Hilarion G. Petzold, Bettina Ellerbrock et al.: Die Neuen Naturtherapien
Rezensiert von Prof. Dr. Eric Pfeifer, 29.04.2019

Hilarion G. Petzold, Bettina Ellerbrock, Ralf Hömberg: Die Neuen Naturtherapien. Handbuch der Garten-, Landschafts-, Wald- und Tiergestützten Therapie, Green Care und Green Meditation. Band I: Grundlagen – Garten- und Landschaftstherapie. Aisthesis (Bielefeld) 2018. 1008 Seiten. ISBN 978-3-8498-1318-5. D: 48,00 EUR, A: 49,40 EUR, CH: 62,40 sFr.
Thema
Das vorliegende „umfassende Werk richtet sich an alle Menschen, die an Natur und Gesundheit interessiert sind und die heilenden und präventiven Kräfte der Natur in ihr Leben und ihre Arbeit integrieren möchten“ (Petzold, Ellebrock & Hömberg, Rückseite des Buches) – so die einladenden Worte der Herausgeber*innen. Der Reihe „Studientexte Integrativer Therapie“ zugehörig, versteht sich das Handbuch in seiner thematischen Ausrichtung als Überblick hinsichtlich der verschiedenen naturgestützten Ansätze wie sie unter der Beschreibung „Neue Naturtherapien“ zusammengefasst werden. Der „Dritten Welle der Integrativen Therapie“ (Petzold, 2016) entlehnt, dient diese Terminologie als Rahmen, innerhalb dessen im vorliegenden Band schwerpunktmäßig Garten- und Landschaftstherapie, unter Verweis auf Theorie, Praxis und Anwendungsbeispiele, wissenschaftlich fundiert vorgestellt werden.
Herausgebende
Die Herausgeber*innen können auf ein weitreichendes Spektrum an Expertise in gesundheitsspezifischen Berufen, Disziplinen und Feldern verweisen (Psychotherapie, Psychologie, Medizin, Supervision, Coaching, Sozialpädagogik usw.). Darüber hinaus verfügen alle drei Herausgeber*innen über ausgewiesene berufliche Erfahrungen, Aus- und Weiterbildungen mit naturtherapeutischem Bezug (siehe biographische Kurznotizen).
Entstehungshintergrund
In der Einleitung formulieren die Herausgeber*innen, dass es Ihnen seit geraumer Zeit ein wichtiges Anliegen gewesen sei, ein Buch über die „Naturtherapien“ zu realisieren (S. 15). Psychotherapie und andere Richtungen würden die Themen Natur, Welt, Lebensführung/Ethik in der und mit der Natur nicht in ausreichendem Maße berücksichtigen bzw. ausblenden. Das Handbuch mag demnach als Beitrag oder Appell an eine moderne Psychotherapie verstanden werden – mit der Hoffnung diese möge sich zunehmend in Richtung einer differentiellen und integrativen Humantherapie mit Natur- und Weltbezug entwickeln (S. 10).
Aufbau
Entsprechend des „starken“ physischen Erscheinungsbildes (mit einem Umfang von etwas mehr als 1000 Seiten) präsentiert sich der Inhalt nicht minder gewichtig (im Sinne von bedeutungsvoll), vielseitig und umfassend. Eingebettet zwischen Geleitwort und Einführung einerseits bzw. einem Episkript von Petzold, Literaturangaben, Bildnachweisen, biographischen Kurznotizen zu den Autor*innen, einem nützlichen Schlagwortverzeichnis und einem abschließenden Green Care Manifesto von Petzold, finden sich vier Abschnitte:
- Theorie
- Gartentherapie
- Landschaftstherapie
- Weiterbildung
Inhalt
Dem Handbuch wird bereits innerhalb des Geleitwortes eine Prämisse in Form eines „neuen“ Paradigmas vorangestellt – ein Paradigma, das „die Welt von der Welt her, und nicht mehr nur vom Menschen her zu verstehen“ sucht (S. 9). Rasch wird deutlich, der Stil ist integrativ, humanistisch gehalten, oder eben ökophil (lebensfreundlich) und mundanotrop (weltgerecht). Bisweilen klingen – erfreulicherweise – Erinnerungen an Viktor Frankls Menschenbild und Appell u.a. an die geistige Ebene des Menschen durch (siehe Noosphäre, Nootherapie…).
