsache, daß man sich mit gesellschaftlichen Fragen überhaupt befaßt, nicht automatisch (…) zu den Fragen führt, die mit der Herbeiführung einer besseren oder einer richtigen Gesellschaft überhaupt zu tun haben“. – Als Anschlussüberlegung scheint dies als Kritik an Richters Werk lässlich, weil er sich immanenter Kritik an soziologischen Theorien enthält; den LeserInnen, so sie nicht im ‚Selberdenken‘ darauf kommen, sollte es aber als anregender Fingerzeig auf den (Lese-)Weg gegeben werden.
Hier wie in Bezug auf andere theoretische, miteinander konkurrierende oder sich scharf auseinandersetzende Ansätze bezieht Richter eben keine eigene Position – wie es bei einem solchen Werk auch angezeigt sein mag. Auch seine sinnvollen ‚Warnhinweise‘ geben darüber keine Auskunft. Da es kein Buch für Fachkollegen sein soll, scheint solche ‚Zurückhaltung‘ auf den ersten Blick eher von Vorteil zu sein, zumal sich die LeserInnen nach Absicht des Autors ein eigenes Urteil bilden sollen. Insoweit darf man das Buch getrost als höchst informative Einführung in die Soziologie und zugleich als Lehrbuch mit dem Charakter eines Nachschlagewerkes bezeichnen. Andererseits ist, soweit Theoriegeschichte und Gegenstände soziologischen/sozialwissenschaftlichen Interesses dargestellt werden, an andere methodische Herangehensweisen solcher ‚Einführung‘ zu denken, insbesondere seitens kritischer Wissenschaftler (wie bspw. Adorno in seiner inzwischen publizierten Vorlesung „Einleitung in die Soziologie“), wo Theorien immanent kritisiert werden, auch um so die Fortentwicklungen (oder ‚Rückfälle‘) in der theoretischen Bestimmung des Gegenstandes ‚Gesellschaft‘ argumentativ auszuleuchten. Insofern ist zu wünschen, dass es den LeserInnen bei ihrer ‚Urteilsfindung‘ gelingt, in soziologischen Theorien und Forschungen jene „Komplizität mit der Welt“ (Adorno) hier der Soziologie dingfest zu machen, eine Mantelung in Legitimation und Affirmation gar, die zum einen dem wissenschaftlichen Fortschritt, einem Erkenntnisgewinn nicht frommt, zum anderen dadurch einen dicken ‚Fallstrick‘ (um bei Richter anzuleihen) vor eine andere als in Fortschreibung der Gegenwart zu erwartende Zukunft spannt.
Fazit
Auch für ein gut gerüstetes Weiterdenken ist „Soziologie für Dummies“ zu empfehlen, und zwar nicht nur SchülerInnen und SoziologiestudentInnen, sondern allen, die an soziologischen Fragestellungen, am Problemhorizont dieser Wissenschaft, an Forschungsergebnissen interessiert sind. Auch dank der sehr verständlichen Sprache und der klaren Darstellung auch schwierigerer Sachverhalte ist die Lektüre ebenso anregend wie ansprechend.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 02.08.2019 zu:
Rudolf Richter: Soziologie für Dummies. Wiley-VCH Verlag
(Weinheim) 2019.
ISBN 978-3-527-71409-4.
Reihe: Lernen einfach gemacht.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25235.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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