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Franziska Martinsen (Hrsg.): Wissen - Macht - Meinung

Rezensiert von Prof. Dr. Klaus Hansen, 15.04.2019

Cover Franziska Martinsen (Hrsg.): Wissen - Macht - Meinung ISBN 978-3-95832-148-9

Franziska Martinsen (Hrsg.): Wissen - Macht - Meinung. Demokratie und Digitalisierung : die 20. Hannah-Arendt-Tage 2017. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2018. 107 Seiten. ISBN 978-3-95832-148-9. D: 18,90 EUR, A: 19,50 EUR.

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Thema

Das Buch dokumentiert 9 Beiträge der in Hannover veranstalteten „Hannah Arendt Tage 2017“. Hanna Arendt ist in Hannover geboren; seit 1998 gedenkt die Stadt ihrer mit den jährlich stattfindenden Hannah-Arendt-Tagen. Thematisch geht es um die Erörterung von Chancen und Risiken der Digitalisierung und des world wide web für eine funktionierende Demokratie.

Herausgeberin

Franziska Martinsen, Philosophin und Politologin, ist Privatdozentin am Institut für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover.

Inhalt

Jeanette Hoffmann, Professorin für Internetpolitik an der FU Berlin, findet einen positiven Zusammenhang zwischen Demokratie und Digitalisierung in der Möglichkeit einer weltweiten Öffentlichkeit ohne Zugangsbeschränkungen, durch die auch ein transnationales Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen kann, aus dem womöglich der mündige Weltbürger einer kosmopolitischen Demokratie hervorgeht.

„Digitalisierung“ wird nicht weiter definiert, sondern als „Internet“ operationalisiert. Das Internet macht eine weltweite „mass self communication“ möglich. Darin liegen seine demokratischen Chancen.

Der negative Zusammenhang zwischen Demokratie und Digitalisierung besteht darin, dass in einer nicht mehr durch traditionelle „Gatekeeper“ kanalisierten öffentliche Meinungsbildung die Vox populi sich als Vox Rindvieh entpuppt und weniger der Fortentwicklung von Demokratie Vorschub leistet, sondern viel mehr ihre Entartung zur Ochlokratie forciert, zur Pöbelherrschaft.

Lars Klingbeil, Generalsekretär der SPD, stellt seinen Beitrag unter ein Motto von Hannah Arendt: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Das Freiheitsversprechen des Internet, „technology of freedom“ zu sein, verwirklicht sich nicht technologisch und von selbst, wie Technokraten träumen, sondern muss politisch durchgesetzt werden. Das „Netzwerkdurchsetzungsgesetz“ in Deutschland ist ein erster Schritt dazu.

Mike Weber, stellvertretender Leiter des Kompetenzzentrums IT (ÖFTI) beim Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme, stellt Digitaliserung nicht als globales Phänomen vor, sondern als kommunalpolitische Chance. „Die vollautomatische Kommune“ ist sein Beitrag überschrieben. Digitale Technologien werden als enormes Entlastungspotenzial für alle Routinearbeiten in der Stadt- und Kommunalverwaltung beschrieben. Geringe Wartezeiten, größere Transparenz und schnelle Bescheide sind keine Utopie mehr.

Clemens Rehm ist Historiker und leitet die Abteilung Archivischer Grundsatz des Landesarchivs Baden-Württemberg. In seinem Beitrag „Geheim! Macht und Ohnmacht der Archive in der demokratischen Gesellschaft“ schreibt er Archiven die Funktion zu, ein „wichtiges Gedächtnisinstrument demokratischer Gesellschaften“ zu sein. Professionelle Archivare stehen für ihn „an der Grenze zwischen Erinnern und Vergessen“ und sind heute mit dem Internet konfrontiert, „das nichts vergisst“. Nun gibt es aber ein Recht auf „Vergessenwerden“ und „Löschen“. Es ist bei gesetzlich und moralisch gebundenen Archiven und Archivaren besser aufgehoben als im kommerziellen Internet, meint Rehm. Heute kommen aus der Gilde der Archivare neue zeitgenössische Helden, die „Whistleblower“, die öffentlich machen, was geheim zu halten war und dies im Namen demokratischer Transparenz tun. – Wieviel Geheimnis verträgt eine Demokratie, wieviel Transparenz ist ihr zuzumuten?

Kurt Schneider leitet am Fachbereich Informatik der Leibniz Universität Hannover das Fachgebiet Software Entwicklung. Er fragt in seinem Beitrag nach dem „neuen Lebensgefühl“, das durch die Digitalisierung gestiftet oder zumindest begünstigt werde. Und kommt im Wesentlichen zu zwei Antworten: Wenn heute jeder dank „Amazon“, „Ebay“ etc. erwarten kann, dass man digitale Güter nicht erst nach einer Woche mit der „Schneckenpost“ zugestellt bekommt, sondern umgehend, sofort, spätestens „über Nacht“ erhält; wenn man erwartet, dass Wissenslücken mit einem Mausklick bei „Wikipedia“ gefüllt werden (und nicht mehr durch langwieriges Recherchieren), dann bildet sich eine Attitüde des Sofortismus oder Adhocismus heraus; Warten können und Geduld drohen abhanden zu kommen. Wenn in der digitalen Konsumwelt der Konsument permanent aufgerufen wird, die Waren und Dienstleistungen zu bewerten (Ihre Stimme zählt!), stellt sich ein Gefühl der Verbraucher-Souveränität ein. Schneider spricht von einer „Demokratie im Kleinen“, was andere „Ausbeutung persönlicher Vorlieben“ nennen. Dass man auf diese Weise auch ein Restaurant aus reiner Niedertracht und Boshaftigkeit in den Ruin bewerten kann, kreidet der Autor nicht der digitalen Bewertungstechnik an, sondern den „Followern“, die daraufhin kleinmütig das Restaurant meiden. Im Digitalismus geht alles schnell. Auch die Selffulfilling Prophecys erfüllen sich in der binär kodierten Welt schneller als in der Welt zu Fuß.

