Yvonne Rubin: Freiwilliges Engagement in "sorgenden Gemeinschaften"
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 10.04.2019
Yvonne Rubin: Freiwilliges Engagement in "sorgenden Gemeinschaften". Eine geschlechterkritische Analyse ehrenamtlicher Care-Arbeit für ältere Menschen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
260 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2242-6.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - Band 19.
Thematischer Hintergrund
Das deutsche Pflegesystem ist familienbasiert, die unbezahlte Arbeit von meist weiblichen Angehörigen ist seine größte Säule. Da diese Säule brüchig ist, wird im politischen Diskurs immer stärker die ehrenamtliche Arbeit oder „die sorgende Gemeinschaft“ für die Versorgung und Pflege eingefordert. Ob und wie aber auch das freiwillige Engagement zur Reproduktion geschlechtsspezifischer Ungleichheiten beiträgt, das wird in dieser Arbeit untersucht.
Autorin
Dr. Yvonne Rubin arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule Fulda. Die Publikation wurde 2018 vom hochschulübergreifenden Promotionszentrum Soziale Arbeit als Dissertation angenommen.
Aufbau und Inhalt
Nach einer Einleitung werden in den ersten beiden Kapiteln die gesellschaftlichen Strukturen analysiert, die geschlechtsspezifische Ungleichheitslagen (re) produzieren. Das dritte Kapitel widmet sich der Vergesellschaftung von Care Arbeit und den damit zusammenhängenden Problemen. Im vierten Kapitel werden methodologische Grundlagen und die methodische Anlage der Untersuchung vorgestellt. Das fünfte Kapitel umfasst die Ergebnisse der empirischen Untersuchung, die im letzten Kapitel an die theoretischen Überlegungen in den ersten Kapiteln zurückgebunden werden.
Der erste Teil der Arbeit nimmt eine makrosoziologische Perspektive ein. Transformationsprozesse der industriell kapitalistischen Gesellschaft werden in ihren Auswirkungen auf die Geschlechterverhältnisse dargestellt. Gestützt auf die Regulationstheorie werden die Veränderungen vom Fordismus zum Postfordismus analysiert: trotz des Wandels des Erwerbsmodells bleibt die Geschlechterungleichheit. Jetzt findet sie sich in der vertikalen und horizontalen Struktur des Arbeitsmarktes und der einseitigen Verteilung der Haus- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern zulasten der Frauen. Speziell geht die Autorin auf die Pflegeversicherung als sozialer Sicherungsstruktur ein: diese Versicherung bildet eine der Rahmenbedingungen, die auch das freiwillige Engagement in der Pflege betreffen. Sie beschreibt die Entwicklung dieser Versicherung in den verschiedenen Phasen und ihre Besonderheiten im Vergleich zu anderen Sozialversicherungen. Mit der Pflegeversicherung werden folgende Merkmale der Pflegeversicherung relevant: die Finanzierungskonzeption als Teilleistungsversicherung, die mit ihr einhergehende Einführung marktwirtschaftlicher Strukturen in die pflegerische Leistungserbringung sowie die klare Favorisierung der informellen häuslichen Versorgung. Die Pflegeversicherung setzt damit die geschlechtliche Arbeitsteilung voraus und reproduziert die mit ihr verbundene Ungleichheit der Geschlechter. Ebenso ist die Inanspruchnahme von Leistungen und die Inanspruchnahme von Versorgungsmöglichkeiten so definiert, dass sie zur Feminisierung der Armut beiträgt. Konkret: Während in der Regel die Ehefrauen den Ehemann bis zu dessen Tod zu Hause pflegen, bleibt diesen Frauen danach selbst oft nur der Weg in ein Pflegeheim und nicht wenige müssen dann die Hilfe zur Pflege aus der Sozialhilfe in Anspruch nehmen. Damit stehen ihnen nur noch Sachleistungen zur Verfügung und keine Mittel, über deren konkrete Verwendung sie selbst entscheiden können.
