Ulrich M. Gassner, Julia von Hayek et al. (Hrsg.): Geschlecht und Gesundheit
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 26.03.2019
Ulrich M. Gassner, Julia von Hayek, Alexandra Manzei, Florian Steger (Hrsg.): Geschlecht und Gesundheit.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2018.
344 Seiten.
ISBN 978-3-8487-5192-1.
44,00 EUR.
Reihe: Gesundheitsforschung - interdisziplinäre Perspektiven - Band 1.
Thema
Die Erkenntnisse über die Bedeutung des Geschlechts für Erkrankungen, medizinische Diagnosen und Behandlungen aber auch in den wissenschaftlichen Konzepten der Gesundheitsforschung stehen im Mittelpunkt dieses Bandes. Er bietet Anregungen zur Diskussion von Themen, die im anwendungsorientierten Alltag der Geschlechtergesundheitsforschung- und Medizin bislang wenig Raum gefunden haben.
Herausgeber*innen
Die vier Herausgeber*innen sind:
- Prof. Dr. iur. Ulrich M. Gassner, Mag.rer. publ. (Oxon), Professur für öffentliches Recht und Mitglied im Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG), Universität Augsburg,
- Dr. Julia von Hayek, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG), Universität Augsburg,
- Prof. Dr. iur. Alexandra Manzei, Professur für Soziologie mit Schwerpunkt Gesundheitssoziologie, Mitglied im Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG), Universität Augsburg, und
- Prof. Dr. Florian Steger, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie Ethik der Medizin, Universität Ulm, Vorsitzender der Ethikkommission
Aufbau und Inhalt
Die Buchreihe „Gesundheitsforschung. Interdisziplinäre Perspektiven (G.IP)“ soll in jährlichen Bänden aktuelle und gesundheitspolitisch wichtige Themen aufgreifen und aus einer interdisziplinären Perspektive behandeln. Dieser erste Band beschäftigt sich mit der Frage, welche Bedeutung das Geschlecht in der Gesundheitsforschung hat und welche Erkenntnisse dazu vorliegen. Die neun Beiträge sind in vier Abschnitten gegliedert. Der erste Abschnitt fragt nach Geschlechterkonstruktionen aus der Perspektive der Wissenschaftsforschung, der zweite nach dem Theorie-Praxis Verhältnis in der Geschlechtergesundheitsforschung. Der dritte Abschnitt behandelt normative Perspektiven auf den geschlechtsspezifischen Versorgungsbedarf und im letzten Abschnitt geht es um Gesundheitskommunikation in den Medien und in der Medizin.
Die Soziologin Alexandra Manzei beschäftigt sich mit der Geschichte des Feminismus und der Geschlechterforschung und fragt, welche Ansätze sich für die Gesundheitsforschung nutzbringend anwenden lassen. Sie analysiert zunächst einen grundlegenden Konflikt zwischen identitätspolitischem Feminismus und einem radikal identitätskritischen Postfeminismus. (De)konstruktivistischen Positionen weist sie die Funktion zu, daran zu erinnern, mit welchen normativen Erwartungen die Vorstellungen der „Natürlichkeit“ von Zweigeschlechtlichkeit verbunden sein können. Diese Reflexion könnte in der biomedizinischen Forschung von Nutzen sein. Eine völlige Leugnung der Möglichkeit, eine kollektive Bestimmung des Geschlechts zu geben, erübrige nach ihrer Meinung nach aber jede wissenschaftliche Arbeit in der Geschlechtergesundheitsforschung, denn Geschlecht gehe in der Sprache nicht auf sondern ist immer an den Körper gebunden. Die Biologin Ruth Müller zeigt in einem historischen Rückblick, wie sich die Geschlechtervorstellungen in der Biologie und Biomedizin verändert haben. Diese Veränderungen gingen mit einer immer stärker werdenden Biologisierung geschlechtlicher und sozialer Differenzen einher. Sie zeigt auf, dass und wie gesellschaftliche Normen der jeweiligen Epoche und die in dieser Epoche genutzten wissenschaftlichen Kategorien sich gegenseitig beeinflussen. Für die heutige Bestimmung der Kategorie Geschlecht in der Biologie und Biomedizin sei es unerlässlich, eine Offenheit dafür zu entwickeln, dass es nicht um idealisierte Körper geht sondern um Körper in einer sozialen und materiellen Umwelt, die nicht nur durch Geschlecht sondern auch „Rasse“, Ethnie und Klasse geprägte Erfahrungen gemacht haben.
