Karl-Friedrich Wessel, Werner Krause (Hrsg.): Zur Methodologie und Geschichte der Psychologie
Rezensiert von Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, 21.01.2019

Karl-Friedrich Wessel, Werner Krause (Hrsg.): Zur Methodologie und Geschichte der Psychologie. Lothar Sprung zum Gedenken.
Logos Verlag
(Berlin) 2018.
134 Seiten.
ISBN 978-3-8325-4785-1.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Reihe: Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie & Humanontogenetik - Band 37.
Thema
Dieser schmale Band ist dem Andenken an Lothar Sprung (1934-2017) gewidmet, der vor allem an der Humboldt-Universität gelehrt hat. Lothar Sprung war schon zurzeit der DDR einer der wenigen international bekannten deutschen Psychologen, die im Bereich der Geschichte der Psychologie führend tätig waren. Sprung hat ein umfangreiches wissenschaftliches Werk von ca. 150 Veröffentlichungen hinterlassen, das zu einem großen Teil gemeinsam mit seiner Frau Helga Sprung entstanden ist.
Das Buch hat praktisch drei Abschnitte. Im ersten erinnern sich Lehrer, Kollegen und Schüler an Lothar Sprung, an sein Werk und dessen Wirkung. Im kürzeren mittleren Teil des Buches finden sich Abdrucke von drei bislang nicht leicht zugänglichen Arbeiten von Lothar und Helga Sprung; der letzte Teil enthält biographische Daten und die Schriftenverzeichnisse von Lothar und Helga Sprung.
Der Band wendet sich an Personen, die sich mit der Geschichte der Psychologie, mit der Methodenlehre der Psychologie und mit Fragen der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie befassen. Natürlich sind auch alle Personen gemeint, die Lothar Sprung gekannt haben oder seine Arbeiten kennen. Schließlich trägt der Band auch dazu bei, die Arbeitsbedingungen von Wissenschaftlern in der DDR besser zu verstehen.
Herausgeber und Entstehungshintergrund
Karl-Friedrich Wessel und Werner Krause kannten Lothar Sprung gut. Wessel ist der Herausgeber der Berliner Studien zur Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik, in dessen Reihe dieser Band als Nr. 37 erschienen ist. Das Buch ist im Nachgang zu einem Ehrenkolloquium entstanden, zu dem sich Freunde, Schüler und Kollegen im Mai 2017 zusammengefunden haben, nachdem Lothar Sprung nach langer Krankheit verstorben war.
Aufbau
- Vorwort
- Lothar Sprung – Ein Leben für die Wissenschaft
Karl-Friedrich Wessel - Lothar Sprung – Ein Leben für die Wissenschaft und ein wunderbarer Freund
Werner Krause - Meine Erinnerungen an Lothar Sprung
Erdmute Sommerfeld - Lothar Sprung – Freund, Weggenosse, Lehrer – Ein Blick von den gemeinsamen Anfängen her
Hans-Georg Geißler - Lothar Sprung als Psychologiehistoriker
Georg Eckardt - Methodik der Psychologie – auf der Fährte, auf den Spuren, in der Spur -Zur Erinnerung an Lothar Sprung
Wilfried Gundlach - Angewandte Psychologie – Spurensuche in Lehre und Diagnostik Erinnerungen an meinen Lehrer Prof. Dr. Lothar Sprung
Annette Erb - Ein Plädoyer für die Psychologiegeschichte
Martin Müller - Einheit in der Vielfalt – Zur Entwicklung der Psychologie im Spannungsfeld zwischen Natur- und Geisteswissenschaften
Helga und Lothar Sprung - Psychologie, Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik – Impressionen über einen kasuistischen Annäherungsprozess (1991)
Lothar Sprung - Methodologie und Methodik interdisziplinärer Längsschnittstudien in der Humanontogenese (1991)
Lothar und Helga Sprung - Tabellarischer Lebenslauf von Lothar Sprung
(zusammengestellt von Helga Sprung) - Verzeichnis der Publikationen von Lothar Sprung
(zusammengestellt von Helga Sprung) - Verzeichnis der Publikationen von Helga Sprung
(zusammengestellt von Helga Sprung) - Autorenverzeichnis
Inhalt
Folgt man der Dreiteilung des Buches, dann ist mit der Biographie und Würdigung zu beginnen.
Lothar Sprung sei kaum etwas erspart geblieben (Hans-Georg Geißler, S. 25). Tatsächlich erlebte er schon als Kind die Wirren und Härten des Krieges, verlor seinen Vater und wurde noch im Kindesalter in Prag rekrutiert. Er absolvierte dann in der Nachkriegszeit in Berlin eine Bau- und Tischlerlehre, holte in der Abendschule das Abitur nach und studierte an der Humboldt-Universität zunächst 1957–1958 Biologie und Chemie, dann 1958–1961 in Berlin und Jena Psychologie. Zu seinen Lehrern zählte er u.a. Kurt Gottschaldt (1902–1991), der die Humboldt-Universität überraschend verließ, um 1962 in den Westen zu gehen und einen Ruf an die Universität Göttingen anzunehmen. Nach dem Diplom in Berlin (1962) promovierte Sprung 1970 zum Dr. rer. nat. mit einer Arbeit zur Denkpsychologie. Zu dieser Zeit war er Assistent, wurde 1970 Hochschuldozent und war zeitweise Stellvertretender Direktor der Sektion Psychologie. 1990 wurde Sprung Ordentlicher Professor, 1992 trat er in den Ruhestand ein, forschte jedoch weiter. So wurde er im Jahr 2000 Mitglied der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften zu Berlin e.V. Auch entstanden noch Aufsätze und zwei Bücher.
