Heribert Prantl: Vom kleinen und großen Widerstand
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.06.2019

Heribert Prantl: Vom kleinen und großen Widerstand. Gedanken zu Zeit und Unzeit. Süddeutsche Zeitung Edition (München) 2018. 361 Seiten. ISBN 978-3-86497-487-8. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Ein Aufruf gegen die Gleichgültigkeit
„Unzeit“ – das ist eine Bezeichnung für Kakophonie! Eine Benennung für Gegebenheiten, Situationen, Ereignissen und Entwicklungen, die den menschlichen Verstand widersprechen – und sich doch vollziehen; von Menschen, Mächten, Ideologien und Alltäglichkeiten. Die den „Rechtschaffenden“ zum Kopfschütteln und zur Verzweiflung bringen können, ihn auf die Palme oder in die Ecke treiben. Es sind traditionalistische Einstellungen wie: „Als Einzelner kann ich ja sowieso nichts dagegen machen!“, oder: „Das haben wir noch nie so gemacht!“, „Das haben wir schon immer so gemacht!“, und: „Da könnt‘ ja jeder kommen!“. Es ist das Problem, dass sich im menschlichen, individuellen und kollektiven Dasein schon immer stellt mit der Diskrepanz: „Anpassung und Widerstand!“; gleichzeitig aber wird deutlich, dass die beiden Entscheidungen niemals ein „Entweder – Oder“, sondern ein „Sowohl-als-auch!“ bedeuten. Es ist der Mut und das Dilemma zu entscheiden, etwas zu tun oder zu unterlassen (Dieter Birnbacher, Tun und Unterlassen, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/18946.php). Es stellt sich mit der Frage: „Was tue ich hier eigentlich?“ (Nicolas Dierks, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17465.php). Und es zeigt sich in der resignativen wie gleichzeitig herausfordernden Feststellung: „Widerstand ist zwecklos. Aber sinnvoll“ (Helmut Ortner, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/16349.php).
Dabei kommt zum Vorschein, dass Kritik, Widerstand, Selbst denken, Entscheiden… Eigenschaften sind, die weder vom Himmel fallen, oder in den Genen liegen, sondern nicht selten mühsam, anstrengend, erfahrend und widerständig erworben werden müssen. Widersprüche zeigen sich oftmals beim gesellschaftlichen und politischen Zusammenleben der Menschen. Sie sollen nicht mit Macht, Gewalt oder List, sondern mit Ehrlichkeit, Überzeugungskraft und Menschlichkeit ausgetragen werden (vgl. z.B. dazu: Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php). Was dabei herauskommen muss ist die „Wahrheit und nichts als die Wahrheit“.
Autor
Das langjährige Mitglied der Chefredaktion der „Süddeutschen Zeitung“, der gelernte Richter, Staatsanwalt und Wissenschaftler Heribert Prantl ist bekannt als jemand, dem es um die Wahrheit geht. In Artikeln, Vorträgen und Büchern meldet er sich zu Wort, wenn Ideologen und Populisten mit Fake News die Wahrheit verdrehen (z.B.: Was ein Einzelner vermag. Politische Zeitgeschichten, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/22422.php; und: Die Kraft der Hoffnung. Denkanstöße in schwierigen Zeiten, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/24119.php; soeben auch beim 100. Niedersachsentag des Niedersächsischen Heimatbundes in Hildesheim mit dem Festvortrag: „Heimat ist Vielfalt“).
2019 legt er das Buch „Vom großen und kleinen Widerstand“ vor. Mit zahlreichen geschichtlichen und aktuellen Beispielen argumentiert er gegen die zunehmende (politische und gesellschaftliche) Gleichgültigkeit, Trägheit, Apathie, Resignation und Feigheit von Menschen und warnt vor Ego-, Ethnozentrismus, Nationalismus, Rassismus und Populismus. Er versteht die Berichte und Schilderungen über Widerstand als „Laudatio auf Widerständler und Whistleblower, (als) Lobpreis für die Unangepassten, auf die Demokraten des Alltags (und) auf die Verteidiger der Grundrechte“.
Aufbau und Inhalt
Prantl gliedert das Buch in zwei Kapitel.
- Im ersten stellt er mit „Stehen und Widerstehen“ die Haltungen vor, die in einem anderen Zusammenhang als „aufrechter Gang“ (Kurt Bayertz / Oskar Negt) bezeichnet werden.
