Katharina Stahlmann: Begegnungen mit Geflüchteten
Rezensiert von Dr. René Reichel, 07.02.2019

Katharina Stahlmann: Begegnungen mit Geflüchteten - Möglichkeiten der Gestalttherapie. Reflexionen zu Therapie, Beratung, Politik. EHP – Verlag Andreas Kohlhage (Gevelsberg) 2018. 319 Seiten. ISBN 978-3-89797-106-6. D: 26,99 EUR, A: 27,80 EUR.
Thema
In den Beiträgen geht es sowohl um gesellschaftliche Hintergründe der Flüchtlingssituation in den deutschsprachigen Ländern, um Organisationsformen von Flüchtlingsbetreuung und vor allem um direkte – psychotherapeutische – Arbeit mit Geflüchteten. Alle Beiträge stammen aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz und beziehen sich auch auf den gestalttherapeutischen Hintergrund der Autor*innen.
Herausgeberin
Katharina Stahlmann ist Gestalttherapeutin und Supervisorin in Berlin.
Aufbau
Das Buch umfasst 14 Beiträge von 13 Autor*innen zur Arbeit mit Geflüchteten. Das Buch ist in vier Abschnitte gegliedert:
- Gestalt – Handeln im gesellschaftlichen Kontext
- Einzeltherapie mit Erwachsenen
- Therapie mit Kindern und Jugendlichen
- Gruppentherapie mit Frauen
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis.
Inhalt
Im einleitenden und programmatischen Beitrag legt die Herausgeberin Katharina Stahlmann dar, dass die Grundlagen der Gestalttherapie immer auch wesentlich gesellschaftspolitisch zu verstehen waren und sind. Diese vor allem von Paul Goodman eingebrachte Position ist heute aktueller denn je. Der zweite grundlegende Beitrag des Buches von Marc Oestreicher verknüpft diese Grundlagen mit einer schweizerischen Initiative in einer spannend radikalen Weise, wobei zu ergänzen ist, dass beide Beiträge sich durch eine realitätsgerechte Radikalität auszeichnen.
Auch in mehreren praxisbezogenen Beiträgen werden stabile Brücken zwischen politischem Engagement einerseits und psychotherapeutischer Praxis andererseits gebaut. Da geht es sowohl um das Engagement in der heutigen gesellschaftlichen Situation von Geflüchteten in Mitteleuropa bei der praktischen Arbeit für sie und mit ihnen, um die Reflexion und Mitgestaltung organisatorischer Bedingungen in Flüchtlingsunterbringungen, um oft parallel laufende juristische und medizinisch/psychologische Klärungsprozesse, um therapeutische Einzel- und Gruppenarbeit oder auch um die psychotherapeutischen Arbeit mit Hilfe von Dolmetscher*innen.
Es ist schwer und nicht ganz fair, unter den vielen praxisnahen Beiträgen in diesem Buch einzelne hervorzuheben. Sie beschreiben sehr viele wichtige Details und gehen fast immer auch auf theoretische Hintergründe ein. Traumatheoretisches Wissen ist in den Beiträgen gut integriert.
Lehrreich für Praktiker*innen sind vor allem die Beiträge, in denen dolmetschgestützte Psychotherapie beschrieben und diskutiert wird sowie die differenzierten und speziell berührenden Darstellungen der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen oder mit Frauen. Ebenfalls beachtenswert ist die Erfahrung von Stahlmann in ihrem praxisbezogenen Beitrag, dass – ergänzend zu den allgemeinen Schwierigkeiten, geflüchteten Menschen Psychotherapie anzubieten – die vorherrschende Fachmeinung, „dass ohne Sicherheit keine Traumaverarbeitung indiziert sein, nicht immer für passend“ zu halten sei (S. 200). Solche Entscheidungen, das ist ja der Kern gestalttherapeutischer Arbeitshaltung, sind nur im jeweils konkreten Kontakt mit den beteiligten Menschen gemeinsam zu treffen. Das wird in mehreren Beiträgen verdeutlicht.
Diskussion
Beeindruckend ist die häufige Verknüpfung einzeltherapeutischer Aspekte mit gemeindepolitischen und sozialpolitischen Initiativen und Aspekten.
Gemeinsam ist vielen Beiträgen die Beschreibung der Schwierigkeit für alle Beteiligten, das Spannungsfeld zwischen nachdrücklichem Engagement einerseits und dem Anerkennen, was nicht möglich ist, andererseits auszuhalten. Es ist allerdings naheliegend, dass die Autor*innen in diesem Buch vorzugsweise ermutigende Erfahrungen dargestellt haben.
Trotz der beachtlichen Vielfalt von Praxisfeldern fällt auf, dass es zwar kinder-, jugend- und frauenspezifische Berichte gibt, aber bis auf einen („Das Dorf und die Eritreer“) keine männerspezifischen. Dafür gibt es vermutlich verschiedene gute Gründe wie die geringere Bereitschaft männlicher Geflüchteter, sich auf Psychotherapie einzulassen, oder die geringere Bereitschaft männlicher Psychotherapeuten, sich auf die oft nicht oder kaum bezahlte Arbeit mit geflüchteten Männern einzulassen, oder vielleicht auch die Bereitschaft derer, die es doch tun, auch noch darüber zu schreiben. Jedenfalls sind zehn der dreizehn Autor*innen in diesem Buch weiblich. Der Reichhaltigkeit des Buches tut dieser Mangel aber keinen Abbruch.
Die schulenspezifische Sichtweise der gestalttherapeutischen Autor*innen ist klar dargestellt, aber nie verengend oder gar abgrenzend, sodass auch Kolleg*innen aus anderen psychotherapeutischen Richtungen hier weitgehend mitgehen und profitieren können.
Fazit
Ein in mehrfacher Weise interessantes und wichtiges Buch im Themenfeld Flucht und Migration mit vielen Einblicken in eine engagierte psychotherapeutische Praxis.
Auch für Psychotherapeut*innen aus anderen Schulen, für Helfer*innen aus verwandten Berufsfeldern und für viele Engagierte in der Flüchtlingsarbeit ist dieses sehr gut lesbare Buch von Wert, sofern sie die Arbeit mit Geflüchteten auch als Chance für bereichernde Entwicklungen von Menschen und Gesellschaft sehen wollen.
Rezension von
Dr. René Reichel
MSc
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Es gibt 2 Rezensionen von René Reichel.
Zitiervorschlag
René Reichel. Rezension vom 07.02.2019 zu:
Katharina Stahlmann: Begegnungen mit Geflüchteten - Möglichkeiten der Gestalttherapie. Reflexionen zu Therapie, Beratung, Politik. EHP – Verlag Andreas Kohlhage
(Gevelsberg) 2018.
ISBN 978-3-89797-106-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25329.php, Datum des Zugriffs 31.03.2023.
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