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Nadja Thoma: Sprachbiographien in der Migrations-gesellschaft

Rezensiert von Simone Plöger, 22.01.2019

Cover Nadja Thoma: Sprachbiographien in der Migrations-gesellschaft ISBN 978-3-8394-4301-9

Nadja Thoma: Sprachbiographien in der Migrationsgesellschaft. Eine rekonstruktive Studie zu Bildungsverläufen von Germanistikstudent*innen. transcript (Bielefeld) 2018. 402 Seiten. ISBN 978-3-8394-4301-9.
Reihe: Kultur und soziale Praxis.

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Thema

Ausgangspunkt der Dissertation bilden aktuelle Fachdiskussionen zu sprachlicher Heterogenität und der Bedeutung von Deutsch als Mehrheits- und Bildungssprache an deutschen Bildungsinstitutionen in der Migrationsgesellschaft. In ihrer Studie untersucht Nadja Thoma die Sprachbiographien von GermanistikstudentInnen in Österreich mit eigener oder familialer Migrationsbiographie. Dabei geht sie dem Forschungsinteresse nach, die Bedeutung von Sprache in biographischen Erzählungen mittels zu rekonstruieren. GermanistikstudentInnen mit Migrationsgeschichte sind im Germanistikstudium auf eine „doppelte Weise nicht-dominant positioniert“ (S. 14). Neben ihrer Rolle als „migrantisch positionierte Germanistik-Student*innen“ wird ihnen zudem die Rolle als „migrantisch positionierte zukünftige Deutschlehrer*innen und/oder Expert*innen für Deutsch“ (ebd.) zugeschrieben in einem Feld, in dem Deutsch nicht nur Bildungssprache, sondern Gegenstand der fachlichen Auseinandersetzung ist.

Autorin

Nachdem Dr. Nadja Thoma in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn zunächst am Institut für pädagogische Professionalisierung der Universität Graz und am Institut für Deutsch als Fremdsprache der LMU München tätig war, arbeitet sie nun als Universtitätsassistentin am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte gelten der Bildung und sprachlichen Heterogenität im Kontext von Migration und sozialer Ungleichheit.

Aufbau und Inhalt

Die Monographie ist in vier Teile und zehn Kapitel gegliedert.

Im ersten Teil führt Frau Thoma in den Kontext der sprachbiographischen Forschung ein, wobei sie sowohl linguistische und als auch sozialwissenschaftliche Ansätze der Biographieforschung betrachtet. Aus den vorgestellten Studien leitet sie das Desiderat einer Studie ab, die „Bildungswege und damit verbundene sprachbezogene Erfahrungen“ (S. 36, H.i.O.) von GermanistikstudentInnen untersucht.

Im zweiten Teil der Dissertation wird in den theoretischen und methodologischen Rahmen eingeführt. Eine sozialwissenschaftlich orientierte Auseinandersetzung mit Biographie sowie ein machtkritischer Blick auf sprachliche Heterogenität bilden die zwei zentralen theoretischen Perspektiven. Beide Perspektiven werden in der Forschung Thomas zusammengeführt, um die Sprachbiographien vor Hintergrund des „biographischen Eigensinn[s] der Subjekte“ sowie „gesellschaftliche[r] Makrostrukturen zu rekonstruieren“ (S. 68). Methodologisch verortet die Autorin ihre Studie in der interpretativen Sozialforschung, deren Entwicklung sie zunächst vorstellt, um dann Grundannahmen und Konsequenzen in Bezug auf die dargestellten theoretischen Perspektiven zu skizzieren: Die Autorin stellt unter kritischer Reflexion in Bezug auf den Forschungskontext (Sprache und Migration) die Methode des biographisch-narrativen Interviews als Erhebungsinstrument dar. Abschließend wird der Forschungsprozess dokumentiert, indem die Auswahl der GermanistikstudentInnen sowie die Erhebung, Transkription und Analyse der Interviews genau beschrieben werden.

Den umfangreichsten Teil der Dissertation mit knapp 220 Seiten stellt der dritte Teil, der sich den Falldarstellungen widmet, dar. Anstelle einer Präsentation der einzelnen Fälle in ihrer Ganzheit erfolgt eine Darstellung „allgemeine[r] Phänomene und Zusammenhänge über die Gesamtheit des erhobenen Korpus hinweg“ (S. 103), die in drei biographische Phasen unterteilt wird:

