Micha Brumlik, Marina Chernivsky et al. (Hrsg.): Gegenwartsbewältigung
Rezensiert von Prof. Dr. Renate Zitt, 03.04.2019

Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro et al. (Hrsg.): Gegenwartsbewältigung.
Neofelis Verlag GmbH
(Berlin) 2019.
170 Seiten.
ISBN 978-3-95808-217-5.
Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart, 04 .
Thema
Der Band „Gegenwartsbewältigung“ ist als 4. Ausgabe der Zeitschrift „Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart“ erschienen und widmet sich „dem Verhältnis von ‚deutscher‘ Vergangenheit und jüdisch-postmigrantischer Gegenwart“ (4).
In der Einleitung „Vergegenwärtigungen“ (4 ff.) des Bandes der Heftverantwortlichen Lea Wohl von Haselberg, Marina Chernivsky und Hannah Peaceman werden folgende grundsätzliche Perspektiven aufgezeigt:
„Nachdem die Vergangenheit nun so vermeintlich erfolgreich ‚bewältigt‘ wurde, stehen wir vor der Aufgabe, mit einer Gegenwart umzugehen, in der die Erinnerung an die Shoah zwar Staatsräson ist, aber dennoch als eine selbstbestimmte immer wieder erkämpft werden muss, in der die Rufe nach einem Schlussstrich wieder lauter werden, die Erinnerung an die Shoah instrumentalisiert wird und Relativierungen an der Tagesordnung sind. Trotz oder wegen der ritualisierten Erinnerungspolitik gestaltet sich die Erinnerungspraxis in einer bemerkenswerten Distanz zu den Opfern des NS. In der Gegenwartgesellschaft gibt es immer noch Opfergruppen, die weitgehend vergessen und trotz ihrer einstigen Verfolgung systematisch diskriminiert werden.“ (4)
HerausgeberInnen
HerausgeberInnen der Zeitschrift Jalta. Positionen zur Jüdischen Gegenwart sind Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro, Lea Wohl von Haselberg.
Für das 4. Heft der Zeitschrift, den Band Gegenwartsbewältigung, zeichnen als Heftverantwortliche Lea Wohl von Haselsberg, Marina Chernivsky und Hannah Peaceman.
Der 170 Seiten umfassende Band enthält 24 Beiträge von 25 Autorinnen und Autoren.
Entstehungshintergrund
„Die emotionale Distanz der Dominanzgesellschaft zum Thema ist ein Teil dieser ‚Vergangenheitsbewältigung’ – ebenso wie die vielfache Einfühlungsverweigerung den Opfern und Angehörigen gegenüber.“ (5)
Gefragt wird deshalb im Kontext des vorliegenden Bandes: „Wie leben wir mit dieser Erinnerungskultur und wie wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein?“ (5) „Welche Widersprüche produziert der ‚deutsche Umgang‘ mit der NS-Vergangenheit? Auf welche Weise liegt in der postmigrantischen Gesellschaft eine Chance für einen Aufbruch? Was sind gemeinsame politische Ziele, die die Gegenwart bewältigbar und die politische Zukunft besser machen?“ (5)
Aufbau
Der Band umfasst insgesamt 5 Rubriken:
- (Nach) Jalta,
- Gegenwartsbewältigung,
- Juden* und …,
- Vergessen, Übersehen, Verdrängt und
- Streitbares.
Rubrik 2 bildet mit 12 Beiträgen den Schwerpunkt des Zeitschriftenbandes.
Inhalt
Rubrik 1 „(Nach) Jalta“
Christina Pareigis erinnert zum 90. Geburtstag an die Philosophin und Schriftstellerin Susanne Taube. (12 ff.)
Ruhama Weiss stellt in „Yalta: A Talmudic Novel“ (21 ff.) ihre historische Novelle über die babylonische Namensgeberin der Zeitschrift vor.
„Begegnungen mit Jalta I-VII“ (24ff) und die komplexen Reaktionen auf die Bestellung der Zeitschrift in einer Buchhandlung zeichnet Ruby Kelev nach.