Im nächsten Schritt der Analyse steht die Tätigkeit des Sorgens im Vordergrund. Nach einer Erläuterung der Dimensionen des Care- Begriffs werden anerkennungstheoretische Überlegungen vorgestellt. Der Care Arbeit fehlt es an Anerkennung: auf der individuellen Ebene geht es dabei um die Anerkennung von erbrachten Tätigkeiten als Arbeit, deren Bezahlung und deren Absicherung bei Lebensrisiken, auf gesamtgesellschaftlicher Ebene geht es um die Anerkennung der sorgenden Arbeit als gesamtgesellschaftliche und nicht als private Arbeit. Auch die besondere Logik der Sorgearbeit wird nicht anerkannt sondern die Leistungserbringung wird betriebswirtschaftlichen Kostenkalkulationen unterworfen. Eine Arbeit, die bislang weitgehend dem kapitalistischen System entzogen war, wird zu einem Teil des Marktes. Diese Kommodifizierung der Pflegearbeit garantiert noch in keiner Weise deren gesellschaftliche Anerkennung: Die Kosten für diese Arbeit müssen vielmehr möglichst gering gehalten werden. Über die Leistungsdefinitionen der Pflegekasse werden Tätigkeiten in solche, die bezahlt werden, und solche, die nicht bezahlt werden, sortiert. Für die Analyse auf der Ebene des Subjekts greift die Autorin in diesem Kontext die von Axeli Knapp getroffene Unterscheidung von Arbeitskraft und Arbeitsvermögen auf. Damit kann gezeigt werden, dass in marktförmiger Arbeit nur ein Teil des Arbeitsvermögens, also die Arbeitskraft, verausgabt werden kann. Das Arbeitsvermögen geht jedoch über die Anforderungen in der tayloristisch definierten Care Arbeit im Minutentakt hinaus.
Hier liegt auch die Bedeutung, die dem freiwilligen Engagement im Pflegesystem zukommt. Mit freiwilliger Arbeit soll all das geleistet werden, was durch die Pflegeversicherung nicht abgedeckt ist: die Teilhabe pflegebedürftiger Menschen soll gesichert und es sollen neue Versorgungsformen in neuen Wohnformen etabliert werden, die jenseits der Familienarbeit stattfinden. Das freiwillige Engagement soll auch durch den Aufbau persönlicher Beziehungen die psychosozialen Bedürfnisse der zu pflegenden Menschen erfüllen, die in der professionellen Pflege nicht im Vordergrund stehen. So erscheint freiwilliges Engagement als notwendiges Element des „Wohlfahrtsmix“. Im Demographie-Diskurs werden die Potenziale des Alters fokussiert und es wird deutlich, dass beim Engagement für Care Arbeit vor allem auf die älteren Menschen gesetzt wird. Hier wird eine „win-win“ Situation beschworen: Ältere Menschen stärken durch freiwilliges Engagement ihre eigene Dynamik und Lebensfreude, und die vulnerablen ältere Menschen werden unterstützt, wo Markt, Staat oder Familie eine Lücke lassen.
Geschlechtsbezogene Ungleichheiten in diesem freiwilligen Engagement gibt es in quantitativer und qualitativer Hinsicht, wie empirische Studien zeigen: Freiwilliges Engagement in der Pflege wird zu 66 % von Frauen erbracht und Frauen übernehmen dabei mehr die direkte personenbezogene Arbeit, während Männer mehr sachliche Hilfe leisten. Bereits hier gibt es schon Unterschiede in der Anerkennung: die Arbeiten der Männer genießen ein höheres Ansehen als die der Frauen.
Die im letzten Teil vorgestellte eigene empirische Studie des freiwilligen Engagements für ältere Menschen im Rahmen von Bürgerhilfevereinen geht der Frage nach, wie sich hier Unterschiede zwischen den Geschlechtern zeigen und wie diese aufrechterhalten werden. Sie basiert auf sieben narrativen Interviews, zehn leitfadengestützten Interviews und teilnehmenden Beobachtungen von Vorstandssitzungen. Das Material wurde nach der Grounded-Theory-Methodologie ausgewertet. In der Auswertung stehen die Wahrnehmungen und Bedeutungen der Angebote und die Bedürfnisse der Nachfragenden im Mittelpunkt. Die Ergebnisse zeigen, dass es eine deutliche geschlechtliche Ungleichheit in diesen Formen des freiwilligen Engagements gibt: Die Angebote der Bürgerhilfevereine lassen sich nach zwei Arten unterscheiden: die „Hilfeleistungen“ und die „Angebote zur Gemeinschaftsbildung“. Hilfeleistungen sind Angebote, die in einem Leistungskatalog erfasst sind (z.B. Reparaturen, Einkaufshilfen, Fahrdienste, Besuchsdienste). Sie müssen bei einer Zentrale angefordert werden und wer sie leistet, wird nach den Regeln der Vereine auch entgolten (Punktesystem oder bar). Diese Angebote umfassen Tätigkeiten, die auch professionell angeboten werden (ambulante Dienste, Taxigewerbe, Haushaltshilfen). Diejenigen, die sie tun, setzen dabei ihre spezifische Arbeitskraft ein. Angebote zur Gemeinschaftsbildung sind demgegenüber regelmäßige Gelegenheiten, sich auszutauschen oder gemeinsam etwas zu