Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit
Rezensiert von Barbara Schlüter, 14.02.2006
Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft. Aufbau-Verlag (Berlin) 2005. 416 Seiten. ISBN 978-3-351-02590-8. 19,90 EUR. CH: 36,00 sFr.
Titel und Thema
"Was unser Land braucht, was alle Länder dieser Erde nötig haben, ist die politische Vereidigung der Wirtschaft auf die Bedürfnisse des Lebens" lesen wir als Fazit auf der letzten Seite des hier vorzustellenden Buchs. Mehr als sein Rätsel aufgebender Titel "Bürger, ohne Arbeit" (dazu unten mehr) verrät der Untertitel: "Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft". Nun erscheint der oben zitierte Fazit-Satz in seiner Grundsätzlichkeit vielleicht gar nicht so radikal, wie im Untertitel als Ziel formuliert, sondern eher schlicht und selbstverständlich. Über das Ausmaß an politischem Umdenken, an Reformen, ja revolutionären Veränderungen und gesellschaftlichem Umsturz, die zur Realisierung dieser "Selbstverständlichkeit" nötig sind, unterrichtet das hier vorzustellende Buch.
Autor
Wolfgang Engler, 1952 in Dresden geboren, Professor für Kultursoziologie und Ästhetik an der Ernst-Busch-Hochschule für Schauspielkunst in Berlin, veröffentlichte Studien über Lebensformen in Ost und West, kritische Analysen über die moderne Demokratie. Als Buchveröffentlichung erschien zuletzt 2000 "Die Ostdeutschen" und 2004 "Die Ostdeutschen als Avantgarde" (beide im AtV).
Wirtschaft und Gesellschaft in Zeiten der Globalisierung
Vielleicht braucht es den Blick des ostdeutschen Intellektuellen, des ehemaligen DDR-Bürgers mit dessen anderem Erfahrungshintergrund in anderen Denksystemen um die Verkrustungen und die Stagnation des ökonomischen und politischen Denkens in der vom Staat sanktionierten "Wirtschaftsgesellschaft" aufzubrechen. Jedenfalls bietet Englers monumentale Studie auch den Vorzug der Doppelperspektive des Historikers und des Soziologen, der in seiner Analyse zurückgeht bis zu den Alten Griechen und uns viele philosophische und ökonomische Bausteine liefert aus dem Denken von gestern für das Handeln von heute.
Die Diagnose
Wolfgang Englers wohlbegründete Diagnose ist, dass im Zeitalter der dritten industriellen Revolution die Arbeit sich weitgehend selbst abgeschafft hat, der Dienstleistungsbereich nicht so wie anfangs erhofft Ersatz bietet, die Zeiten von Vollbeschäftigung endgültig vorbei sind. Die neoliberalen Ökonomen und Politiker aber als "die Priester der Arbeitsreligion" suchen nach Rezepten, die sich an längst überholten Gegebenheiten orientieren, die Unternehmer begünstigen und Arbeitnehmern immer neue Kröten zu schlucken verordnen. Der Zeitgeist bindet wirtschaftliche Vernunft an die Imperative der Lohnarbeitsgesellschaft, obwohl wir alle Zeugen sind der erpresserischen Drohgebärden von Unternehmern z.B. in der Exil-Option und der Ausgliederung aus dem politischen Verband oder von Politikern, die den sozialen Abschwung in Kauf nehmen für wirtschaftlichen Aufschwung.
Engler stellt fest, dass unsere Krise nicht Rückfall in wirtschaftliche Notstände ist, sondern Resultat des Reichtums unter Bedingungen des Globalismus. Immer mehr Menschen wird der Zugang zur Erwerbsarbeit verwehrt - ihnen ein Leben in Würde zu sichern ist politische Aufgabe, denn die Konsequenzen von Arbeitslosigkeit erträglich zu machen ist bisher nicht gelungen. Sie bestehen in weit mehr als finanzieller Bedürftigkeit, nämlich in weitgehender Aussperrung aus dem gesellschaftlichen Raum, in dem einzig der arbeitende Mensch als vollwertiges soziales Wesen gilt.
Neues Konzept auf der Basis alter Ideen
So kann es nicht bleiben, wenn nicht mehr jedem ein gesichertes Leben auf der Grundlage berufsmäßigen Erwerbs ermöglicht werden kann. Engler fordert die Umgestaltung der Gesellschaft anstelle der verfehlten Politik des Weitermachens. Seine Studie rückt gerade, dass Arbeit ein veränderliches kulturelles Phänomen ist, eine kulturelle Projektion und nicht Ding an sich mit A priori-Anspruch. Engler liefert Bausteine für eine Phänomenologie der Arbeit. Gefordert sei heute der Abriss des fehlerhaft konstruierten Gebäudes und der Entwurf eines neuen - nicht mehr auf der Grundlage der Arbeit, des Arbeitenden, sondern auf der des Menschen. Kraft seines Menschseins soll Bürger mit allen Rechten zur Teilhabe ausgestattet auch der Arbeitslose sein. Engler erinnert an die längst existierende Grundidee, dass jedes Individuum ein Anrecht auf einen Anteil an den Gütern einer Gesellschaft hat. Ein Bürgergeld soll jedem als bedingungsloses Grundeinkommen die Existenz sichern. Der Verbrauch muss als ein Menschenrecht anerkannt werden. Das ist eine wirklich radikale Forderung: den das Leben sichernden Anteil am Gesamtprodukt nicht länger über den Umweg über Arbeit zu gewinnen, sondern lapidar an die Tatsache des Menschseins zu binden. Wolfgang Engler hält diesen Anspruch für so selbstverständlich, dass ihn der Weg zu seiner Realisierung nur beiläufig interessiert, das Bürgergeld sei als Sozialdividende einzuplanen, die aus von allen entrichteten indirekten Steuern gewonnen wird, z.B. als Mehrwertsteuer mit dem Vorteil, die Nachfrage zu sichern und keinen Wettbewerbsnachteil für die Volkswirtschaft mit sich zu bringen.