Ina Rosenthal hält „Ein Plädoyer für die Sichtbarkeit! Oder der Verstecke von gestern sind die Bühnen von morgen“ (30ff). „Das Hinaustreten der Dritten und Vierten Generation der Überlebenden mit ihren Geschichten, ihren Erfahrungen und ihrem Schmerz, das Eintreten in einen Dialog mit der Vergangenheit im Hier und Jetzt sind Chancen auf tatsächliche Veränderungen in der Gegenwart.“ (34)
Rubrik 2 „Gegenwartsbewältigung“
Astrid Messerschmidt entwickelt in „Selbstbilder in der postnationalsozialistischen Gesellschaft“ (38 ff.) ausgehend von der postkolonialen Theoriediskussion das Begriffsverständnis „postnationalsozialistisch, um eine Gegenwart zu kennzeichnen, in der es zu widersprüchlichen Aneignungen der NS-Geschichte kommt“ (39).
Kübra Gümüsay schreibt persönlich und gleichzeitig strukturell über „Die Geschichten einer Familie. Heimat in Zeiten von Wandel, Umbrüchen und Migration“ (47 ff.). Sie kommt zu dem Schluss: „Wer sich auch in der Vergangenheit entdeckt, lebt nicht nur in der Hoffnung auf die Zukunft, sondern ist das bindende Element zwischen der Vergangenheit und der Zukunft. Ein bereits selbstverständlicher Teil dieser diversen Gesellschaft, die gerade erst entsteht.“ (58)
In „Danke, Moderne!“ (54 ff.) setzt sich Frederik Musall mit den Ambivalenzen und Ambiguitäten der Moderne und ihrer Dialektik auseinander. Seines Erachtens sollten wir „schleunigst den Mut aufbringen, uns gemeinsam unseren Ambivalenzen und ja, auch Ambiguitäten zu stellen, bevor das zwischen den Extremen gespannte dialektische Gummiband endgültig zu zerreißen droht.“ (59)
Tanja Thomas und Fabian Virchow zielen in ihrem Artikel „Doing Memory und rechte Gewalt. Erinnern und Vergessen als Praxis und Ausgangspunkt für postmigrantisches Zusammenleben“ (60 ff.) darauf: „Anerkennende Erinnerung ist zwar vielfach konflikthaft, sie hat jedoch zugleich das Potenzial, vielfältige Möglichkeiten des Austauschs über gleiche politische und soziale Rechte als Grundlage des Zusammenlebens in heterogenen Gesellschaften zu ermöglichen.“ (64)
Deniz Utlu fragt in „Empathische Solidarität. Gegenwartsbewältigung als Emanzipation“ (65 ff.): „Wie können Eingewanderte und ihre Nachkommen Teil einer kollektiven Erinnerungskultur sein?“ (65) und plädiert für eine „emphatische Solidarität“ (71), die das „Potenzial einer emanzipatorischen Gegenwartsbewältigung“ (72) birgt.
„’Don’t You call me…!’ Interventionen im deutschen Theater” (73 ff.) von Azadeh Sharifi bearbeitet „Interventionen in den hegemonialen Theaterraum“ (77): „Die Herausforderung neuerer Interventionen vonseiten marginalisierter Positionen besteht nun darin, aus der Marginalisierung auszubrechen und zugleich einen Gegendiskurs zu eröffnen, der die etablierten Narrative signifikant verändert.“ (77)
„Susanna Harms und Tanja Kinzel beschäftigen sich schon seit vielen Jahren mit der Tradierung von NS-Geschichte in (Mit-) Täter*innen- und Überlebenden-Familien – persönlich, wissenschaftlich und in der politischen Bildung.“ (78) Der Artikel dokumentiert einen Chat der beiden „über den Umgang mit unterschiedlichen Familienvergangenheiten“ unter der Überschrift: „Einen Schlussstrich ziehen?“ (78 ff.)