  1. Kindliche Lebenswelt und Sprache: Die Analyse der Interviews zeigt, dass in allen Erzählungen familiale Erfahrungen und Haltungen in Bezug auf Sprache thematisiert werden, ebenso wie die sprachlichen Repertoires der Familien als Rahmen ihrer eigenen Sprachaneignung. Für beides sind neben individuellen auch „kollektive Erfahrungen bestimmter Gruppen in unterschiedlichen nationalstaatlichen und regionalen Kontexten relevant“ (S. 129). Für den Beginn der eigenen Sprachaneignung konnte durch die Analyse eine „Figur des nicht-Erinnerns“ (S. 176) rekonstruiert werden. Zudem wird deutlich, dass das erlebte erzieherische Handeln von „Sprachge- und -verboten“ (ebd.) mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilhabe geprägt war.
  2. Sprache in der biographischen Phase der Schulzeit: Es zeigt sich, dass die Interviewten die Bedeutung der dominanten Sprache Deutsch für schulische Übergänge als ein relevantes Thema setzen, insbesondere am Übergang auf das Gymnasium. Die hohen Bildungsaspirationen und Leistungsanforderungen der Eltern zeigen sich in einem hohen Bewusstsein für die Bedeutung von Deutsch als Bildungssprache. Auch nach den Übergängen bleibt Sprache ein „Gradmesser für schulischen Erfolg und soziale Anerkennung“ (S. 235). „Sprache als relationale soziale Kategorie“ (S. 236) führt somit einerseits zu Positionierungen, birgt aber auch die Möglichkeit von Bildungsaufstiegen, wodurch sich die Interviewten als „aktive Gestalter*innen bildungsinstitutioneller Entscheidungen“ (S. 239) positionieren.
  3. Sprache während und nach der biographischen Phase des Studiums: Während des Studiums stellt Sprache sowohl für den alltäglichen als auch den universitären Bereich eine zentrale Differenzierungslinie dar. Es zeigt sich, dass die Fragen nach Anerkennung und damit auch nach „Legitimität als Student*in der National- und Mehrheitssprache“ (S. 319) zentral mit dem Beherrschen der deutschen Sprache verwoben ist. Zu den „sprachbezogenen Hierarchisierungsprozessen“ (ebd.), die allen Interviewten bewusst sind, positionieren sie sich unterschiedlich. Einfluss auf die Positionierungen finden einerseits sprachbiographische Erfahrungen und andererseits sprachwissenschaftliches Wissen. Neben der Differenzierungslinie Sprache sind auch außersprachliche Merkmale wie Gender, Religion oder natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit Aspekte, die sich auf Anerkennung oder aber Exklusion auswirken können. Dies setzen sie sowohl im Rahmen ihres Studiums als auch für den Kontext beruflicher Erfahrungen und Pläne relevant.

Im vierten Teil erfolgt eine theoretische Reflexion der Studie. Zunächst wird theoretisch-methodologisch die Rekonstruktion von Sprachbiographien als zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzung und als Zugang zu sprachlichen Bildungsprozessen reflektiert. Anschließend werden die transnationale und transgenerationale Dimension der Sprachbiographien hervorgehoben, da die Sprachbiographien der Teilnehmenden nur vor Hintergrund des transnationalen Raumes sowie familialer (retrospektiver) Erfahrungen und (zukünftiger) Planungen zu verstehen sind. Abschließend hebt die Reflexion „die akademische Auseinandersetzung mit unterschiedlichen theoretischen Bezügen“ (S. 345) durch das Studium hervor, wodurch sich dieses „als laufende Bearbeitung sozialräumlicher Positionierung verstehen“ (ebd.) lässt.

Diskussion

Die Monographie besticht nicht nur durch den äußerst gehaltvollen empirischen Teil, sondern auch durch die präzise Abhandlung theoretischer und methodologischer Prämissen. Durch eine außerordentlich gute Struktur und den klaren Aufbau der Dissertation sind die Kapitel stets nachvollziehbar. Die im Vergleich zum empirischen Teil der Arbeit relativ kurzen Teile zum Forschungskontext und dem theoretischen und methodologischen Rahmen verlieren dennoch nicht an Tiefgang – im Gegenteil, die Teile zeugen von einer differenzierten Auseinandersetzung mit dem Themenbereich und einer präzisen Auswahl und Darstellung. Die Studie Thomas wird somit gewinnbringend eingebettet und anschließende Bezüge werden durch Verweise nachvollziehbar gemacht. Der empirische Teil zeugt von einer hohen intersubjektiven Nachvollziehbarkeit. Durch die Analysen werden dem aktuellen Forschungsdiskurs weiterführende Perspektiven zugetragen.

Fazit

Die Monographie bietet wertvolle Erkenntnisse an der Schnittstelle von sprachlicher Heterogenität, Migrationsgesellschaft und Bildung. Dieser Erkenntnisgewinn ist sowohl in der biographischen als auch der soziolinguistischen Forschung von zentralem Interesse. Durch die außerordentlich gute thematische und methodische Einbettung richtet sich die Dissertation nicht nur an FachexpertInnen, sondern bietet wichtige und fruchtbare Impulse für Studierende, Dozierende und Praktizierende unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Fachrichtungen im Kontext von Sprache und Migration.

Rezension von
Simone Plöger
wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Interkulturellen und International Vergleichenden Erziehungswissenschaft an der Universität Hamburg
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Es gibt 1 Rezension von Simone Plöger.

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Zitiervorschlag
Simone Plöger. Rezension vom 22.01.2019 zu: Nadja Thoma: Sprachbiographien in der Migrationsgesellschaft. Eine rekonstruktive Studie zu Bildungsverläufen von Germanistikstudent*innen. transcript (Bielefeld) 2018. ISBN 978-3-8394-4301-9. Reihe: Kultur und soziale Praxis. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25286.php, Datum des Zugriffs 14.12.2024.


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