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Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.06.2019

Cover Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit ISBN 978-3-7017-3446-7

Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Residenz Verlag (St. Pölten) 2018. ISBN 978-3-7017-3446-7. D: 18,00 EUR, A: 18,00 EUR.
Reihe: Unruhe bewahren - 16.

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Manifestation des Unverfügbaren

Ich will alles, sofort, umsonst und ohne Anstrengung! Und: Ich bin erreichbar, immer! Diese in den Zeiten des Momentanismus entstandenen, sich potenzierenden Einstellungen rufen nach Gegenbewegungen. Im antiken philosophischen Denken hat „stasis“, Ruhe, im Gegensatz zu „kinêsis“, Bewegung, eine besondere Bedeutung; etwa, wenn Platon feststellt, dass „stasis für das Seiende als größte Gattung ist“ (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, 2005, S. 536). „In der Ruhe liegt die Kraft!“ – mit diesem vermutlich aus dem fernöstlichen philosophischen Denken übernommenem Sprichwort wird daran erinnert, dass hektisches, momentanes und unbedachtes Tun den Menschen zu Irrwegen und Gefahren führt. Es kommt vielmehr darauf an, „Gelassenheit“ zu entdecken und zu leben (Thomas Strässle, Gelassenheit. Über eine andere Haltung zur Welt, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/14938.php). Das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB), das Institut für angewandte Sozialwissenschaft (infas) und die Wochenzeitung DIE ZEIT führen seit 2015 Untersuchungen darüber durch, wie die Deutschen als Volk, als Land, als Demokratie und Gemeinschaft ticken. Die repräsentative Studie „Das Vermächtnis“ ermittelt Auffassungen und Einstellungen der in Deutschland lebenden Menschen zu Fragen nach Arbeit, Wohnen, Liebe, Gesundheit, Kommunikation und Besitz. Die Ergebnisse stellen sich gewissermaßen als Seismograf der individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungen dar und geben Antworten, die nicht selten überraschend und unerwartet wirken; etwa die Feststellung, dass trotz der Unkenrufe über Unsicherheit, „Ausverkauf“, „German Angst“ und Demokratieverlust, die Mehrheit der Deutschen eine positive, unverkrampfte, offene und empathische Einstellung zur Heimat haben; aber auch, dass es an Vertrauen untereinander mangelt: „Die Deutschen glauben an sich. Aber nicht mehr an ihre Institutionen“ (vgl.: Rudi Novotny, „Die sonderbare Gelassenheit der Deutschen“ und: Jutta Allmendinger, „Eine Art Lügendetektor“, in: DIE ZEIT, Nr. 20 vom 9. 5. 2019, S. 69 und 70).

Entstehungshintergrund und Autor

Gelassenheit, Bedenklichkeit, Für- und Vorsorge, Moralität, Nachhaltigkeit, Verantwortlichkeit, Aufmerksamkeit, Zufriedenheit, Empathie…, diese sozialen und anthropologischen Eigenschaften sind Richtwerte, die ein humanes, individuelles und kollektives Leben bestimmen (sollten). Dort wo Hektik, Überforderung, Ausbeutung und kapitalistisches Denken und Tun vorherrschen – und eine Änderung angestrebt wird – kommt es darauf an, einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Da kann es sein, dass wirkende, scheinbar negative Eigenschaften sich zu positiven, weiterführenden Lebensperspektiven entwickeln. So kann sich „Unruhe (als) ein Daseinsgefühl, eine Welt voller Phantasien, voller Verheißungen und Pläne(n)“ identifizieren (vgl. dazu z.B.: Ralf Konersmann, Die Unruhe der Welt, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19459.php ).