„Lalki z Majdanka. Puppen aus Majdanek“ (85ff) werden in Fotografien von Tal Schwartz von 2016 gezeigt. „16 Puppen liegen im Archiv der Gedenkstätte Majdanek. Sie wurden nach der Befreiung des ehemaligen Konzentrationslagers 1944 auf dem Gelände desselben gefunden. Über ihre Besitzer*innen wissen wir nichts.“ (85)
Micha Brumlik erzählt in der Aufzeichnung von Marina Chernivsky unter der Überschrift „Vom Zionismus zur großen Gereiztheit“ (94 ff.) aus seiner Biographie und von seinen Erfahrungen mit der Erinnerungskultur im Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis. Und er fragt nach den heutigen Aufgaben politischer Auseinandersetzung im Umgang „mit dem Rechtspopulismus und den sogenannten rechtsintellektuellen Antisemitismus“ (100).
Elke Gryglewsky stellt in „Historische Bildung zum Nationalsozialismus und der Shoa. Entwicklungslinien, Herausforderungen und Chancen“ (101 ff.) fest: „Seitens der Vermittelnden dauerte es lange, bis sich die Überzeugung durchsetzen konnte, dass eine selbstreflexive und multiperspektivische Vermittlung von Geschichte nicht nur hilfreich, sondern notwendig ist.“ (104)
Marina Chernivsky betont in ihrem Artikel „Zwischen den Generationen“ (106 ff.) die wichtige Rolle von „transgenerativen Vermittlungsprozessen“ (109). „Die heutigen Nachkommen der damaligen Tätergesellschaft kommen zwangsläufig in direkte Berührung mit Antisemitismus über das Erfahrungswissen der Generationen in Form verbaler Ausdrucksweisen, non-verbaler Kommunikation und familiär erteilten Aufträge.“ (109)
Tom David Uhlig skizziert „(Un)geliebte Erbschaften. Gedenken im Kontext transgenerationaler Verstrickung“ (112). Er konstatiert: „Um den Umgang der Deutschen mit der Geschichte ihrer Verbrechen zu verstehen, ist es unabdingbar, die transgenerationalen Gefühlserbschaften, die tradierten Ressentiments und Affektangebote, nachzuvollziehen.“ (113) Er fordert, „ein kritisches Verhältnis zur eigenen Geschichte und ihrer nachträglichen Wirkung zu entwickeln, das nicht vom identitären Motiv der ‚Wiedergutwerdung‘, sondern von Solidarität gegenüber den Verfolgten und ihren Nachkommen getragen ist.“ (118)
Rubrik 3 Juden* und …
Shlomit Tulgan erzählt in „Juden und reisende Puppen. Quer durch die Bundesrepublik“ (120 ff.) exemplarisch zwei ihrer „skurrilen“ (121) Reisebegegnungen mit ihrem Jüdischen Puppentheater Bubales und resümiert: „Ursprünglich wollte ich mit meinen Bubales-Touren Deutschland ein kleines Stückchen ‚Jiddischkeit‘ zurückgeben, was es vor über 70 Jahren verloren hat. Dafür bekam ich einen tiefen Einblick in das Land, das ich noch immer nicht meine Heimat nennen kann und will. Aber ich weiß jetzt zumindest, dass es kein langweiliges Land ist. Das ist schon einmal ein Anfang.“ (123)
Barbara Steiner erschließt in ihrem Artikel „Juden und Sex“ (124 ff.) grundlegende Informationen und kommt u.a. zu dem Schluss: „Auch wenn sich das Judentum gern als sexfreundliche Religion präsentiert: Sexuelles Glück lässt sich kaum durch Regeln erzwingen. Strömungsunabhängig wird also weiter über jüdische Sexualität verhandelt werden. Dies gilt ganz besonders für die unbequeme Frage, wie offen über sexuellen Missbrauch durch Täter*innen in den Gemeinden gesprochen werden kann. Es betrifft aber ebenso die Frage, wie jüdische Lesben und Schwule auch in traditionellen Gemeinden willkommen geheißen werden.“ (128)
Darja Klingenberg untersucht in „Juden* und Witze mit Bart“ (129ff) „den Witz als Migrationsobjekt, als umkämpftes identitäts- wie differenzstiftendes Gut der Diaspora“ (129). Sie betont: „Eine emanzipatorische Diskussion muss lernen, ernsthaft über Scherzkulturen der Migrationsgesellschaft zu streiten“ und „eine Kritik des Komischen ausgehend von den Verletzlichkeiten und den Schlagfertigkeiten sozialer Akteur*innen entwerfen.“ (138)
Rubrik 4 Vergessen, Übersehen, Verdrängt
Micha Brumlik erinnert in „Ja, ein Vorbild: Jeanette Wolff!“ (140) an ihre eindrückliche Biographie zu ihrem 130. Geburtstag als „einer mutigen Frau, die als Jüdin und Sozialdemokratin nicht bereit war, sich von Antisemiten, von Nationalsozialisten vorschreiben zu lassen, ob sie zu Deutschland gehört oder nicht.“ (140)
Asya Gefter beschreibt in „Fragments of Memory. A Multimedia Project in Response to Debora Vogel and her hometown of Lviv, a microcosm of Europe’s turbulent 20th century“ (141 ff.) eine intensive biographische und kulturelle Spurensuche.