Die Soziologin und Geschlechterforscherin Ulrike Maschewsky-Schneider gibt eine Einführung und einen breiten Überblick über die Public Health-Forschung (die Wissenschaft und Praxis der Gesundheit der Menschen in sozialen Einheiten), und der Berücksichtigung von Geschlecht in dieser Wissenschaft. Sie plädiert nach dieser Rückschau für eine sozialökologische Theorie der Gesundheit. Darin könnte das Konzept des „embodiment“, das die körperliche Aneignung sozialer Erfahrungen erfasst, eine Brücke zwischen Biomedizin und Sozialwissenschaften bauen. Die Männergesundheit steht im Focus des Beitrags des Psychologen Toni Faltermaier. In seinem Überblick über die Ergebnisse bisheriger Forschungen sieht er es als erwiesen an, dass die soziale Konstruktion des männlichen Geschlechts einen bedeutenden Einfluss auf die Gesundheit von Männern hat und er zeigt die Implikationen, die dieser Befund für die Praxis der Gesundheitsversorgung haben könnte. Den besonderen Bedürfnissen und Bedarfen von transgeschlechtlichen Personen widmen sich Andreas Köhler, Jana Eyssel, Peer Briken und Timo O. Nieder. Aus medizinischer, psychologischer und psychotherapeutischer Perspektive forschen und praktizieren sie im Interdisciplinary Transgender Health Center Hamburg (ITHCCH). Sie kritisieren die herrschenden diagnostischen Kriterien für transgeschlechtliche Personen als zu eng und zu vorurteilsträchtig, hinterfragen die im Regelfall vorgesehene Anzahl und Reihenfolge somatischer Behandlungen und plädieren für eine individualisierte Versorgungspraxis. Ihre eigenen Befragungen weisen darauf hin, dass soziale und kommunikative Aspekte im Behandlungsprozess besonders wichtig sind. Als Ziel jeder Behandlung sehen sie eine langfristige Erhöhung der Lebensqualität. Ein dogmatischer Behandlungsansatz könne das nicht erreichen.
Ulrich M. Gassner und Florian Steger gehen auf juristische und ethische Aspekte einer geschlechtergerechten Medizin ein. Sie entwickeln zunächst einen normativen Rahmen für Geschlechtergerechtigkeit, in dem die Ansprüche einer solidarisch finanzierten Gesundheitsversorgung mit dem individuellen Recht auf Selbstbestimmung in Einklang gebracht werden müssen. An drei Beispielen, der religiös begründeten Beschneidung minderjähriger Jungen, den Bedürfnissen nach Transition bei transgeschlechtlichen Personen- und der geschlechtlichen Selbstbestimmung bei intersexuellen Kindern diskutieren sie die Konsequenzen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass die Beschneidung weder ethisch noch verfassungsgemäß zu rechtfertigen sei und für die Transsexualität ein eigenständiger Leistungstatbestand in der Krankenversicherung einzuräumen sei. Sie erörtern weiterhin, dass die neuere bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung darüber hinaus alle gesundheitsrechtlichen Bestimmungen, die auf einem binären Geschlechterverständnis beruhen, infrage stellen. Helen Kohlen, Soziologin und Ethikerin, diskutiert geschlechtergerechte Sorgearbeit im Horizont der Care-Ethik. Dazu zeichnet sie die Entwicklung der Sorgearbeitsdebatte in Deutschland nach und beschreibt Ansätze einer Care-Ethik, wie sie international in politischen Zusammenhängen diskutiert werden. Sie kritisiert die gängige Trennung von Gesundheits- und Sozialpolitik, die, betrachtet man die konkreten Versorgungszusammenhänge z.B. in der Pflege, nicht haltbar scheinen. Mit den Konzepten der Care-und Sorgearbeit ließe sich diese Trennung überwinden. Nach einer Diskussion gängiger Lösungsmodelle für die Care-Krise (mehr Institutionen; Delegation an Migrant_innen; Caring Communities) plädiert sie für einen Vorschlag von Jutta Allmendinger, die Lohnarbeitszeit auf 32 Stunden zu verkürzen, damit Männer wie Frauen die Sorgearbeit leisten können.
