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Anja Röcke, Maria Keil et al. (Hrsg.): Soziale Ungleichheit der Lebensführung

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 02.04.2019

Cover Anja Röcke, Maria Keil et al. (Hrsg.): Soziale Ungleichheit der Lebensführung ISBN 978-3-7799-3755-5

Anja Röcke, Maria Keil, Erika Alleweldt (Hrsg.): Soziale Ungleichheit der Lebensführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 220 Seiten. ISBN 978-3-7799-3755-5. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.
Reihe: Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensführung.

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Thema

Nachdem die Frage der sozialen Ungleichheit in den letzten Jahren wieder zunehmend an Aktualität gewonnen habe, ist es Anliegen des Bandes, den Zusammenhang von Lebensführung und sozialer Ungleichheit in den Mittelpunkt zu rücken. Die kulturelle Norm der Individualität sei zum Referenzpunkt moderner Lebensführung geworden, was Max Weber nur für die Lebensführung in bestimmten Statusgruppen verwirklicht sah. In westlichen Wohlfahrtsgesellschaften richte sich der Imperativ „Lebe Dein Leben“ nun jedoch zunehmend grundsätzlich an alle und werde von einem Ideal zu einer praktisch zu bewältigenden Anforderung. Dabei zeigten sich aber gesellschaftliche Veränderungen, wie sie in der soziologischen Ungleichheitsforschung meist nur auf der Makro-Ebene und damit fern jeglicher gelebten Praxis untersucht würden. Hierzu wurden für den Band teils stärker sozialstrukturell und teils stärker kulturorientierte Beiträge ausgewählt. Nahezu alle beziehen sich dabei in irgendeiner Weise auf Hans-Peter Müllers Vorschlag aus dem Vorgängerband, Lebensführung einmal als abhängige und einmal als unabhängige „Variable“ zu betrachten.

Herausgeberinnen

Anja Röcke ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Allgemeine Soziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Maria Keil ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeits- und Forschungsbereich Geschlechterverhältnisse, Bildung und Lebensführung der Technischen Universität Darmstadt. Erika Alleweldt ist Professorin für Soziale Arbeit/Sozialpädagogik an der Hochschule für angewandte Pädagogik Berlin.

Entstehungshintergrund

Der Band hat eine längere Vorgeschichte. Er knüpft an an den Band „Erika Alleweldt, Anja Röcke, Jochen Steinbicker (Hrsg.) (2016): Lebensführung heute“ (https://www.socialnet.de/rezensionen/22851.php), in dessen Vorbereitung es 2011 aus Anlass des 60. Geburtstages von Hans-Peter Müller einen Workshop an der Humboldt-Universität gegeben hatte. Der nun vorliegende Band geht auf einen, anlässlich Hans-Peter Müllers 65. Geburtstages, wiederum von der Fritz-Thyssen-Stiftung geförderten Workshop am 13./14.Januar 2017 in Berlin zurück. Er beinhaltet einen Teil der auf dieser Tagung präsentierten Vorträge sowie einen weiteren Beitrag.

Aufbau

Nach einer sehr präzisen Einleitung von Keil, Röcke und Alleweldt „Zur sozialen Ungleichheit der Lebensführung – einführende und konzeptionelle Überlegungen“ gliedert sich der Band in zwei Teile: Teil I „Konzeptionelle Betrachtungen zu Lebensführung“ mit zwei Beiträgen und Teil II „Lebensführung im Spannungsfeld von Struktur und kulturellem Eigenwert“ mit insgesamt sieben eher empirischen Beiträgen.

Inhalt

In Teil I leuchtet Michael Makropoulos in seinem Beitrag „‘Lebensführung‘, ‚steuerloses Treiben‘ und ‚außengeleitete Lebensweise‘“ die zwei Seiten aus, die nach Hans-Peter Müllers Analyse den Begriff Lebensführung in Max Webers Werk bestimmen. Einerseits lege eine gesellschaftliche Konstellation eine bestimmte Art und Weise der Lebensführung nahe, die so weit gehen könne, dass Lebensführung vor allem Anpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse bedeute. Andererseits werde die ‚Fremdführung des Kapitalismus‘ zwar zur ‚Richtschnur in der Lebenswelt der Moderne‘, aber eben nicht zu ihrer Determinante, sondern Lebensführung könne auch als Bewältigungsstrategie von modernen Lebensbedingungen verstanden werden, die diese Autonomie – gegenüber einer Heteronomie – geradezu unverzichtbar mache. Hier sei Helmuth Plessner als Weiterführer einiger Motive von Weber zu verstehen, indem er eine anthropologische Begründung für das aktive Moment im Konzept der Lebensführung gegeben habe (Der Mensch lebt nur, indem er ein Leben führt). In Analogie zur Unbestimmtheits- oder Unschärferelation in der Quantenphysik (physikalische Realitäten stünden nach Werner Heisenberg etwa in der Mitte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit), ergebe sich auch für den Menschen einerseits ein Pol der Möglichkeitsseite, andererseits ein Pol der Wirklichkeitsseite, die Schranken und Grenzen setze (S. 24). Hier könne man Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“, den „Roman des Möglichkeitsmenschen“ (steuerloses Treiben) als „riesigen Kommentar zum Problem der Lebensführung in einer rationalisierten, entzauberten und vor allem von einem produktivistischen Geist beherrschten Welt lesen“ (S. 29). Wie die Herausgeberinnen zitierend resümieren, umfasse der „zutiefst aufklärerische Begriff der Lebensführung“ damit einerseits, in der Linie von Weber und Lukács, die „strukturellen Erfordernisse“ und „institutionellen Imperative“ an das Leben, andererseits aber auch, in der Linie von Riesman und Bourdieu, „diejenigen Aktivitäten, die insgesamt dazu führen, dass man diesen Platz überhaupt findet – oder erobert“ (S. 11).

