Werner J. Patzelt: Deutsche und ihr demokratisches Land
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Schieren, 19.09.2019

Werner J. Patzelt: Deutsche und ihr demokratisches Land. Herausforderungen und Antworten. Ergon Verlag (Würzburg) 2018. 553 Seiten. ISBN 978-3-95650-434-1. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.
Thema
Die Texte befassen sich mit der Frage, weswegen „die schon länger im Lande Lebenden … sehr an ihrer Bundesrepublik, an ihren Politikern, an ihrem Regierungssystem, an der deutschen Politik, am Deutschsein überhaupt“ leiden. „Mängel am politischen System“, gepaart mit „Fehlern … unserer politischen Kultur“ (Seite 5) liefern eine Erklärung für die wachsende Entfremdung zwischen Regiereden und Regierten. Diese Formulierungen beschreiben das wissenschaftliche Programm Patzelts, in dem er Parlamentarismusforschung und politische Kulturforschung verschränkt.
Autor
Patzelt studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Universität Straßburg sowie der University of Michigan in Ann Arbor. und erlangte 1980 den akademischen Grad eines Magister Artium (M.A.) an der LMU München. 1984 Promotion und 1990 Habilitation an der Universität Passau bei Heinrich Oberreuter.
Nach Gastprofessuren in Salzburg und Chemnitz 1992 Gründungsprofessor des Instituts für Politikwissenschaft und seitdem Inhaber Lehrstuhls für Politische Systeme und Systemvergleich an der TU Dresden. Einen Ruf an die Universität Münster lehnte er 2000 ab. Seit März 2019 im Ruhestand.
Zahlreiche Auszeichnungen und Mitgliedschaften und Funktionen in Redaktionen wissenschaftlicher Publikationsorgane, Vereinigungen und Einrichtungen wie der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung.
Patzelt ist Mitglied der CDU.
Aufbau
Der Sammelband unterteilt seine 52 Beiträge, die Werner Patzelt in den Jahren 1998 bis 2018 verfasst hat, in drei Hauptkapitel, die wiederum in Unterkapitel gegliedert sind.
- Kapitel I „Herausforderungen Deutschlands“ hat die Unterkapitel „Bleibende und kommende politische Herausforderungen“ und „Nachwirkende Herausforderungen der nationalsozialistischen Katastrophe“.
- Kapitel II „Herausforderungen der deutschen Demokratie“ weist die Unterkapitel „Demokratie: Vorstellungen, Einstellungen, Praxen“, „Probleme des Politikhandelns“, „Einige Funktionsprobleme unserer Demokratie“ und „Einige Patholgien unserer Demokratie“ auf.
- Das III. Kapitel „Wie können wir unsere Demokratie verbessern?“ gliedert sich in „Schaffung besserer kultureller Grundlagen“, „Demokratietauglicheres Verhalten“ und „Institutionelle Demokratieformen“.
Inhalt
Der Fokus liegt auf Texten aus den letzten Jahren, teilweise redigiert bzw. im Einzelfall aus mehreren früheren Texten zusammengefügt. Wie bei solchen Bänden unvermeidlich, gibt es Redundanzen, und die Gliederung muss einige Kompromisse eingehen. So ist der Beitrag „Populismus – und wie mit ihm umzugehen ist“ dem Thema „Funktionsprobleme“ zugeordnet, der Beitrag „Wie bekämpft man Populismus richtig?“ hingegen dem Thema „Demokratietauglicheres Verhalten“, obwohl beide Texte zeitlich keine zwei Jahre auseinander liegen und ungeachtet ihrer Eigenständigkeit sich in Duktus, Aufbau und Argumentation stark ähneln.
Dennoch lohnt der Griff zu dem Buch, weil es einen nützlichen Beitrag zur aktuellen Debatte liefert. Darüber hinaus hat Patzelt einige ältere Aufsätze mit aufschlussreichen Kommentierungen aus dem Jahr 2018 versehen. Einige bisher unveröffentlichte Vortragsmanuskripte vervollständigen die Sammlung. Dabei bilden Patzelts frühe Betrachtungen zu einem diagnostizierten „latenten Verfassungskonflikt“ den Ausgangspunkt.
Welch komplizierter und durch viele Vorurteile und Missverständnisse geprägter Art die Verbindung zwischen Politik und Bürger ist, lässt sich gut an den Beiträgen aus dem Unterkapitel „Demokratie: Vorstellungen, Einstellungen, Praxen“ ablesen. Wenn Politiker unrealistische Verheißungen machen, reagieren sie auf das Bedürfnis des Wählers nach einfachen Antworten, um überhaupt eine Chance zu erhalten, gewählt zu werden. Auf der anderen Seite beurteilen Bürger das Handeln ihrer Mandatsträger oft ungerecht und vorurteilsbelastet. Es ist geprägt von falschen Vorstellungen über die Funktionslogik des parlamentarischen Regierungssystems, nicht zuletzt befördert durch einen lange Zeit verfehlten Sozialkunde- oder Politikunterricht, ein antiquiertes Staats(rechts)denken und Medien als „‘verdeckte politische Mitspieler‘“ (Seite 97). Wenn dann Politiker der Versuchung nachgeben, die (mitverschuldete) Unkenntnis des Publikums dazu zu nutzen, die Regeln des politischen Systems zu umgehen oder gar zu brechen, ist die Kommunikation zwischen den Akteuren grundlegend gestört. Doch wer „Alternativlosigkeit sät, wird Alternativen ernten“, wer „Entparlamentarisierung“ betreibt, handelt sich „Populismus“ ein, wer die „politische Korrektheit übertreibt“, wird auf „Wutbürger“ treffen.