- Das zweite Kapitel titelt er „Zeit und Unzeit“. Es sind bekannte, vielfach dokumentierte und analysierte historische Ereignisse und in die heutige Zeit hineinwirkende Entwicklungen die, zusammengebracht unter der Herausforderung zum Widerstand, neue, aktuelle Notwendigkeiten verdeutlichen:
- Vom heiligen Umsturz.
- Fritz Gerlich – ein journalistischer Märtyrer.
- Die Weiße Rose.
- Widerstand gegen den Zeitgeist.
- Der Schoß, fruchtbar noch?
- Vom Judas in uns allen.
- 1968.
- Wie 1968 der Aufruhr in die Provinz kam.
- Whistleblower.
- Der Widerstand – heimatlos in Deutschland?
- Fragen, klagen, bitten, beten.
- 27. Januar: Holocaust-Gedenktag – Das Vermächtnis des Fritz Bauer.
- 8. März: Internationaler Frauentag – Frauenquoten.
- 2. April: Tag des Kinderbuchs – Hänsel und Gretel heute.
- 4. April: Erzähl-eine-Lüge-Tag – Trug und Trump.
- 8. April: Internationaler Tag der Roma – Europas vergessenes Volk.
- 1. Mai: Tag der Arbeit – Solidarität, was ist das?
- 9. Mai: Europa-Tag – Europa oder der Untergang.
- 15. Mai: Welttag der Informationsgesellschaft – Die digitale Inquisition hat begonnen.
- 23. Mai: Tag des Grundgesetzes – Die Kirschen der Freiheit.
- 20. Juni: Weltflüchtlingstag – Diese verdammten Zahlen.
- 17. Juli: Internationaler Tag der Gerechtigkeit – Irrung, Wirrung, Wahrheit.
- 6. August: Frauen-Gleichstellungstag – Aufbruch in eine neue Zeit.
- 1. Sonntag im September: Tag der Heimat – Das deutscheste aller deutschen Wörter.
- 2. Sonntag im September: Tag des Denkmals – Oh Schilda, mein Vaterland.
- 11. September: Gedenktag zu Ehren der Opfer von Terroranschlägen – Wie aus dem Verfolger ein Opfer wurde.
- 15. September: Internationaler Tag der Demokratie – Das Duell der Demokratie.
- 21. September: Weltfriedenstag – Entspannungspolitik ist nie zu Ende.
- 1. Sonntag im Oktober: Erntedank – Fällt in diesem Jahr aus.
- 3. Oktober: Tag de4 Deutschen Einheit – Vom letzten Tag der DDR.
- 10. Oktober: Tag der Obdachlosen – Die Welt wird obdachlos.
- 24. Oktober: Tag der Bibliotheken – Widerstand gegen das Vergessen.
- 6. November: Tag der Gefangenen – Häftling Nr. 103.
- 11. November: Sankt-Martins-Tag – Rabimmel, Rabammel.
- 20. November: Tag der Kinderrechte – Wie man ein Kind lieben soll.
- November, elf Tage vor dem 1. Advent: Buß- und Bettag – Feiertage als Erinnerungs- und Widerstandstage.
- 10. Dezember: Tag der Menschenrechte – Mahnung und Auftrag.
- 18. Dezember: Internationaler Tag der Migranten – Wie viele Flüchtlinge haben wir schon aufgenommen?
- 28. Dezember: Tag der unschuldigen Kinder – Im Gefängnis.
- Jeder Sonntag: Ein Widerstandstag.
Fazit
Es ist kein Kalendarium; auch keine Auflistung von Ereignissen. Vielmehr drückt der Autor mit den Datierungen und Erinnerungen mit eigenen Worten und der ihm eigenen Art aus, wie Mut und Aufforderung zum Widerstand angeregt werden kann. Dabei entstehen faszinierende Bilder, die „dem Widerstand Gesichter geben“, die „Befreiung von Zwängen“ bewirken, die Aufmerksamkeiten schaffen, „wo die Gefahren lauern“, die „Haltestellen im Alltag“ anbieten, die „Verfassung, Vernunft und Moral“ zusammenbringen, die auf „die Verfallszeiten der Lüge“ aufmerksam machen… Es sind Ordnungsweiser und Mutmacher zum humanen Denken und Handeln. Es ist ein Prantl-Buch!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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