Bürger, ohne Arbeit
Im Altertum bei den Griechen war Bürger nur, wer nicht arbeitete - heute gehören diejenigen, die nicht arbeiten, nicht dazu, Bürger, mit allem was solchen zukommt, ist nur der "Arbeitsbesitzer". Engler fordert nach der Emanzipation des Arbeiters zum Bürger nun die Emanzipation des Bürgers von der Arbeit. So erklärt sich der Titel seines Buches und die darin dem Komma zukommende Bedeutung: Bürger, ohne Arbeit.
Kommentar
Ein großes Buch. Ein schwieriges Buch, das seine Leser dennoch streckenweise mitreißt durch die literarische Qualität erreichende Sprache, durch die leidenschaftlich vertretene Botschaft der Notwendigkeit von Umdenken und die überzeugende Einladung zur Wiederentdeckung eigener Urteilskraft und zur Teilhabe an Politik. Die Lektüre dieses Buches hatte auf mich regelrecht befreiende Wirkung - sie half mir aus der politischer Erstarrung, in die man fällt infolge der als schizoid erlebten Diskrepanz zwischen dem Zustand eines seit mehr als zwei Jahrzehnten von Massenarbeitslosigkeit gebeutelten Landes und den von Politikern und Ökonomen und Unternehmern genauso lange propagierten Heilmitteln zur Wiederherstellung gewohnter besserer Verhältnisse für alle. Zum Schluss sei ein langes Zitat erlaubt, dass ich v.a. den Kolleginnen und Kollegen aus der darin angesprochenen Zielgruppe nicht vorenthalten möchte. Es gehört in den Zusammenhang der Zustandsbeschreibung des sozialen Raubbaus in Zeiten schrumpfender Kassen:
"… Besonders empfindlich trifft es jene, die den staatlichen Rahmen unter konkreten Umständen ausgestalteten, die Sozial und Kultur'arbeiter'; sie verlieren zu Tausenden ihre Rückendeckung, ihren Auftrag, ihre Stelle. Sie sollen eine Rolle spielen, deren Text in ihren Ohren klingelt, die des staatlichen Lückenbüßers, Ersatzspielers. Der öffentlichen Bibliothek, in der du gearbeitet hast, werden die Mittel entzogen, das Projekt in der Kinder- und Jugendarbeit, das du seit Jahren betreust, wird gestrichen - führe nun ehrenamtlich weiter, was einmal deine Stelle war, eine für notwendig erachtete Funktion. Zeige, beweise, wie ernst es dir mit deinem sozialen Engagement ist, gerade jetzt, wo es allein auf dich ankommt! Begreife die fiskalische Not der öffentlichen Hände als eine Tugendprüfung und entdecke, was wirkliches Interesse war und was nur Schielen aufs Entgeld! 'Zivilgesellschaft' als zynisches Projekt kurzsichtiger Rechenkunst: Der Staat geht und ihr müsst ihn ersetzen. - Ersetzt ihn nicht! Kaschiert die Lücken und die Leere nicht! Zeigt der Staat sich nackt, dann redet nicht von Kleidern und hängt ihm keine um! Rettet euch so gut es geht und verwischt die Spuren! Und wenn eure Rettung darin besteht, aus eigenem Auftrag fortzuführen, was noch kürzlich eine anerkannte Arbeit war, dann tut es! Aber lasst euch die Lust nicht zur Pflicht vergällen! Und schöpft aus der Unlust kein schlechtes Gewissen! Bewahrt eure Fähigkeiten, knüpft soziale Netze, aber fühlt euch zu nichts gezwungen! Erwartet gelassen den Lehrmeister der neuen Tugend - den großen Krach! Wenn die nunmehr sich selbst überlassenen Sorgenkinder mit Fleischermessern durch die Schlafzimmer der Zyniker gehen, werden sie die Wahrheit wissen!…"
Haben Sie sich und ihre Lage schon einmal so gut verstanden gefühlt?
Fazit
Wolfgang Englers Buch lässt seine Leser die Tagesnachrichten anders sehen und hören, lehrt die eigenen beruflichen Erfahrungen auf dem veränderten Arbeitsmarkt neu einzuordnen und dem eigenen Denken wieder zu trauen.
Rezension von
Barbara Schlüter
Es gibt 1 Rezension von Barbara Schlüter.
Zitiervorschlag
Barbara Schlüter. Rezension vom 14.02.2006 zu:
Wolfgang Engler: Bürger, ohne Arbeit. Für eine radikale Neugestaltung der Gesellschaft. Aufbau-Verlag
(Berlin) 2005.
ISBN 978-3-351-02590-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2526.php, Datum des Zugriffs 15.01.2025.
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