Oliver Bendel lehrt und forscht als Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Er behandelt in seinem Beitrag die auditiven „Spione im eigenen Haus“. Nicht mehr durch gewöhnliche „Wanzen“, nicht mehr durch konventionelle Telefonüberwachung, sondern durch die in Alltagsgeräten – Smartphones, intelligentes Spielzeug, Serviceroboter etc. – verbauten Mikrofone können Menschen heute abgehört und in ihrem Recht auf „informationelle Autonomie“ verletzt werden. Die Betroffenen bagatellisieren das gern (Ich habe nichts zu verbergen!) oder schöpfen sogar das Gefühl der Prominenz aus der Tatsache, beobachtet und belauscht zu werden.

Martin Spielkamp, Journalist und Geschäftsführer von AlgorithmWatch, denkt über „Fake News“ nach. Falschmeldungen sind vorgetäuschte Nachrichten und vorsätzlich falsche Fakten. Als Teil von Propaganda, Meinungsmache und Kampagnenjournalismus hat es sie schon immer gegeben. Heute stehen hinter vielen Fake News im Internet Algorithmen und keine leibhaftigen Menschen am Schreibtisch. Das ist neu und macht es schwer, die Verantwortlichen zu benennen. Wie sinnvoll ist es, Fake News zu widerlegen, ohne ihre Urheber zu belangen zu können?

Constanze Kurz, promovierte Informatikerin und Journalistin, prangert die „wundersame Datengläubigkeit“ vieler Bürger an. Sie weist auf bekannte, aber vernachlässigte Lücken in der IT-Sicherheit öffentlicher Behörden hin und erkennt in der großen Abhängigkeit deutscher Amtsstuben vom amerikanischen Betriebssystem Windows und der Firma Microsoft ein Sicherheitsrisiko.

Yvonne Hochstetter, Juristin und Geschäftsführerin eines Unternehmens, das Künstliche Intelligenz für industrielle Einsatzzwecke entwickelt, beschließt den Band mit der Warnung, den euphemistischen Begleitideologien der Digitalisierung nicht auf den Leim zu gehen. „Begeistert gibt sich das Volk den neuen, schicken Mitteln der totalen Überwachung hin.“ Das ist das Ende des Traums vom mündigen Bürger. Sie stellt eine Schlüsselfrage, die leider ohne schlüssige Antwort bleibt: Was haben Digitalisierung und die totale Vernetzung der Welt in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren mit dem gleichzeitig ansteigenden politischen Populismus und der gleichzeitig zunehmenden Bürger-Wut in der Gesellschaft zu tun?

Diskussion

Alle Verantwortung für die durch Digitalisierung und Internet möglichen Manipulationen wird auf den Endverbraucher abgeladen. Wer sich von seinem Smartphone ausspionieren lässt – selber schuld! Wer algorithmisch generierten Fake News aufsitzt – selber schuld! Wer nicht weiß, dass er sich durch seine Teilnahme an den „sozialen Medien“ auf technologiebasierte Werbebühnen amerikanischer Großkonzerne begibt, die vom Rohstoff seiner persönlichen Daten leben – selber schuld! Wer nicht merkt, dass er in Filterblasen und Echokammern eingesperrt wird – selber schuld! Dann fehlt es eben dem „User“ an kritischer Urteilskraft, Souveränität und Mut. Da liegt also der Schwarze Peter, beim schwächsten Glied in der Kette, das mit der Einredung „Ich bin doch nicht blöd!“ bei Laune gehalten wird.

Fazit

Technik ist weder gut noch böse, heißt es wiederholt in dem Büchlein, es komme immer darauf an, was die Menschen mit und aus ihr machen. Dass die Technologie die Menschen durch ihre Funktionsbedingungen sozialisiert und konditioniert, nicht selten zu sonderbaren Nerds macht und sogar zu anthropologischen Mischwesen (Cyborgs) machen kann, wird nirgends angesprochen.

Da es eine Hannah Arendt gewidmete Tagung war, die hier protokolliert wird, hätte man doch gern erfahren, wie sich zentrale Begriffe ihres sozialphilosophischen Denkens im Lichte der digitalen Entwicklung darstellen. Das Schicksal der vita contemplativa in Zeiten der Dauererreichbarkeit und des Zwangs zur schnellen Klick-Reaktion mit den Augen von Hannah Arendt zu betrachten, wäre ein schönes Thema gewesen!

Rezension von
Prof. Dr. Klaus Hansen
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Zitiervorschlag
Klaus Hansen. Rezension vom 15.04.2019 zu: Franziska Martinsen (Hrsg.): Wissen - Macht - Meinung. Demokratie und Digitalisierung : die 20. Hannah-Arendt-Tage 2017. Velbrück GmbH Bücher & Medien (Weilerswist) 2018. ISBN 978-3-95832-148-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25340.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.


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