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Rolf Ahlrichs: Demokratiebildung im Jugendverband

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 29.03.2019

Cover Rolf Ahlrichs: Demokratiebildung im Jugendverband ISBN 978-3-7799-3980-1

Rolf Ahlrichs: Demokratiebildung im Jugendverband. Grundlagen - empirische Befunde - Entwicklungsperspektiven. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 434 Seiten. ISBN 978-3-7799-3980-1. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 51,90 sFr.

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Heraus aus der Krise der Demokratie

Demokratie ist eine schwierige, aufwändige und anstrengende Regierungs- und Lebensform – weil sie, wie keine andere sonst, die eigenen, aktiven, individuellen und kollektiven Verstandes- und Vernunftkompetenzen braucht! Demokratielernen und Demokratiepädagogik zielen darauf, demokratisches Denken und Handeln schon ganz früh, immer wieder und lebenslang intellektuell, theoretisch und praktisch in Bildungs- und Erziehungsprozessen zu erwerben und zu leben. In bildungspolitischen Programmen, curricularen Konzepten und didaktisch-methodischen Anregungen wird darauf hingewiesen, dass Demokratiebildung des aufgeklärten Bewusstseins bedarf. Die Deutsche Gesellschaft für Demokratiepädagogik gibt seit 2012 das Jahrbuch „Demokratiepädagogik“ heraus. Darin kommt zum Ausdruck, dass Demokratie nicht nur Verfassungsanspruch und Regierungskonstitut ist, sondern vor allem Gesellschafts- und Lebensform (vgl. dazu: Helmolt Rademacher, Hrsg., Jahrbuch Demokratiepädagogik 4, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21432.php). Es ist die irritierende Erfahrung, dass Individuen und Gruppen, die in Demokratien leben, die demokratischen Werte entweder als allzu selbstverständlich wahrnehmen, sie nicht aktiv verteidigen, sondern Demokratiefeinden das Feld überlassen oder sich ihnen sogar anschließen ( siehe z.B. dazu: Yascha Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, www.socialnet.de/rezensionen/24188.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Der sozialwissenschaftlichen und sozialpädagogischen Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „Demokratie und Soziale Arbeit“ kommt im Fachgebiet Soziale Arbeit – und nicht nur dort – bisher kaum Aufmerksamkeit zu. Der am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Fachhochschule für Soziale Arbeit in Basel tätige Sozialwissenschaftler und Sozialpädagoge Patrick Oehler arbeitet Entwicklungslinien heraus, wie das Konzept der Demokratie im Fachgebiet Soziale Arbeit traditionell und modern, in Theorie und Praxis, professionell, programmatisch und methodisch eingebunden werden kann. Er legt „Handlungsleitlinien für eine demokratische professionale Praxis in der Sozialen Arbeit“ vor, die er als Bausteine für die immer bedeutsamer und notwendiger werdende, soziale Profession versteht (Patrick Oehler, Demokratie und Soziale Arbeit. Entwicklungslinien und Konturen demokratischer Professionalität, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25128.php).

