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Katharina Pühl, Birgit Sauer (Hrsg.): Kapitalismus­kritische Gesellschaftsanalyse

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 29.05.2019

Cover Katharina Pühl, Birgit Sauer (Hrsg.): Kapitalismus­kritische Gesellschaftsanalyse ISBN 978-3-89691-107-0

Katharina Pühl, Birgit Sauer (Hrsg.): Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse. Queerfeministische Positionen. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2018. 289 Seiten. ISBN 978-3-89691-107-0. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

Der vorliegende Band wendet sich aktuellen feministischen – und zum Teil queeren – Diskussionen um Kapitalismus zu. Dabei werden unter anderem Fragen zu Generativität und Bevölkerungspolitiken behandelt, die Verschränkungen verschiedener Herrschaftsverhältnisse diskutiert und Verschiebungen in neuerlichen feministischen „Materialismus“-Diskussionen kritisch reflektiert.

Herausgeberinnen

Katharina Pühl ist Referentin für feministische Gesellschafts- und Kapitalismusanalyse bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Birgit Sauer ist Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien.

Beide Herausgeberinnen arbeiten schwerpunktmäßig zum Themenfeld des Bandes. Die Buchpublikation wurde durch eine Förderung der Rosa-Luxemburg-Stiftung ermöglicht.

Aufbau und Inhalt

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um einen Sammelband mit insgesamt 13 Aufsätzen, die in vier Kapitel untergliedert sind.

  • Regulierung von Sexualitäten – Bedeutung von Generativität für kapitalistische Gesellschaftsstrukturen
  • Reproduktionsverhältnisse und Bevölkerungsweisen – trans/nationale Relationen und Regulationen
  • Geschlecht, Sexualität, Herrschaft, Politik. Institutionalisierungen und Kritik
  • Materialistisch-feministische Gesellschaftstheorien – Perspektiven der Kritik

Das vollständige Inhaltsverzeichnis kann über die deutsche Nationalbibliothek abgerufen werden.

Inhaltsbeschreibung

„Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse: queer-feministische Positionen“ verhandelt Perspektiven, die Geschlechterverhältnisse und Kapitalismus kontextualisieren und nach dem aktuellen Stand der feministischen Aushandlung fragen. Dabei spielen in zahlreichen der Beiträge aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen eine Rolle: Rechtspopulistische und rechtsextreme Verschiebungen, wie sie mit dem Aufstieg der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) in Deutschland omnipräsent wurden, werden als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen und in den Beiträgen thematisiert.

Fragestellungen, die explizit queere Themen streifen, finden sich in den Aufsätzen von Gundula Ludwig und Volker Woltersdorff („Sexuelle Politiken im autoritären Neoliberalismus zwischen den Versprechen von Freiheit und Sicherheit“) und von Andrea Maihofer („Pluralisierung familialer Lebensformen – Zerfall der Gesellschaft oder neoliberal passgerecht?“). Ludwig und Woltersdorff fokussieren auf eine staatstheoretische Perspektive und stellen in der aktuellen neoliberalen gesellschaftlichen Entwicklung Züge eines autoritären Hegemonieprojekts und eines libertären Hegemonieprojekts fest. Bei ersterem seien staatlich-kapitalistische Anforderungen – auch direkt in Form von zunehmenden Restriktionen – zentral, während die „libertäre“ Ausformung des Neoliberalismus weiterhin Freiheitsversprechen an die Individuen sende. Maihofer geht hingegen der Historie der Familie in der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach, um davon ausgehend aktuelle Pluralisierungen in den Blick zu nehmen und dabei auch aktuelle rechte Angriffe zu thematisieren.

