Andrea Daase: Zweitsprachsozialisation in den Beruf
Rezensiert von Dr. Olga Frik, 27.10.2020
Andrea Daase: Zweitsprachsozialisation in den Beruf. Narrative Rekonstruktionen erwachsener Migrant*innen mit dem Ziel einer qualifizierten Arbeitsaufnahme.
Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2018.
408 Seiten.
ISBN 978-3-8309-3583-4.
39,90 EUR.
Reihe: Beiträge zur Soziokulturellen Theorie der Sprachaneignung - 1.
Thema
Andrea Daase beschäftigt sich mit der Zweitsprachenaneignung von erwachsenen Migrant*innen im Rahmen des soziokulturellen Ansatzes. Das Thema der Arbeit behandelt nicht Kenntnisse in der Zweitsprache Deutsch als Produkt und alleiniges Ziel von Lernenden, sondern als ein Mittel zur Verwirklichung ihres Ziels, eine ihren Kompetenzen und Qualifikationen entsprechende Arbeit in Deutschland zu finden Zweitsprachsozialisation in den Beruf wird als fortschreitende Partizipation an der anvisierten community of practice, also einer Kollegenschaft,einem Arbeitsteam in dem gewünschten Beruf etc., durch die Aneignung – mittels Partizipation – der für die kompetente Ausübung des Berufs notwendigen kulturellen Erzeugnisse und Praktiken in sozialer Interaktion verstanden. (S. 144)
Die vorliegende Arbeit verortet sich innerhalb der interpretativen Zweitsprachenerwerbsforschung. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit besteht darin, bewusste und unbewusste Erfahrungen und die daraus resultierenden expliziten und impliziten Wissensbestände von erwachsenen, nach Deutschland eingewanderten Menschen, die sich hier das Deutsche als Zweitsprache in unterschiedlichen Kontexten aneignen, in ihrer Prozesshaftigkeit einer Analyse zugänglich zu machen, um daraus gewonnene Erkenntnisse in die Gestaltung der Rahmenbedingungen und curriculare Konzipierung von berufsbezogenen Angeboten in Deutsch als Zweitsprache einfließen zu lassen. Der Gegenstand dieser Arbeit lässt sich somit als Sprachsozialisationserfahrungen von erwachsenen DaZ-Lernenden auf dem Weg in den Beruf fassen (vgl. S. 148).
Entstehungshintergrund
Bei dieser Veröffentlichung handelt es sich um die überarbeitete Fassung der Dissertation von Andrea Daase, die sie an der Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Fachbereich Deutsch als Fremd- & Zweitsprache der Universität eingereicht und mit dem Promotionskolloquium im Juli 2016 abgeschlossen hat.
Autorin
Prof. Dr. Andrea Daase ist Professorin für Deutsch als Zweitsprache/​Deutsch als Fremdsprache am Fachbereich Sprach- und Literaturwissenschaften an der Universität Bremen.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch greift zentrale Aspekte auf, die für eine qualifizierte Betrachtung der Zweitsprachenaneignung von erwachsenen Migrant*innen im Rahmen des soziokulturellen Ansatzes von Bedeutung sind.
Das Buch gliedert sich in die folgenden neun Teile.
In der Einleitung wird das Thema der Arbeit dargestellt und es gibt einen Überblick über den Inhalt des Buches.
Das zweite Kapitel „Sprachintegration im Kontext von Migration und Integration in den Arbeitsmarkt“ beschäftigt sich mit der Einwanderungsgeschichte Deutschlands, der Entwicklung des Begriffes Integration und seiner verschiedenen Ausprägungen, der politischen Umsetzung von Integrationsangeboten des Staates ebenso wie den Integrationsforderungen an Menschen, die nach Deutschland kommen, wozu spätestens seit der Jahrtausendwende insbesondere die Aneignung der deutschen Sprache gehört. Spezifische staatlich geförderte Angebote zur Aneignung der Zweitsprache Deutsch werden in ihrer Entwicklung dargestellt und ein besonderes Augenmerk auf das Deutschlernen für den Beruf gelegt. Die Darstellung in diesem Kapitel hat verdeutlicht, unter welchen Prämissen die deutsche Politik im Umgang mit Zu- und Eingewanderten und in diesem Zusammenhang auch die Konzeptionierung von staatlich finanzierten und kontrollierten Angeboten zur Aneignung der Zweitsprache Deutsch für Erwachsene stand und steht.