Zu Beginn des Theorieteils wird der/die Lesende mit hilfreichen, aus interdisziplinärem Fundus gespeisten Definitionen zu Natur „ausgestattet“. Zentrale Begriffe wie Naturtherapie, Neue Naturtherapien, Integrative Therapie, Integrative Garten-, Landschafts-, Wald-, tiergestützte Therapie, biopsychosozialökologische Sicht usw. werden erläutert (Beiträge von Petzold, Hömberg & Ellerbrock; Welsch), wie auch eine philosophisch gehaltene Annäherung an den Begriff „Landschaft“ (Schmitz) erfolgt.
Anschließend bietet der Beitrag von Günther einen Überblick zu Studien und deren Ergebnisse im Themenfeld Natur, psychische Gesundheit und Wohlbefinden. Kritisch gehaltene Gegenüberstellungen von Stadt und Natur finden ebenso Raum, wie Überlegungen zu menschlicher Angst in Verbindung mit Natur (Egger). Die Potenziale, die sich über eine Einbindung von Tieren im Kontext tiergestützter Therapienagebote ergeben, werden u.a. über die Förderung der Ausschüttung des Hormons Oxytozin, sowie bindungstheoretische und stressregulierende Zusammenhänge verdeutlicht (Beetz). Die Abhandlung zur Wirkung von Gartentherapie (Haubenhofer) bietet Antworten auf die Frage wie Gartentherapie wirken kann, beinhaltet aber auch einen kritischen Blick (auf z.T. unzureichende Qualität vieler Studien u.a.). Venhoeven und Steg befassen sich mit der Bedeutung der Umweltpsychologie für die Naturtherapie, während Petzold, Moser und Orth Einblicke in Euthyme Therapie eröffnen.
Ausgehend von einer (vermeintlichen) Trivialität ökopsychosomatischer Effekte (Petzold & Hömberg) findet sich der/die Lesende mittendrin in den Überlegungen zu einem gesunden Leben unter dem Blickwinkel mikro-, meso- und makroperspektivischer Betrachtungen oder einer „Grünen Wende“, einem „Green Learning®“. Die positiven Auswirkungen des Waldes auf die menschliche Gesundheit (z.B. auf Blutdruck, „Zivilisationskrankheiten“, Hormon- oder Immunsystem) werden anhand diverser Studienergebnisse und Statistiken belegt (Li). Spitzer schöpft in seinen Ausführungen zu den positiven Auswirkungen des Erlebens von Natur aus einem breit gefächerten Fundus an wissenschaftlichen Erkenntnissen und bettet diese in alltagstaugliche Kontexte ein. Petzold und Ort-Petzold beschließen den Theorieteil mit einem Beitrag im Schnittfeld von Naturentfremdung, bedrohter Ökologisation, Internetsucht und einem sich zaghaft abzeichnenden „Nature Turn“ – einer Neuökologisierung.
Insgesamt findet sich im Abschnitt zu Gartentherapie (mit Beiträgen von Neuberger; Wasolua; Bethlehem; Vollmer & Niepel; Krüskemper; Petzold) Geschichtliches zu den Entwicklungen der Gartentherapie, deren Wirkfaktoren, deren Verbindung zur Integrativen Therapie bzw. (Weiter-)Entwicklung hin zu einer Integrativen Gartentherapie, Hinweise zur Qualitätssicherung und Dokumentation u.v.m. Die vielfältigen methodischen Anregungen umfassen achtsamkeitsbasierte, gestalttherapeutische, systemische und viele weitere Elemente. Sie sind mitunter abgestimmt auf jahreszeitbedingte Möglichkeiten und Voraussetzungen und stützen sich auf interessant zu lesende Fallvignetten/-auszüge. Adressiert wird ein breites (klinisches und nicht-klinisches) Spektrum, was die Klientel und das Setting anbelangt (Kinder-Garten-Erlebnistage, ein integrative, präventives Naturprojekt für Kinder und Jugendliche in belasteten Familien, Gartentherapie im Feld der Gerontotherapie und Altenpflege, Integrative Gartentherapie im heilpädagogischen Kontext).