Ein Schwerpunkt des Bandes, der zu den Benennungen der Kapitel quer liegt, ist die Frage der Generativität – ein klassisches feministisches Thema. Es wird in den Aufsätzen von Silvia Kontos („Generieren. Zum Zusammenhang von Kapitalismus, Geschlecht und Generativitätsverhältnissen“) und Susanne Schultz („Nation, Kinderwunsch, Humanvermögen – Familienpolitik als Demografiepolitik“) vorgestellt und im Beitrag von Christa Wichterich („Zur transnationalen Rekonfiguration von [Re-]Produktion durch Leihmutterschaft“) mit einer aktuellen internationalen Komponente versehen. Die ersten beiden Aufsätze wenden sich dabei der aktuellen deutschen demografischen Erzählung zu, nach der „zu wenige“ oder die „falschen“ Kinder geboren würden, und setzen sich also mit der aktuellen deutschen Bevölkerungspolitik und ihren Anreizen für einkommensstarke Familien, Kinder zu bekommen, auseinander. Wichterich setzt ein Thema hinzu, das heute gesellschaftlich insbesondere im Hinblick auf schwule Elternschaft diskutiert wird – und betrachtet dabei auch die Verflechtungen von globalem Norden und globalem Süden. Damit wirft sie auch Fragen danach auf, wer denn über welche Körper verfügt und wie die ökonomischen Grundlagen dafür aussehen. Weitere Beiträge – die von Brigitte Bargetz und von Birgit Sauer – schließen an diesen auf Fortpflanzung fokussierten Schwerpunkt an und thematisieren Fragen nach „reproduktive[r] Heteronormativität und nationale[r] Souveränität“ (Bargetz) sowie aktuelle rechtspopulistische und rechtsextreme Entwicklungen und die Argumentationen ihrer Protagonist*innen (Sauer). Einen weiter gefassten Ansatz, der weniger Fortpflanzung und Bevölkerungspolitiken zentral setzt, sondern die aktuellen feministischen Debatten um Reproduktionsarbeit / Sorgearbeit / Care-Work fokussiert, ist von Julia Dück („Krise der sozialen Reproduktion – nicht mehr als eine Anpassungskrise?“). Im Beitrag stellt Dück die feministischen Diskussionen um Reproduktionsarbeit historisch und aktuell vor und geht damit – den dominanten feministischen Aushandlungen folgend – wieder hinter die internationale Reflexionsebene zurück.

Weitere Beiträge zielen auf die Verbindung von „materialistischer“ und „feministischer“ Gesellschaftstheorie. Von ihnen sollen hier noch zwei besonders eindrückliche vorgestellt werden. So wendet sich Alex Demirović in dem den Band beschließenden Aufsatz Fragen nach der Verschränkung von verschiedenen Herrschaftsverhältnissen zu. Er geht der Trias aus Klasse, „Rasse“ und Geschlecht nach und plädiert schließlich dafür, die Lohnarbeit als bestimmend für die Organisation der kapitalistischen Gesellschaft wahrzunehmen und die Herrschaftspraktiken auf ihrer Grundlage zu betrachten. Susanne Lettow fokussiert in dem vorangehenden Beitrag „Materialismus“ und „Materie“, wie sie historisch und aktuell gesellschaftskritische Theoriebildung präg(t)en. Sie schlägt vor, dass „Materie“ – im Sinn eines Historischen Materialismus – als „Praxis, Tätigkeit, Produktion und Lebensbedingungen“ (S. 249) bestimmt und prozesshaft gedacht werden sollte. 

Diskussion und Fazit

Der Band „Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse: queer-feministische Positionen“ ist ein Beitrag in der aktuellen feministischen Positionsbestimmung. Er ist dabei angenehm unaufgeregt und trägt einige zentrale Expertisen zusammen, die neben einer konsistenten Darstellung relevanter Positionen auch neue Einsichten eröffnen. Die Ankündigung des Sammelbandes im Untertitel als „queer-feministisch“ ist etwas irreführend, da kaum Beiträge enthalten sind, die auf explizit queere und queer-feministische Fragestellungen fokussieren und auf den entsprechenden aktivistischen und wissenschaftlichen Theoriestand nur bruchstückhaft Bezug genommen wird. Dafür kann gerade der Aufsatz von Susanne Lettow zur Klärung der Begriffe „Materie“ und „Materialismus“ in aktuellen aktivistischen und theoretischen feministischen Aushandlungen beitragen. Die entsprechenden Veröffentlichungen der vergangenen Jahre fallen vielfach auf einen Materie-Begriff simpler Stofflichkeit zurück, sodass dort Materie als ontologisch vorgängig und abstrakt gedacht wird – anstatt sie im Anschluss etwa an Karl Marx, Hannah Arendt, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Judith Butler etc. als konkret, mit dem Tun der Menschen verbunden und prozesshaft zu verstehen und „Menschheitsgeschichte“ nicht als Gegensatz von „Naturgeschichte“ zu denken. Der vorliegende Band eröffnet insgesamt einige beachtenswerte Perspektiven.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
Website
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 29.05.2019 zu: Katharina Pühl, Birgit Sauer (Hrsg.): Kapitalismuskritische Gesellschaftsanalyse. Queerfeministische Positionen. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2018. ISBN 978-3-89691-107-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25279.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.


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