Im anderen Beitrag in Teil I „Eigensinnige Lebensführung zwischen Fremd- und Selbstführung“ arbeitet Karin Lohr, ausgehend von arbeits- und geschlechtersoziologischen aktuellen Diskursen (Subjektivierung von Arbeit, Care-Arbeit), ihre zentrale These aus, es sei – wiederum in Anknüpfung an Hans-Peter Müller – von einem Wechselverhältnis von Fremd- und Selbstführung auszugehen. Hierzu wird die Originalliteratur rezipiert und anhand empirischer Belege geprüft, bevor dafür plädiert wird, an Webers Begrifflichkeit festzuhalten und das Konzept des „Eigensinn“ zu verwenden, um der Dialektik von Fremd- und Selbstführung näher zu kommen.

Im Teil II handeln die Beiträge von investitiver Statusarbeit der Mittelschicht (Olaf Groh-Samberg, Steffen Mau und Uwe Schimank), von postindustrieller Bürgerlichkeit (Cornelia Koppetsch), von der Lebensführung des ‚Refugiumsbürgertums‘ in der DDR nach der ‚Wende‘ (Karl-Siegbert Rehberg), vom „Mindset ‚Juvenilität‘“ (Nicole Burzan und Ronald Hitzler), von der hochgradig eigensinnigen Lebensführungspraxis von Milliardären, die sich zur Weltpolitik berufen fühlen (Peter Hägel), von der tschekistischen Lebensführung von ehemaligen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit (Uwe Krähnke) und der Lebensführung unter Angst (Heinz Bude).

Diskussion und Fazit

Die Herausgeberinnen entwickeln schon in der Einleitung ein analytisches Schema, um die enthaltenen Aspekte schärfer voneinander zu trennen und präsentieren hier – in Weiterführung eines Schemas von Hans-Peter Müller aus dem vorangegangenen Band – ein Schema mit vier Dimensionen (S. 10), in dem sich Lebensführung (und die eher empirischen Beiträge des Bandes, S. 12) nach Art einer Vierfeldertafel einordnen ließen. Eine Achse hat am oberen Pol ‚Soziale Strukturierung‘ und am anderen Pol ‚Kultureller Eigenwert‘, die dazu quer stehende Achse hat am linken Pol ‚Fremdführung‘ und am rechten Pol ‚Selbstführung‘. Hierin ließen sich die empirischen Beiträge gut einordnen, wobei alle vier „Kästen“ empirisch ausgefüllt werden. Dies zeigt letztlich die Verschränkung und dass die Dimensionen nicht vollständig voneinander unabhängig sind. Den Herausgeberinnen ist zuzustimmen, dass diese Konzeption und die verschiedenen empirischen Studien zur Lebensführung einen guten Ausgangspunkt darstellen, um das Verhältnis von Lebensführung und sozialer Ungleichheit weiter und systematischer zu erforschen. Sie schlagen hier als weitere Themen und Anwendungsfelder „Lebensführung im Konnex von Migration und Akkulturation und Formen gemeinschaftlicher (und alternativer) bis hin zur digitalen Lebensführung“ vor (S. 15). Diese Themenliste ließe sich sicher noch erweitern, wozu der empfehlenswerte Band eine gute Basis liefert.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management

Es gibt 28 Rezensionen von Thomas Elkeles.

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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 02.04.2019 zu: Anja Röcke, Maria Keil, Erika Alleweldt (Hrsg.): Soziale Ungleichheit der Lebensführung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. ISBN 978-3-7799-3755-5. Reihe: Wirtschaft, Gesellschaft und Lebensführung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25363.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.


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