Der Philosoph von der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und Direktor des Max-Weber-Kollegs in Erfurt, Hartmut Rosa, stellt in seiner Gesellschaftsanalyse fest: „Dem Fortschritt der Moderne wohnt eine Verschleißunruhe inne, während die Vergangenheit zunehmend entwertet und die Zukunft ihrer Substanz beraubt wird“. Sein philosophisches, soziologisches und gesellschaftspolitisches Konzept: „Unruhe bewahren“. Er setzt sich damit auseinander, dass sich „das Leben vollzieht als Wechselspiel zwischen dem, was uns verfügbar ist, und dem, was uns unverfügbar bleibt, uns aber dennoch ‚etwas angeht‘; es ereignet sich gleichsam an der Grenzlinie“. Das Prinzip „Anachronie“ bedeutet, dass eine Analyse über eine gesellschaftliche Entwicklung als Rück- oder Vorausschau angegangen werden kann, als Alternative zum „business as usual“ und zur Chuzpe von allseitiger und allzeitiger „Verfügbarkeit von Welt“. Weil der Mensch ein weltliches, mundanes Lebewesen ist (vgl. dazu auch: Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Modern, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php), kommt es darauf an herauszufinden, wo im individuellen und kollektiven Dasein die Grenzlinie zwischen Verfügbarem und Unverfügbarem, zwischen Erfahren und Erleben verläuft.

Im Band „Unverfügbarkeit“ werden die Vorträge von Helmut Rosa bei der Frühlings- und Herbstvorlesung der Akademie Graz in Kooperation mit dem Literaturhaus Graz und der Österreichischen Tageszeitung DIE PRESSE abgedruckt.

Aufbau und Inhalt

Den Aufruf an die spätmodernen lokalen und globalen Gegenwartsgesellschaften gliedert Rosa, neben der Einleitung und dem Schlusswort, in neun Kapitel:

  • Im ersten wird „die Welt als Aggressionspunkt“ identifiziert;
  • im zweiten diskutiert er „vier Dimensionen der Verfügbarkeit“;
  • im dritten thematisiert er „die paradoxe Kehrseite: Das rätselhafte Zurückweichen der Welt“;
  • im vierten kommt er zur „Welt als Resonanzpunkt“;
  • im fünften formuliert er „fünf Thesen zur Verfügbarkeit der Dinge und zur Verfügbarkeit der Erfahrung“;
  • im sechsten fragt er: „Verfügbarmachen oder Geschehen lassen?“;
  • im siebten stellt er fest: „Verfügbarmachung als institutionelle Notwendigkeit“;
  • im achten setzt er sich auseinander mit der „Verfügbarkeit des Begehrens und das Begehren des Unverfügbaren“; und
  • im neunten Kapitel setzt er den Kontrapunkt auf die „Rückkehr des Unverfügbaren als Monster“.

Mit der „Soziologie der Weltbeziehung“ will Rosa den Resonanzboden bereiten, wie die Beziehung der Menschen zur Um-, Mit- und Allwelt in der Moderne bereitet werden kann. Es ist weder das Paradies, noch die Hölle, sondern die reale Herausforderung für ein gutes Leben alles Daseienden auf der Erde. Das Verfügbare stellt sich dabei in vier Dimensionen dar: Sichtbar machen – Erreichbar machen – Beherrschbar machen – Nutzbar machen. Machen aber, das unterliegt bei der Betrachtung des klassischen Weltanschauungsdiskurses ganz verschiedenen Fallstricken: als Entfremdung statt Anverwandlung im Marxschen Sinn, als Verdinglichung statt Verlebendigung bei Adorno und Lucács, als Weltverlust statt Weltgewinn in der Arendtschen Auffassung, als Unlesbarkeit statt Verstehbarkeit der Welt nach Blumenberg; und als Entzauberung statt Beseelung, wie sie Max Weber formuliert hat.