Das dritte Kapitel „Soziokulturelle Theorie der Zweitsprachenerwerbsforschung“ gibt einen Einblick in theoretische Grundlagen. Es stellt den zugrunde gelegten wissenschaftstheoretischen Rahmen der Soziokulturellen Theorie dar, welche sowohl in ihrer Entwicklung im Fach als auch in Bezug auf den Forschungsprozess dargestellt wird. Daase bezieht sich vorwiegend auf Arbeiten aus dem angloamerikanischen Raum. Sie verortet sich zunächst im Diskurs und klärt die Verwendung grundlegender Begriffe. Dann zeichnet sie die Entwicklung der einzelnen Stränge jener Ansätze, die der Soziokulturellen Theorie im weitesten Sinne zuzuordnen sind. Basierend auf diesen Ansätzen werden relevante Konzepte für die Untersuchung formuliert, welche den Analysefokus beschreiben. Die Autorin betont, dass „die Individuen, um die es in dieser Arbeit geht, werden nicht allein als Zweitsprachenlernende gesehen, sondern als erwachsene Menschen, die über reichhaltige und vielfältige historisch-biographische Erfahrungen in diversen kulturellen Kontexten verfügen und die in vielgestaltigen und nicht immer einfachen Beziehungen zu anderen Menschen und ihrer Umwelt im Allgemeinen stehen“. (S. 143). Zweitsprachenlernende werden also als dialogische, multiple und dynamische Subjektivitäten mit agency innerhalb diskursiver Ordnungen betrachtet.
Durch die ausführliche Beschäftigung mit dem theoretischen Rahmen wird ein breites Hintergrundwissen gesichert.
Im vierten Kapitel „Fragestellung und Forschungsgegenstand“ werden der Forschungsgegenstand und die Fragestellung entwickelt. Aus dem Forschungsgegenstand leitet die Autorin folgende Fragestellung ab: Wie rekonstruieren erwachsene Zweitsprachenlernende, deren Ziel die Aufnahme einer qualifizierten Arbeit ist, ihre Sprachsozialisation und deren Rahmenbedingungen? Diese lässt sich auf Basis des wissenschaftstheoretischen Rahmens mittels der folgenden Unterfragen noch weiter präzisieren:
- Welche communities of practice und welche Arten der Teilhabe waren/sind von Bedeutung?
- Welche Zugangsmöglichkeiten haben die Erzählpersonen gesehen und genutzt?
- Welche Barrieren haben sie wahrgenommen?
- Welche Situationen, Ereignisse und Umstände haben sie als Aufforderung zum Lernen oder als Blockierung ihrer Lernaktivitäten empfunden?
- Welche Änderungen in der Subjektivität lassen sich ausmachen?
- Welche unterschiedlichen Positionierungen (als Lernende) wurden ihnen im Laufe dieses Prozesses angetragen und welche haben sie eingenommen?
- Inwieweit waren Machtverhältnisse in ihrer Sprachsozialisation wirksam? (S. 148)
Forschungsgegenstand und die Fragestellung werden in seiner prozesshaften Entstehung dargestellt. Die daraus resultierenden forschungsmethodischen Entscheidungen schließen das Kapitel ab.
Das fünfte Kapitel „Forschungsmethodologische Grundlagen und forschungsmethodische Konsequenzen“ beschäftigt sich mit den forschungsmethodologischen Grundlagen und den forschungsmethodischen Konsequenzen, welche so weit wie möglich an dem eigenen Vorgehen und den eigenen Daten dargestellt werden, nicht zuletzt, um den Gütekriterien der Transparenz und intersubjektiven Nachvollziehbarkeit gerecht zu werden. Die Autorin stellt die Forschung sowie die ihr zugrunde liegende Methodik im Detail vor und klärt die kontextuellen Rahmenbedingungen der Forschungssituation.
In den narrativen Interviews wurden die Erzählpersonen gebeten, der Autorin ihre Geschichte zu erzählen. Das sechste Kapitel „Fallanalysen“ beinhaltet die Fallanalysen. Hier stellt die Autorin ihren Zugang zum Feld und zum Thema, sowie die Datenerhebung dar. Sie merkt an, dass die Unterfragen in der ursprünglichen Fragestellung im Laufe des Forschungsprozesses verändert wurden.