Die Beiträge der acht Autorinnen und Autoren aus der Umgebung von Lothar und Helga Sprung heben seine Art zu lehren hervor und sie erinnern an seine Grundeinstellung. So heißt es, Lothar Sprung sei „nie einem Mainstream nachgelaufen“ (Werner Krause, S. 17). Herausgestellt werden die wichtigen Bücher, die oft aus Vorlesungen von Lothar Sprung hervorgegangen sind:
„Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie“ von Lothar und Helga Sprung (1984), ein Buch, dem „der Rang eines Standardwerkes zukommt“ (Georg Eckardt, S. 32)
Für Lothar Sprung war Berlin die Heimatstadt, in deren Geschichte er sich gut auskannte. Es lag daher nahe, dass er sich der Psychologiegeschichte mit Bezug zu Berlin gewidmet hat: Gemeinsam mit Wolfgang Schönpflug gab er 1992 „Zur Geschichte der Psychologie in Berlin“ heraus. Die erweitere Neuauflage erschien 2003 mit 20 Beiträgen. Schon zu seinem 60. Geburtstag gab es zu Ehren von Lothar Sprung ein Themenheft, das besonders der Geschichte der Berliner Psychologie gewidmet war (Brauns & Bringmann 1994).
Das letzte größere Werk von Lothar und Helga Sprung war ein Buch über die Geschichte der Psychologie und ihrer Methoden (2010). Werner Krause schrieb, er wolle „dieses Buch als Krönung“ des „Lebenswerkes“ von Lothar und Helga Sprung bezeichnen (S. 20). Tatsächlich wird in diesem Buch die Arbeitsweise des Forscherehepaares besonders deutlich: Lothar und Helga Sprung stellen die Geschichte der Psychologie seit der Antike bis zur Gegenwart dar und beschreiben die in einzelnen Epochen oder Phasen vorherrschenden Forschungsmethoden. Diese Abfolge versuchen sie zu systematisieren (z.B. Transferstadium, Dissensstadium usw.) Diese Einteilung der Psychologie in Epochen und Phasen bezüglich der Methoden hat Lothar Sprung schrittweise entwickelt und mehrfach modifiziert (Martin Müller, S. 57 ff.). Immer war es sein Bestreben, hier wie auch in anderen Bereichen der Psychologie eine umfassende und gültige Systematisierung zu erarbeiten.
Dieses Bemühen ist auch in den drei kürzeren, bislang in dieser Form noch nicht veröffentlichten bzw. schwer zugänglichen Arbeiten von Sprung und Sprung zu erkennen. In der ersten dieser Arbeiten von 2012 geht es um die theoretischen Ansätze in der Psychologie und deren historische Entwicklung, ebenso um die Entwicklung der Forschungsmethoden, aber besonders um die Wechselbeziehung von Theorien und Methoden in der historischen Entwicklung. In der kurzen, zweiten Arbeit von 1991 beschreibt Sprung seine persönlichen Beziehungen zu einem Kreis von Philosophen in Berlin. In der dritten Arbeit von Helga und Lothar Sprung, ebenfalls von 1991, geht es um die Systematik von Längsschnittstudien. Ein Ergebnis ist, dass zunächst an Längsschnittstudien die gleichen Anforderungen wie an Querschnittstudien zu stellen sind. Die zwei Besonderheiten allerdings sind die lange zeitliche Erstreckung und das Problem der Veränderung, d.h. die mögliche Beeinträchtigung des untersuchten Validitätsbereichs der Messungen in Längsschnittuntersuchungen.
Die biographischen Angaben und die Schriftenverzeichnisse von Lothar Sprung und von Helga Sprung sind detailliert und enthalten auch Vorträge. Mehrere Teile des Buches, so auch diese, sind mit Bildern angereichert.