„Von einer fast vergessenen Rettung und zwei wiedergefundenen Stühlen“ (148 ff.) berichtet Sharon Adler. Im Mittelpunkt steht dabei das 2017 erschienene Buch von Igal Avidan: „Mod Helmy. Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete“, als Beispiel dafür „dass auch Menschen anderer Nationalitäten Jüdinnen und Juden vor den Deportationen bewahrten“ (148).
Rubrik 5 Streitbares
Jonas Fregert behandelt das „Tabuthema“ (155): „’Bei und doch nicht’. Abschottung und Abhängigkeitsstrukturen als begünstigende Faktoren für sexuelle Ausbeutung und sexuellen Missbrauch in jüdischen Gemeinschaften“ (154 ff.). Er plädiert für eine Enttabuisierung des Themas und fordert u.a. die Entwicklung von Schutzkonzepten, geschützt beratenden Anlaufstellen sowie Trainings für Betreuer*innen, um „Grenzüberschreitungen zu erkennen und einzuschreiten“ (160).
Hannah Peaceman führt ein „Interview mit Michal Schwartze zum Thema Antisemitismus und Schule“ unter der Überschrift „Wir müssen das Ganze in den Blick nehmen“ (161 ff.). Michal Schwartze „ist Gymnasiallehrerin für Politik und Geschichte in Frankfurt“, in der Lehrer*innenbildung tätig, forscht über „Herrschaftsverhältnisse in der Unterrichtsvermittlung“ und „ist Expertin für (außerschulische) antisemitismus- und rassismuskritische sowie gendereflexive Bildungsarbeit“ (161). Sie plädiert für eine strukturelle Verankerung dieser Perspektiven und für „eine Sensibilität für Diversität als Merkmal einer Gesellschaft, unserer Gesellschaft“ (168).
Fazit
Der vorliegende Band „Gegenwartsbewältigung“ als Heft 4 der Zeitschrift „Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart“ entwickelt differenzierte Problemhorizonte und Perspektiven für die Fragen des Verhältnisses „von ‚deutscher‘ Vergangenheit und jüdisch-postmigrantischer Gegenwart“. (4)
Für die Beantwortung der Frageperspektiven des Bandes ist die Lektüre aller einzelnen Artikel und auch der Zeitschrift Jalta insgesamt uneingeschränkt und sehr zu empfehlen:
„Wie leben wir mit dieser Erinnerungskultur und wie wirkt die Vergangenheit in die Gegenwart hinein?“ (5) „Welche Widersprüche produziert der ‚deutsche Umgang‘ mit der NS-Vergangenheit? Auf welche Weise liegt in der postmigrantischen Gesellschaft eine Chance für einen Aufbruch? Was sind gemeinsame politische Ziele, die die Gegenwart bewältigbar und die politische Zukunft besser machen?“ (5)
Der Band bietet reichhaltige, vielstimmige, diskursive und gleichzeitig tief berührende Antworten und Anregungen zum Weiterdenken und Weiterhandeln.
Rezension von
Prof. Dr. Renate Zitt
Professorin für Religions- und Gemeindepädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt
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