Der Abschnitt zu Landschaftstherapie überrascht durch seine bisweilen „naturphänomenologisch“ orientierte Themenfokussierung (Berge, Wüste, Meer…). Petzold knüpft an das „Euthyme“ an und wendet sich nunmehr Gärten und Landschaften als euthyme Orte für persönliche Entwicklung zu. Es findet sich neuerlich ein Beitrag zur Heilkraft des Waldes (Ellerbrock & Petzold) – dieses Mal allerdings unter Einbezug ökopsychosomatischer Überlegungen. In den Ausführungen zur Heilkraft der Berge (Heule) begegnet der/die interessiert Lesende wandernd Heidi, Klara und Öhi, während es in der Wüste (Ramin) Saint-Exupérys „Kleiner Prinz“ ist, der hinführt zum Wesen der Wüste und persönlichen Erfahrungen der Autorin diesbezüglich. Der Wüste folgt das Wasser: Röttjer schildert in ihren Erläuterungen – basierend auf Kurzinterviews, die am Meer geführt wurden – Details zu Wind, Wasser, Wolken und Weite. Der Abschnitt schließt mit einem Beitrag Petzolds, der naturempathischen und -liebenden Gedanken Raum gibt – hier mit biographisch gehaltener Konnotation.
Im Abschnitt Weiterbildung würdigen die Autor*innen einerseits den Einsatz Hilarion G. Petzolds für die (Weiter-)Entwicklung und das Feld der Naturtherapien im Allgemeinen. Darüber hinaus verweisen sie auf die Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten in den Neuen Naturtherapien an der „Europäischen Akademie für biopsychosoziale Gesundheit, Naturtherapien und Kreativitätsförderung“ (EAG), auf daraus hervorgegangene/hervorgehende Publikationen (Grüne Texte), sowie auf die langjährige Evaluationstradition der EAG (inkl. Darstellung einiger Evaluationsergebnisse der naturtherapeutischen Weiterbildungen).
Ein besonderes Herzstück (im wahrsten Sinne des Wortes) bildet das Episkript, in welchem anfänglich noch die Rede ist von den „üblichen Anschlussprobleme[n] der DB“ (Petzold, S. 899), sich dann aber auf Basis naturtherapeutischer Wurzeln und Verwurzelungen eine Geschichte entfaltet, wie sie auf das Thema des Sammelbandes bezogen nicht eindrücklicher und berührender hätte erzählt werden können. Als Lesende/r fühlt man sich an die Hand genommen, im Sinne einer Wanderung entlang der Potenziale „Grüner Mediation“ in „critical life event[s] (Filipp, Aymanns 2010)“. Das „Green Care Manifesto“ Petzolds setzt dem Handbuch, im Stile eines thematisch angemessenen Aufrufs zu einem ökologisch engagierten Lebensstil (S. 1006), einen Schlusspunkt – einen „Grünen Schlusspunkt“.
Diskussion
Auffallend sind die vielen „kleinen“ – so wurden u.a. relevante Begrifflichkeiten wie „Green Meditation®“ und „Integrative Naturtherapie“ in grüner Farbe abgedruckt – und „größeren“ Details – fast durchgängig in Farbe gedruckte Fotografien und Bilder. Ästhetisch zeichnet sich dadurch ein zum Thema passendes Gesamtbild, das erfrischend wirkt, nebst inhaltlicher Dichte auch bildhaft Anregendes fürs Auge bietet. Dem ästhetischen Genuss etwas weniger förderlich gegenüber steht, wenn überhaupt, die sehr häufige Verwendung von teilweise auffallend lang gehaltenen Fußnoten, welche dem Lesefluss an manchen Stellen Einhalt gebieten.
Die mehrfach hervorgehobene und deutlich erkennbare „methodenintegrative“, schulen- und verfahrensübergreifende Haltung der Herausgeber*innen und Autor*innen gefällt. Eine solche Haltung wirkt sich mit Sicherheit förderlich auf die weitere Entwicklung der „Neuen Naturtherapien“ aus und gleichzeitig hoffentlich „therapieschulenbezogenen Grabenkämpfen“, wie sie auch in der heutigen Zeit (leider) noch bestehen, entgegen.