So wird „Resonanz“ als intellektuelles Verstehen und emotionales Berühren von Welt: „Resonanzbeziehungen sind … dadurch gekennzeichnet, dass sich mit und in ihnen Subjekt und begegnende Welt verändern“; bezeichnenderweise jedoch mit dem Grundwiderspruch, dass sich „die transformativen Effekte einer Resonanzbeziehung ( ) stets und unvermeidlich der Kontrolle und Planung der Subjekte (entziehen), sie lassen sich weder berechnen noch beherrschen“. Hier nähern wir uns den Bedingungen, Voraussetzungen und Möglichkeiten, wie sie sich beim „Kreativitätspotential“ (Andreas Reckwitz) und beim Vorurteilskomplex (Anton Pelinka) darstellen: Resonanz impliziert eine zweiseitige Bewegung: „Es genügt nicht, dass ich auf die Welt zugreife, sondern Resonanz setzt voraus, dass ich mich anrufen lasse, dass ich affiziert werde, dass mich etwas von außen erreicht“. Das ist die erste These zur Verfügbarkeit der Dinge und zur Unverfügbarkeit der Erfahrung. Die zweite macht deutlich, dass die Erkenntnis der Unverfügbarkeit nicht zufällig und auch nicht nebenbei entsteht, sondern „Resonanz stellt sich nur zu einem Gegenüber ein, das gleichsam ‚mit eigener Stimme spricht‘, das so etwas wie einen eigenen Willen oder einen Charakter, zumindest eine innere Logik hat“. Eine Resonanzdynamik erfordert drittens ein Echo oder einen realen oder irrealen Dialog. „Resonanz erfordert den Verzicht auf die Kontrolle des Gegenübers und des Prozesses der Begegnung, zugleich aber auch (das Vertrauen in) die Fähigkeit, die andere Seite erreichen und responsiven Kontakt herstellen zu können“, das ist der vierte Punkt; und fünftens ist hilfreich zu verstehen und anzunehmen, „dass Resonanz stets auch einen Geschenkcharakter trägt“.

Die theoretischen Herleitungen des Grundkonfliktes zwischen Verfügbaren und Unverfügbaren werden ergänzt und konkretisiert durch alltags- und lebenspraktische Beispiele:

  • Geburt,
  • Erziehung und Bildung,
  • Lebenslauf und Lebensplanung in Beziehung und Beruf,
  • Digitalisierung des Weltverhältnisses,
  • Alter und Pflege,
  • Tod.

Es sind die Fragen nach Gewissheiten, Beherrschbarkeiten, Machbarkeiten, das Im-Griff-haben, Haben- und Seinsmodi, die uns in der Illusion wähnen, die Welt zu kennen und zu können. Zu erkennen (und zu akzeptieren), dass es zwischen dem fundamentalen menschlichen Beziehungsbegehrens und dem Objektbegehren einen Unterschied gibt: Eine komplett verfügbar gemachte Welt wäre nicht nur reizlos, sie wäre auch resonanzlos“.

Fazit

Die philosophischen, soziologischen und gesellschaftspolitischen Gedankengänge von Hartmut Rosa zu den Diskrepanzen des Verfügbaren und Unverfügbaren der Selbst- und Welterkenntnis führen durch schlingernde Pfade, werden zu Stopp- und Einbahnstraßen, aber auch zu Richtungsweisern für gegenwärtiges und zukünftiges Dasein. Es sind die Unsicherheiten und Analyse-Unbestimmtheiten, die vermuten lassen, „dass es keine festen Verbindungen zwischen Ursachen und Wirkungen gibt“, dass „die Verfügbarmachung der Welt ( ) am Ende zu einer radikalen Unverfügbarkeit zu führen (droht)“ und zu einer individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Entfremdung und Unverbindlichkeit wird. Rationalität und Emotion sind wichtige Parameter für die Erkenntnis, dass humane Lebendigkeit und Menschlichkeit aus der Akzeptanz des Unverfügbaren entstehen können (vgl. z.B. auch: Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23478.php). Die Studie endet mit einem Zwiespalt: Auf der einen Seite sind es die Hoffnungen und forcierten Erwartungen, dass die Menschheit den rettenden Resonanzboden von Rationalität, Emotionalität und Humanität findet; und andererseits die Drohkulisse, dass die Menschheit verstummt und untergeht. Wir haben die Wahl!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1685 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 05.06.2019 zu: Hartmut Rosa: Unverfügbarkeit. Residenz Verlag (St. Pölten) 2018. ISBN 978-3-7017-3446-7. Reihe: Unruhe bewahren - 16. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25302.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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