Auch der Sozialpädagoge, Sozialmanager, Studienleiter am Ev. Bildungszentrum Hospitalhof und Lehrbeauftragte an der Ev. Hochschule Ludwigsburg, Rolf Ahlrichs, beklagt, dass im Allgemeinen der in der professionellen Sozialen Arbeit verwendete Demokratiebegriff unbestimmt benutzt wird, „so als ob klar wäre, wovon man redet, wenn man von Demokratie redet“. Auf diese Defizite macht er mit der an der Hamburger Universität 2018 angenommenen Dissertation „Demokratiebildung im Jugendverband. Zum Selbstverständnis von Jugendbildungsreferent*innen“ aufmerksam. Wenn Jugendverbände „Werkstätten der Demokratie“ sein wollen, wie dies in ihrem Selbstverständnis und Zielsetzungen zum Ausdruck kommt, wird die Frage bedeutsam: „Wie verstehen und gestalten (hauptamtliche, JS) Jugendbildungsreferent*innen ihren Auftrag zur Demokratiebildung und welche Erfahrungen machen sie dabei?“. Als Ziel der Forschungsarbeit nennt Ahlrichs, die Diskussion über Demokratiebildung in Jugendverbänden anzuregen, den selbst formulierten Anspruch der Jugendverbände zu rekonstruieren, Orte demokratischer Bildung zu sein, und damit die Erhaltung, Stärkung und Weiterentwicklung der institutionalisierten Einrichtungen zu befördern.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung mit der Darstellung der erkenntnisleitenden Fragestellung, Zielsetzung und der methodischen Vorgehensweise gliedert der Autor seinen Forschungsbericht in drei Teile: Im ersten (theoretischen) Teil formuliert er die theoretischen Grundlagen, indem er sich mit den Bedingungen und Zusammenhängen von Bildung und Demokratie auseinandersetzt und die Entwicklungen zur Demokratiebildung in der Jugendverbandsarbeit am Beispiel Baden-Württembergs diskutiert. Im zweiten (empirischen) Teil informiert er über die als diskursive Bildungsprozesse ausgewiesenen Konzepte und begründet mit der sozialpädagogischen Methode der „Handlungsphasenforschung“ die Absicht, „der Pädagogisierung von Beforschten durch ihre Verobjektivierung im Forschungsprozess eine konsequente Subjektorientierung in allen Phasen des Forschungsprozesses entgegenzusetzen“. Forschungsverlauf und -umfang werden entscheidend davon bestimmt, welche Auswahl der verschiedenen Formen von Jugendverbänden vorgenommen wird: Sportliche, religiöse, politische, helfende, ökologische und Jugendringe. Es sind Fragen, die sich aus dem Selbstverständnis der Zusammenschlüsse ergeben, wie z.B.: Weltanschauliche oder demokratische Bildung? – Mitbestimmung als Vorrang oder Anhängsel? – Politische oder Sachbildung? – Freiwilligkeit, Ehrenamt, Profession? Die Zielsetzung der Forschungsarbeit richtet sich ja nicht in erster Linie an Fragen zum engagierten, demokratischen Bewusstsein der Mitglieder in den verschiedenen Vereinen und Organisationen, sondern sie will Rolle, Aufgaben, professionelles Verständnis und Wirkungsweisen von Hauptamtlichen in ehrenamtlichen Jugendverbänden ermitteln. Mit dem Begriff „Gatekeeper“ charakterisiert der Autor die Position der Beforschten. Er weist nach, dass sich bei allen untersuchten Einrichtungen ein Ziel- und Funktionswandel vollzieht: Angebot und Kooperation, Präsenz und Begegnung, Organisation und Netzwerk. Bezogen auf die Frage, ob sich bei der Untersuchung des Selbst- und Funktionsverständnisses von hauptamtlichen Jugendbildungsreferent*innen allgemein aussagekräftige Charakteristika zeigen, differenziert der Autor im dritten Teil drei Typen von Demokratieverständnis und -erfahrung heraus: „Demokratie als Lebensform“ – „Demokratie als Regierungsform“ – „Demokratie als Lebens- und Regierungsform“. Obwohl hier keine Abgrenzungen vorgenommen werden können, und es fließende Übergänge gibt, kann die (lose) Kategorisierung doch dazu dienen, Erkenntnisse über die Handlungspraxis von hauptamtlichen Bildungsreferent*innen im Spagat „zwischen theoretischem Anspruch und gesellschaftlicher und verbandlicher Realität zu rekonstruieren“.

Fazit

Gemeinsam ist allen untersuchten kommunalen Jugendvereinen, Verbänden und Jugendbildungsreferent*innen, dass sie sich als Demokraten in demokratischen Einrichtungen verstehen. Dem Slogan „Gemeinsam mehr Demokratie wagen!“ fühlen sich alle verpflichtet; ebenso dem Ziel, demokratisches Bewusstsein und Verständnis bei Jugendlichen zu vermitteln. In der konkreten, praktischen Ausübung ihrer Funktionen und Tätigkeiten als hauptamtlich Tätige jedoch zeigen sich Unterschiede, die eine Problematisierung der demokratischen Bildungsarbeit nach sich ziehen; etwa bei der Frage, wie die Bildungsarbeit im öffentlichen Diskurs vertreten wird: Forciert oder zögerlich, aktiv oder passiv, selbstbewusst oder ängstlich… Es käme darauf an, dass sich die „Bildungsreferent*innen als Lotsen in der kommunalen Öffentlichkeit“ präsentieren.

In der Studie über das Selbstverständnis und die Funktionsausübung von hauptamtlichen Jugendbildungsreferent*innen in zwölf Stuttgarter Jugendverbänden und zwei Jugendringen in ihrer Praxis der Demokratiebildung zeigt sich zum einen, „dass Elemente deliberativer Demokratie in den befragten Jugendverbänden mindestens als ‚Keimformen‘ angelegt und zu entdecken sind“; das bedeutet andererseits auch, dass es Defizite gibt, Demokratiebildung im Jugendverband zu vermitteln. Angesichts der unstrittigen Auffassung, dass „die Jugendverbandsarbeit zu einem unersetzbaren Teil der Gesellschaft geworden ist und die Jugendbildungsreferent*innen zu wichtigen Akteur*innen der Demokratiebildung“ gehören, kommt es darauf an, auch in den Einrichtungen der Jugendbildung nach Wegen zu suchen, wie Demokratie gelebt werden kann. Rolf Ahlrichs zeigt mit seiner Studie Richtungen und Aktivitäten dazu auf.

Die Studie ruft nach weiterer Forschungsarbeit; etwa einem Vergleich und einer bundesländerübergreifenden Bestandsaufnahme des Theorie-Praxis-Bezugs; einer Untersuchung der Zu- und Widerstände im Verhältnis von Haupt-, Ehrenamtlichen und Mitgliedern; einer Auseinandersetzung mit rassistischen, nationalistischen, populistischen demokratiefeindlichen Organisationen …

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1574 Rezensionen von Jos Schnurer.

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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 29.03.2019 zu: Rolf Ahlrichs: Demokratiebildung im Jugendverband. Grundlagen - empirische Befunde - Entwicklungsperspektiven. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. ISBN 978-3-7799-3980-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25368.php, Datum des Zugriffs 20.03.2023.


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