Aus der Perspektive der Kommunikationswissenschaft analysieren Susanne Kinnebrock und Anna Wagner in einer Literaturschau den Gebrauch der Kategorie Geschlecht und zwar in der Medieninhaltsforschung, in der Mediennutzungsforschung und in der Wirkungsforschung. Sie finden dabei einerseits eine durchaus divergente Konzeption und Operationalisierung von Geschlechterbildern, aber auch eine unreflektierte wenig kritische Vermittlung stereotyper heteronormativer Bilder. Da es sich bei der Kommunikationswissenschaft aber um ein junges und dynamisches Forschungsfeld handelt, formulieren sie die Hoffnung, dass die Genderdebatten auch hier bald eine angemessene Berücksichtigung finden. Die Gesundheitswissenschaftler_innen Claudia Hornberg, Andrea Pauli und Brigitta Wrede fragen nach dem Stellenwert der Geschlechtszugehörigkeit in der Arzt-Patient Kommunikation. Empirische Studien verweisen darauf, wie stark nach wie vor geschlechtsbezogene Erwartungen und Rollenbilder auf beiden Seiten wirksam sind. Daher gehört für die Autor_innen eine geschlechtssensible Gesprächsführung zu den Kernkompetenzen auf ärztlicher Seite. In den heutigen Curricula der Aus-, Fort- und Weiterbildung wird diese Kompetenz aber vernachlässigt. Sie plädieren dafür, dass Geschlechterwissen und Genderkompetenzvermittlung als Qualitätsmerkmal gilt und in die medizinische Bildung integriert wird.
Diskussion
Die Öffnung der Medizin und der Gesundheitsforschung für die Ansätze und Erkenntnisse aus der Geschlechterforschung erfolgte schon in der 1990er Jahren. Deshalb wollen die Herausgeber_innen dieses Bandes kein neues Grundlagenwerk vorlegen sondern aktuelle Probleme und (bisher) eher randständige Themen aufgreifen. Gemeinsam ist allen Beiträgen, dass sie, wenn auch aus je unterschiedlicher Disziplin, Genderansätze nutzen, um diese mit Fragestellungen ihrer Disziplin zu verknüpfen. Dabei erweist sich Gender als kritische Kategorie: Ihr Einbezug stellt vorherrschende Denkweisen der Disziplin stellenweise in Frage, führt aber auch zu Konzepten, in denen das kritische Moment fruchtbar gemacht wird. Es zeigt sich, dass eine solche Interdisziplinarität zu Lösungen führt, die den komplexen Problemen der Medizin, Gesundheits- und Versorgungsforschung und vor allem der Praxis angemessener sind, was letztlich vor allem den Patient_innen und Klient_innen zugutekommen kann.
In diesem Band werden viele Leser_innen aus den verschiedenen Disziplinen kommend, erkennen, welche neuen Probleme sich in ihren Fächern ergeben, wenn sie die „Geschlechterbrille“ aufsetzen. Auch im Bereich der Gesundheitsforschung und der Medizin haben die dualen Geschlechterkonzepte keinen Platz mehr. Auch Gesundheitsforschung und Medizin müssen sich der Vielfalt der Geschlechter und ihren dadurch geprägten Lebenslagen stellen.
Fazit
Wer sich für eine Gesundheitsforschung interessiert, die ihren Gegenstand nicht nur aus medizinischer sondern auch aus gesellschaftlicher, kultureller und historischer Perspektive versteht, wird hier viele Erkenntnisse und Anregungen gewinnen, aber auch denjenigen, denen Genderfragen und Geschlechterverhältnisse wichtig sind, bietet der Band Vielfältiges. Nicht alle Beiträge sind ganz leichte Kost, aber alle sind auf ihre Weise lesenswert.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 46 Rezensionen von Barbara Stiegler.
Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 26.03.2019 zu:
Ulrich M. Gassner, Julia von Hayek, Alexandra Manzei, Florian Steger (Hrsg.): Geschlecht und Gesundheit. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2018.
ISBN 978-3-8487-5192-1.
Reihe: Gesundheitsforschung - interdisziplinäre Perspektiven - Band 1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25307.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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