Den Herausgeber*innen ist es gelungen, innerhalb dieses Bandes eine Gruppe erfahrener Expert*innen zusammenzuführen. Das Ergebnis dieser Zusammenkunft ist ein bemerkenswertes, naturtherapeutisches Potpourri bestehend aus fundierten theoretischen Überlegungen und Verweisen auf Wissenschaft und Forschung, anwendungsbezogenen Anregungen, Praxis- und Fallbeispielen. Als vielleicht einziger Wehmutstropfen in dieser Hinsicht mag formuliert werden, dass etwas mehr „Internationalität“ (z.B. Autor*innen und Darstellungen aus dem süd-, mittel- und nordamerikanischen, südostasiatischen… Raum) zusätzlich bereichernd gewesen wäre.
Im Abschnitt Gartentherapie wiederholen sich einzelne Inhalte in den Beiträgen von Neuberger, Wasolua, Bethlehem, Vollmer & Niepel, Krüskemper (z.B. allgemeine Ausführungen zu Gartentherapie). Dies „schadet“ allerdings nicht, zumal die Autor*innen diesen Inhalten aus Sicht ihrer jeweiligen individuellen Expertisen und Erfahrungen begegnen. Es bietet sich somit vielmehr die Chance auf durch verschiedene Perspektiven erweitertes Wissen.
Mitunter erwecken manche Textstellen im Abschnitt Weiterbildung den Eindruck einer „bewerbenden“ Konnotation der Weiterbildungsangebote an der EAG. Dies wird an anderer Stelle jedoch auf empathische Weise aufgelöst, wenn im Blickfeld der Neuen Naturtherapien und daran gekoppelter Weiterbildungskonzeptionen von einer lernenden Haltung und Einstellung gesprochen wird.
In Summe, und zurecht, darf den Herausgeber*innen und mitwirkenden Autor*innen Lob zugesprochen werden für dieses umfangreiche, vor Wissen und Information „kraftstrotzende“ Handbuch mit Grundlagen- und Lehrbuchcharakter.
Fazit
Definitiv handelt es sich hier um ein Werk mit ausgeprägten Handbuch- und Grundlagenwerkqualitäten im Sinne solider wissenschaftlicher und theoretischer Fundierung. Eine solche, notwendige Fundierung im Theoretischen – ohne die ebenso umfassenden praktischen und anwendungsbezogenen Anteile schmälern zu wollen – bedingt gleichzeitig einen Rückschluss auf themenspezifische Fachbegriffe. Gerade in dieser Hinsicht sind die mitwirkenden Autor*innen sichtlich bemüht, jegliche Begrifflichkeiten verständlich und nachvollziehbar zu erklären. Lesende benötigen mitunter etwas Zeit, um in Sprachstil und -habitus (auch jenen der Integrativen Therapie im Allgemeinen) einzutauchen. Aufgrund der durchwegs spürbar persönlich gehaltenen Ausführungen der Mitwirkenden gelingt dies allerdings rasch und es tun sich weite Räume der Erfahrung und Bereicherung für die eigene persönliche Entwicklung, für die berufliche Praxis (therapeutisch, pädagogisch, sozialarbeiterisch, medizinisch…), für Forschung, Wissenschaft und Theorie auf.
Zurecht verfügt dieses Handbuch über einen eigenen „Charakter“, es handelt sich schließlich auch um das erste in deutscher Sprache vorliegende Übersichtswerk zu den „Neuen Naturtherapien“. „An increasing number of therapists are taking their practice outdoors […]“, so Jordan (2015, S. 59) adäquat zu den aktuellen Entwicklungen innerhalb der therapeutischen Community. Und genau hier setzt dieses Handbuch an, blickt zurück, greift vor und wird zum Begleiter für Interessierte, zum Grundlagenwerk für Fachleute, zum Lehrbuch für Studierende – nicht zur Blau-, sondern zur Grünpause, zum „Green Book“ einer integrativen Humantherapie mit Natur- und Weltbezug.
Literatur
- Jordan, M. (2015). Nature and therapy. Understanding counselling and psychotherapy in outdoor spaces. East Sussex and New York: Routledge.
- Petzold, H. G. (2016). Die „Neuen Naturtherapien“, engagiertes „Green Care“, waldtherapeutische Praxis. „Komplexe Achtsamkeit“ und „konkrete Ökophilie“ für eine extrem bedrohte Biosphäre. FPI-Publikationen. Verfügbar unter: www.fpi-publikation.de
Rezension von
Prof. Dr. Eric Pfeifer
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