Jonas Wollenhaupt: Die Entfremdung des Subjekts
Rezensiert von Dr. Maurice Schulze, 30.09.2019
Jonas Wollenhaupt: Die Entfremdung des Subjekts. Zur kritischen Theorie des Subjekts nach Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer.
transcript
(Bielefeld) 2018.
346 Seiten.
ISBN 978-3-8394-4552-5.
Reihe: Sozialtheorie.
Thema
Entfremdung als Phänomen und Begriff handelt Jonas Wollenhaupt historisch ab und stellt als Kern seiner Arbeit die theoretische Verbindung von Alfred Lorenzer und Pierre Bourdieu her. Die Arbeit ist an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main als Dissertation entstanden.
Autor
Jonas Wollenhaupt ist Politologe, promoviert in Soziologie und arbeitet als freier Journalist im Print-, Online- und Fernsehbereich.
Inhalt
Entfremdung tauchte in Philosophie und Soziologie regelmäßig auf und verschwand jedoch dann ebenso wieder aus den Auseinandersetzungen. Jonas Wollenhaupt zeigt im ersten Kapitel (Ideengeschichte der Entfremdung) die historische Entwicklung des Begriffs als Ideengeschichte auf, beginnend mit den antiken Deutungen von Aristoteles über mittelalterliche Gegenüberstellungen von positiver und negativer Entfremdung hin zur Renaissance. Der Autor zeichnet die begriffliche Entwicklung des Menschen hin zum Subjekt bei Rousseau nach: „Die Menschen werden zu Subjekten der Geschichte erklärt, sie werden verantwortlich für ihre Lage und für mündig erachtet, in den Lauf der Welt einzugreifen“ (S. 30). Über Hegels dialektische Auffassung vom Entstehen und vom Zusammenbruch durch Aneignung und Entfremdung, zeigt Wollenhaupt die Grundsteine der Marxschen Entwicklung seines Vergegenständlichkeitsmodell, wonach Entfremdung „als eine Störung der Veräußerung oder Aneignung des Vergegenständlichten zu verstehen“ (S. 50) ist. Daran schließen sich die vier Arten der Entfremdung bei Marx an. Über Freud und Lukács zeichnet der Autor die Geschichte des Entfremdungsbegriffs bis zur Kritischen Theorie, Boltanski/Chiapello und Rosa. Die ersten 100 Seiten bieten in pointierter Art einen Überblick über die verschiedenen Deutungen und zeigen, wie sie argumentativ aufeinander aufbauen, wie Wollenhaupt in einem Resümee nachmals rückblickend zusammenfasst.
Das zweite Kapitel (Bourdieu und Lorenzer) erarbeitet nun die Theorien von Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer. Anhand der Erläuterungen der Grundbegriffe von der Theorie der Praxis, dem Kapital-Begriff, dem Habituskonzept und dem sozialen Feld, stellt Wollenhaupt die Feld-Habitus-Theorie Bourdieus dar, wobei er sich auf die für die Entfremdung relevanten Aspekte bezieht. Dabei macht er stets deutlich, an welchen Stellen er Schwachstellen verortet, wie bspw. in Bezug auf Bourdieus relationalen Soziologie (S. 117). Für Bourdieu lässt sich den Darstellungen des Autors nach festhalten, bleibt Entfremdung „ein Randterminus, der nicht systematisch verwendet wird“ (S. 145). Einerseits lässt sie sich als „eine praktische Entfernung von den realen Verhältnissen“ (ebd.) beschreiben. Dabei verschleiert die „Doxa des Feldes […] die objektiven Strukturen und damit die symbolische Herrschaft“ (ebd.). Andererseits können Habitus und Feld in ein „Ungleichheitsverhältnis durch räumliche oder zeitliche Verschiebungen des Habitus […] oder des Feldes“ (S. 146) geraten. Wollenhaupt stellt daran die treffende Frage: Gibt es einen Habitus ohne Eigensinn?