Das siebte Kapitel „Kontrastive Fallvergleiche“ stellt die kontrastiven Fallvergleiche dar, aus denen Elementarkategorien herausgearbeitet wurden, welche den Gegenstand der Sprachsozialisation in den Beruf in seinen verschiedenen Ausprägungen erfassen und als Grundlage für die im nächsten Kapitel dargestellten Hypothesen darstellen.
Im achten Kapitel „Theoriegenese: '… es geht um die Sicherheit'“ werden Hypothesen dargestellt, in denen zum einen deutlich wird, welche Rolle eine auf das historisch-biographische Gewordensein der Subjekte bezogene Sicherheit für den Prozess der Sprachaneignung in und für den Beruf darstellt. Zum andern stellt sich Zweitsprachsozalisation in den Beruf als ein dialogischer Prozess dar, der durch soziale Beziehungen über Tätigkeitssysteme hinweg vermittelt wird –und damit nicht allein in Berufssprachkursen vonstattengehen kann, sondern als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begriffen werden muss.
Im neunten Kapitel „Fazit und Ausblick“ fasst die Autorin die Ergebnisse mithilfe der theoretischen Grundlagen zusammen. Sie setzt sich mit einigen Punkten auseinander, die die Ergebnisse ihrer Arbeit und den Forschungsprozess grundlegend beeinflusst haben. Hier werden Anregungen zur Entwicklung einer formalen Theorie gegeben. Des Weiteren geht es hier zum einen um die Reflexion des Forschungsprozesses sowie die Diskussion der Ergebnisse in diversen Zusammenhängen. Die Autorin gibt einen Ausblick für weitere mögliche Forschungsbestrebungen.
Zielgruppen
Das Buch eignet sich für Vertreter der Bildungspolitik, Bildungswissenschaft und pädagogischer Praxis. Sie können durch das Buch interessante, wertvolle Einblicke und Erkenntnisse gewinnen. Darüber hinaus kann das Werk Fachkräften der Migrationsdienste zahlreiche Anregungen für ihre praktische Arbeit vermitteln.
Fazit
Das vorliegende Buch betrachtet Sprachsozialisationserfahrungen von erwachsenen DaZ-Lernenden auf dem Weg in den Beruf. Es greift auf Erfahrungen von Lernenden zurück. Die Studie zeigt, welche Rolle eine auf das historisch-biographische Gewordensein der Subjekte bezogene Sicherheit für den Prozess der Sprachaneignung spielt. In Deutschland ist laut der Autorin nicht viel über die Sprachsozialisation von Erwachsenen bekannt. Somit schließt diese Arbeit eine vorhandene Forschungslücke. Es hat bislang keine hinlängliche Beschäftigung mit den Sprachlern- bzw. Sprachsozialisationsprozessen aus Sicht der im Zentrum jener Prozesse stehenden Subjekte stattgefunden. Das Buch leistet einen inhaltlich interessanten Beitrag zur gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Diskussion über Sprachsozialisation von Menschen. Aus den Ergebnissen der Studie können wichtige Erkenntnisse für die Gestaltung und Konzipierung zukünftiger Angebote abgeleitet werden.
Im Gedankengang des Buchs werden breite Wissensbestände verarbeitet und diskutiert. Der Aufbau des Buches ist gut gegliedert und strukturiert, was einen angenehmen Eindruck beim Lesen vermittelt. Es ist der Autorin gelungen, das Thema der Zweitsprachenaneignung von erwachsenen Migrant*innen im Rahmen des soziokulturellen Ansatzes praxisnah und praxisrelevant darzulegen.
Rezension von
Dr. Olga Frik
Finanzuniversität, Omsk, Russische Föderation. Ehemalige Lehrbeauftragte und Gastwissenschaftlerin an der Leibniz-Universität Hannover
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Es gibt 46 Rezensionen von Olga Frik.
Zitiervorschlag
Olga Frik. Rezension vom 27.10.2020 zu:
Andrea Daase: Zweitsprachsozialisation in den Beruf. Narrative Rekonstruktionen erwachsener Migrant*innen mit dem Ziel einer qualifizierten Arbeitsaufnahme. Waxmann Verlag
(Münster, New York) 2018.
ISBN 978-3-8309-3583-4.
Reihe: Beiträge zur Soziokulturellen Theorie der Sprachaneignung - 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25257.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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