unternehmen. Sie unterliegen keinerlei Formalitäten und verstehen sich als freies Angebot. Diese Tätigkeiten erfordern von denen, die sie leisten, den Einsatz des ganzen Arbeitsvermögens, also gehen bei den Anforderungen über die spezifische Arbeitskraft hinaus. Die Analyse der Bedeutung, die diesen beiden Arten von Angeboten zugeschrieben wird, ergibt eine deutliche Höherbewertung der Hilfeleistungen und eine Abwertung der gemeinschaftsfördernden Arbeit, die in die Nähe von „Freizeitaktivitäten“ gestellt werden. Tätigkeiten, die auf Resultate abzielen, sind männlich konnotiert und ihnen wird ein höherer Status beigemessen. Die Tätigkeiten, die der „Freude“ dienen und die sich in emotionaler Beziehungsarbeit konkretisieren, sind weiblich konnotiert und sind dem demgegenüber abgewertet. Sie werden gar nicht als Arbeitstätigkeiten wahrgenommen oder in ihrer Funktion für den Verein gewertet. Auch in der Analyse der Bedürfnisse der Nachfragenden wird deutlich, dass Bedürfnissen, die sich vor allem auf Kommunikation und soziale Kontakte beziehen, weniger Bedeutung zugemessen wird. Es besteht sogar die Vermutung, dass sich diese Bedürfnisse teilweise hinter der Inanspruchnahme von „Hilfen“ verbergen, z.B. wenn eine Einkaufshilfe angefordert, aber eigentlich nur eine Person zum „Sprechen“ gebraucht wird. Dies wird als illegitim angesehen und diese Hilfe erscheint dann als nicht lohnenswert. Offensichtlich sind es vor allem Frauen, die sich zu diesen Bedürfnissen bekennen, indem sie die Angebote zur Gemeinschaftsbildung annehmen.
Diskussion
Die Autorin spürt in ihrer Dissertation den geschlechtsspezifischen Ungleichheiten im freiwilligen Engagement nach. Sie ordnet zunächst diese Form der Arbeit in die Transformationsprozesse des Sozialstaates ein und bezieht sich dann auf das Feld der Altenpflege. Die Pflegeversicherung wird als ein bedeutsamer Rahmen untersucht, in dem die freiwillige Arbeit eingebettet ist. In der Debatte zur Care Arbeit findet sie Ansätze, die die geschlechtsbezogenen Ungleichheiten schon erfassen. Sie bietet an, die Kategorien „Arbeitskraft“ und „Arbeitsvermögen“ als analytischen Schlüssel für die Untersuchung weiterer Formen von Ungleichheit zu nutzen. Am eigenen Material kann sie dann zeigen, dass diese Kategorien hilfreich sind, die unterschiedliche Anerkennung von geschlechtlich konnotierten Tätigkeiten zu belegen und damit die Verstärkung typischer Geschlechterhierarchien. Der Verdienst dieser Arbeit liegt einmal in der theoretischen „Vorarbeit“, in der Darstellung der Verschränkung von Transformationsprozessen und der Vergesellschaftung von sorgenden Tätigkeiten und der damit einhergehenden geschlechtsbezogenen Ungleichheit. Dass sich diese Muster auch in der Meso- und Mikroebene von ehrenamtlich arbeitenden Bürgerhilfevereinen finden lässt und dass der Einsatz von Arbeitsvermögen geringer geschätzt wird als der von Arbeitskraft, wirft einen neuen Blick auf die so hoch gepriesene ehrenamtliche Arbeit für ältere Menschen. Es könnte daraus ein Warnsignal für die Gestaltung dieses freiwilligen Engagements entstehen: Eine sensible Interpretation der Bedürfnisse der Zielgruppe und ein ebensolcher Blick auf die vereinsinternen Auf- und Abwertungsprozesse könnten einen Schritt weiter in Richtung wirklich „sorgender Gemeinschaften“ führen. Allerdings ist es nicht so ganz leicht, diese wirklich praktische Konsequenz aus der vorliegenden Arbeit zu ziehen, da es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt und die Autorin bemüht ist, möglichst viele Strömungen und Ansätze zu berücksichtigen, was das Lesen und Verstehen nicht gerade erleichtert, trotz der vielen Zwischenfazits und Überblicke.
Fazit
Wer die Mühen, die wissenschaftliche Texte( oft) machen, nicht scheut, wird die Ergebnisse und Erkenntnisse, die diese Arbeit bietet, zu schätzen wissen. Eine verständlichere Kurzfassung in einem Aufsatz und Vorschläge zur Anwendung des hoch interessanten Wissens wären wünschenswert.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 46 Rezensionen von Barbara Stiegler.
Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 10.04.2019 zu:
Yvonne Rubin: Freiwilliges Engagement in "sorgenden Gemeinschaften". Eine geschlechterkritische Analyse ehrenamtlicher Care-Arbeit für ältere Menschen. Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2018.
ISBN 978-3-8474-2242-6.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - Band 19.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25361.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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