Die Kritische Theorie des Subjekts dient Wollenhaupt als Einstieg in die Darstellung Lorenzers Theorie der Interaktionsformen. Die Hermeneutik des Leibes dient Lorenzer das „begriffliche Sackgassen zu überwinden, die durch die Trennung von Kultur- und Naturbetrachtung hervorgetreten waren“ (S. 151). Zu diesem Zweck entwickelte er „eine materialistische Sozialisationstheorie, in der ein psycho-analytischer Subjektivismus und ein soziologischer Objektivismus überwunden werden sollen“ (S. 152). Wollenhaupt stellt dar, dass sich Subjektivität in einem „dialektischen Prozess fortwährender Anpassung“ (S. 169) manifestiert und dadurch „historisch bedingt und veränderbar“ (ebd.) ist. So lässt sich zusammenfassen: „Die falsche Narration bedingt Entfremdung in einer heteronomen Praxis. Eine unentfremdete Praxis ist demgegenüber nur durch eine adäquate Narration des Selbst, d.h. eine Identität, in der die eigenen Interaktionsformen symbolisiert werden können“ (S. 170). Wollenhaupt verweist dabei auf die Kategorie des Fetischs als „das theoretische Gelenkstück zwischen Entfremdung und Ideologie“ (S. 183), woraus sich eine „falsche Praxis“ (ebd.) ableitet, die in Entfremdung münden kann.
Das dritte Kapitel (Das entfremdete Subjekt im Feld) führt die beschriebenen Theorien Bourdieus und Lorenzers zusammen, wodurch „das Phänomen der Entfremdung in einer subjektiven und einer objektiven Strukturanalyse gleichsam begreifbar werden“ (S. 215) soll. Stellt der erste Teil die Gemeinsamkeiten und Unterschiede Lorenzers und Bourdieus Theorien heraus, wird folgend die Entfremdung im Zusammenhang mit der inneren Natur des Habitus entworfen. Wie in vielen Kritiken an Bourdieus Theorie, verweist auch Wollenhaupt auf die mangelnde Konzeption des Zusammenhangs von Habitus und Feld, worin die Kontingenz sozialer Praxis, und hier der Zusammenhang von praktischem und un-praktischem Sinn nicht ausreichend dargelegt sind. „An dem Konzept des praktischen Sinns kritisiere ich, dass er immer nur das Gespür für die erwarteten Handlungen in einem Feld beschreibt. Allerdings können in einem Habitus auch widersprüchliche Praxissinne in den Körper eingeschrieben sein“ (S. 233). Bourdieu zielte allerdings auf die Frage nach der Stabilität und der Reproduktion von Praxis ab. Aktuelle Arbeiten über Praxistheorien haben den Blick für die Aushandlung von Praxis auf Grundlage Bourdieus Arbeiten deutlich erweitert. Wie individuelles Verhalten jedoch Strukturen hervorbringt (vgl. S. 233), bleibt bei aller gerechtfertigten Kritik an Bourdieus Theorie auch an dieser Stelle weiterhin offen. Wollenhaupt führt abschließend die Irritation als Ausgangspunkt für eine Transformation der Praxis an. In fünf Beispielen verdeutlicht der Autor, wie an einem fiktiven Lebenslauf seine entworfenen Entfremdungstheorie zu verstehen ist. Von der Kinder- und Schulerziehung hin zur Stadtsoziologie zeigt sich, wie die Entfremdung praktisch in einem Dissens von „sinnlichem Bezug zu ihrer Praxis“ (S. 304) bei Schüler/innen oder der Entstehung von Nicht-Orten (S. 307) auftritt.
Fazit
Wollenhaupts Dissertation leistet einen richtungsweisenden Beitrag zur aktuellen Diskussion um den Begriff der Entfremdung. Seine historischen Herleitungen sind als Einführung und Orientierung äußerste prägnant formuliert und daher sehr zu empfehlen. Seine Ausführungen über Bourdieu und Lorenzer hingegen erfordern ein großes Maß an Vorkenntnissen und Verständnis. Hier setzt Wollenhaupt, besonders bei den Ausführungen über Lorenzer, mehr als Grundkenntnisse voraus. Einen Anschluss an die aktuelle Praxistheorie oder Ableitungen für eine empirische Arbeit mit dem Begriff der Entfremdung leistet die Arbeit leider nicht.
Rezension von
Dr. Maurice Schulze
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Zitiervorschlag
Maurice Schulze. Rezension vom 30.09.2019 zu:
Jonas Wollenhaupt: Die Entfremdung des Subjekts. Zur kritischen Theorie des Subjekts nach Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer. transcript
(Bielefeld) 2018.
ISBN 978-3-8394-4552-5.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25347.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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