Diskussion
Der Band lebt nicht so sehr durch Verzeichnisse und Abdrucke der kürzeren Arbeiten von Lothar Sprung, sondern stärker durch die verschiedenen persönlichen Berichte über die Zusammenarbeit mit ihm. Da ist oft auch etwas zwischen den Zeilen zu lesen. Für Außenstehende wie den Rezensenten entsteht der Eindruck, dass es hier eine interdisziplinäre Schicksalsgemeinschaft der Wissenschaftler an der Humboldt-Universität gab. Diese Gemeinschaft trat für bestimmte Forschungsziele ein, teils aber war sie auch solidarisch bezüglich bestimmter offizieller Vorgaben. So findet man in den interessanten Erinnerungen auch Andeutungen. Zum besseren Verständnis können andere Quellen weiterhelfen (Sprung, 1992, Lander, 1994, Staeuble, 1994). Ein für Lothar Sprung besonders schmerzhaftes Thema war die Verdächtigung, er sei Stasispitzel (IM des Ministeriums für Staatssicherheit) gewesen; er wurde deswegen entlassen und nicht wieder eingestellt, obwohl diese Fehlentscheidung bald erkannt war (Annette Erb, S. 44). Auch eine Entschuldigung der Hochschulleitung blieb aus. Lothar Sprung hat in dieser Zeit gelitten, er ist jedoch nicht zerbrochen. Offenbar gab es in seinem Umfeld Menschen, die – wie Georg Eckardt – von seiner Haltung überzeugt waren: „Auf Persönlichkeitsmerkmale befragt, die mich an Lothar Sprung besonders beeindruckten, würde ich sagen: seine Aufrichtigkeit“ (Eckardt, S. 33).
Ein ganz anderer Diskussionspunkt ist die Frage, warum die Autorenschaft des Buches im Wesentlichen auf Personen der Humboldt-Universität und der Universität Jena beschränkt ist und keine Autoren außerhalb der beiden Hochschulen, an denen Lothar Sprung gewirkt hat, zur Schrift beigetragen haben. Sehr leicht hätten sich Kolleginnen und Kollegen von weiteren Universitäten aus Spanien, Italien, den USA und anderen Ländern, natürlich auch aus Deutschland, finden lassen, die mit Sprung vor und nach der Wende zusammengearbeitet haben. Doch wäre es dann ein ganz anderes Buch geworden. Der Band hat dagegen in der Art, wie er entstanden ist, den besonderen Vorzug, dass nur Personen aus der direkten Umgebung von Helga und Lothar Sprung beteiligt wurden. Diese Menschen haben das Forscherehepaar teils über Jahrzehnte begleitet und ihre Erfahrungen aus verschiedenen Perspektiven beschrieben. So sind auch die Bedingungen, unter denen Lothar Sprung arbeiten musste, hier und da anschaulich geworden.
Das Buch ist somit ein interessantes Dokument zur Biographie eines Wissenschaftlers, der unter schwierigen politischen Bedingungen erfolgreich gearbeitet hat, und dies sogar in Bereichen, die nicht zum damaligen Mainstream der Psychologie gehörten und in der DDR nicht zu den besonders erwünschten Forschungsgebieten zählten.
Fazit
Mit dem schmalen Band werden die Biographie und das Lebenswerk des 2017 verstorbenen Berliner Psychologen Lothar Sprung (geb. 1934) durch acht Zeitzeugen dargestellt. Diese Kolleginnen und Kollegen würdigen Sprungs wissenschaftliche Leistungen und seine Persönlichkeit. Sprung war in seinem größten Forschungsgebiet, der Geschichte der Psychologie und der Methodenlehre, führend. Der Band wird durch den Abdruck von drei schwerer zugänglichen Arbeiten von Lothar und Helga Sprung, durch biographische Angaben und Schriftenverzeichnisse abgerundet. Das Buch gibt so einen guten Einblick in die Biographie, die Arbeiten und die Lebensleistung von Lothar Sprung. Da ein überwiegender Teil der Publikationen dem Geist und Fleiß des Forscherehepaares Lothar Sprung und Helga Sprung entsprungen ist, sind die Leistungen von Lothar Sprung von denen seiner Frau Helga Sprung nicht wirklich zu trennen. Dies macht den vorliegenden Band zu einer Festschrift für Beide.
Literatur
Brauns, H.-P. & Bringmann, W. G. (Ed.). (1994). Methodologie und Methodik. Psychologiegeschichte in Berlin. Wissenschaftstransfer zwischen verschiedenen Gemeinschaften. Psychologie und Geschichte, 6 (3/4).
Lander, H.-J. (1994). Lothar Sprung zum 60. Geburtstag. Ansprache an den Jubilar. Psychologie und Geschichte, 6 (3/4), 347–352.
Sprung, L. (1992). Lothar Sprung. Psychologe. In G. Herzberg & K. Meier (Hrsg.). Karrieremuster. Wissenschaftlerporträts (S. 108-141). Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag.
Sprung, L. & Schönpflug, W. (Hrsg.) (1992). Zur Geschichte der Psychologie in Berlin. Frankfurt am Main: Lang. (Erweiterte Neuauflage 2003).
Sprung, L. & Sprung, H. (1984). Grundlagen der Methodologie und Methodik der Psychologie. Eine Einführung in die Forschungs- und Diagnosemethodik für empirisch arbeitende Humanwissenschaftler. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften (2. Aufl. 1987).
Sprung, L. & Sprung, H. (2010). Eine kurze Geschichte der Psychologie und ihrer Methoden. München: Profil.
Staeuble, I. (1994). „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal in der Bundesrepublik landen würde.“ Lothar Sprung zum 60. Geburtstag. Geschichte der Psychologie, 11(2), 2–4.
Rezension von
Prof. em. Dr. Helmut E. Lück
FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie
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