Diese Themen werden in der Mehrzahl der Texte variiert. Gleichsam das Rückgrat bilden einige wissenschaftliche Aufsätze, die in Form und Länge die Grundgedanken ausführlicher, gleichzeitig differenzierter und entsprechend dichter belegt entfalten. Um sie herum scharen sich kürzere Beiträge für Zeitungen, für die „junge freiheit“ oder aus Patzelts Blog wpatzelt.de, sowie Transkripte einiger Vorträge, die ausdrücklich als Beitrag zur öffentlichen Debatte zu verstehen sind.
Ein nennenswerter Teil der meist kürzeren Beiträge befasst sich mit den PEGIDA oder mit der AfD. Patzelt interpretiert sie wie die „Wutbürger“ als Antwort auf eine „Repräsentationslücke“ (Seite 436), weswegen die Reaktion der Mehrheitsgesellschaft – Stigmatisierung, Dämonisierung, Ausgrenzung – kontraproduktiv wirkt. Die Aufgabe bestehe darin, die Bedürfnisse und Ängste dieser Menschen zu adressieren, und zwar nicht nur diskursiv, sondern auch institutionell, durch andere Institutionen, Verfahren und bessere Repräsentation als Schlüssel.
Um die Repräsentation von Familien zu verbessern, plädiert Patzelt für ein Elternwahlrecht, eine „Vorwahl“ für alle Kandidaturen um Parlamentsmandate könnte die Sichtbarkeit der Volksvertreter erhöhen, die Macht von Parteioligarchien begrenzen und damit die erheblichen Rekrutierungsdefizite in den Parteien korrigieren. Eine Absenkung des Wahlalters auf 16 sei weder grundsätzlich abzulehnen noch unbedingt zu fordern.
Die Einführung direktdemokratischer Verfahren hingegen sollte sorgfältig abgewogen werden. Die Vorschläge und Erwartungen der Befürworter zeugten von deren geringen Kenntnissen des parlamentarischen Regierungssystems. Therapie und Diagnose passten nicht recht zusammen. Den „realen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland“ (Seite 464) sei durch direktdemokratische Verfahren zumeist nicht beizukommen. Zu nennen seien dabei etwa der sinkende Verteilungsspielraum des Wohlfahrtsstaats in einer globalisierten Welt, die Begrenzungen durch das Mehr-Ebenen-System der EU, die „erhebliche innere Distanz eines großen Teils der deutschen Bürgerschaft zur politischen Klasse“, aus der der Überdruss an den etablierten Parteien resultiere. Außerdem habe sich in Zeiten der sozialen Medien die politische Öffentlichkeit in viele sachlich und sprachlich fragmentierte Teilöffentlichkeiten aufgelöst. Die Medien reagieren mit ihrer „Verwertungslogik“ darauf, das „Langfristige und Strukturelle“ zu Gunsten des „Außergewöhnlichen, Misslingenden und Schlechten“ zu vernachlässigen (Seite 468). Und schließlich sei es zu einer Politisierung des Verfassungsgerichtsbarkeit gekommen. Das alles heißt nicht, dass direktdemokratische Verfahren nicht eine sinnvolle Ergänzung des parlamentarischen Regierungssystems sein können, doch sollten die Erwartungen nicht dahin gehen, durch sie könnten alle Probleme mit einem Schlag gelöst werden. Außerdem sei auf die Ausgestaltung sorgfältig zu achten.
Diskussion
Patzelt geht es nicht um Schuldzuweisungen, sondern um eine nüchterne, gleichwohl engagierte Bestandsaufnahme, die Politiker und Bürger in gleicher Weise in die Verantwortung nimmt, für diese res publica Sorge zu tragen, eingeschlossen den Auftrag an beide, die Mängel des politischen Systems zu beseitigen, über das Politiker und Bürger miteinander verbunden sind. Die Politiker müssen sich der Sorgen und Bedürfnisse der Bürger besser annehmen und dürfen keine Repräsentationslücken entstehen lassen, die Bürger sind in der Pflicht, sich besser über das politische System und die Bedingungen und Grenzen von Politik zu informieren, sich also ein realistisches Bild von Politik und von Politikern zu machen.
Seine für eine breite Öffentlichkeit gedachten Beiträge, die den Aufstieg der AfD als Folge der von ihm diagnostizierten Mängel interpretieren und dafür plädieren, die vorhandene „Repräsentationslücke“ zu schließen, indem auf die Klagen dieser politischen Richtung eingegangen wird, wird von Gegnern bisweilen als Parteinahme oder Legitimation der AfD durch Patzelt gedeutet.
Fazit
Auch wenn es eine Reihe von Redundanzen gibt, lohnt der Griff zum Band. Er liefert klare Standpunkte und zeugt davon, dass die Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten bei allen Variationen ein altes Thema ist, das von beiden Seiten ernst genommen werden sollte.
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Schieren
Professur für Sozialpolitik und Verwaltungswissenschaften
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