Ute Gerhard: Für eine andere Gerechtigkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 08.05.2020

Ute Gerhard: Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik. Campus Verlag (Frankfurt) 2018. 403 Seiten. ISBN 978-3-593-50836-8. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR, CH: 42,60 sFr.
Thema
Wie ist das Verhältnis von formalem Recht und Gerechtigkeit, wie werden durch Recht und Gesetz Ungleichheiten zementiert oder überwunden, was ist das Verhältnis von positivem Recht und sozialen Bewegungen – diese Fragen haben Frauenbewegung und feministische Theorie seit ihren Ursprüngen begleitet und in einem doppelten Sinne angetrieben: Einerseits stellten und stellen gesetzliche Regelungen die Basis für Geschlechterungerechtigkeiten dar, anderseits war und ist das Recht sowohl normative Basis und als auch Vehikel, um diese zu überwinden. Dieses Spannungsverhältnis beschreibt Ute Gerhard in ihrer Publikation: Für eine andere Gerechtigkeit und mit dem Konzept einer anderen Gerechtigkeit ist vor allem Geschlechtergerechtigkeit gemeint. Zugleich schreibt hier aber auch eine Soziologin über Recht und argumentiert für ein sozial vermitteltes und für ein interdisziplinäres Konzept von Recht.
AutorIn
Ute Gerhard ist Soziologin und hatte an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main jahrelang eine Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung inne. Sie hat das Cornelia Goethe Zentrum für Frauenstudien und Erforschung der Geschlechterverhältnisse an der Universität mitgegründet, geleitet und maßgeblich mitgestaltet. Rechtskritik hat immer einen Schwerpunkt ihrer Arbeiten dargestellt und Ute Gerhard war in den neunziger Jahren eine der wichtigsten Protagonistinnen zur Debatte zu Frauenrechten und Menschenrechten und immer eine dezidierte Vertreterin einer universalen Konzeption der Menschenrechte.
Entstehungshintergrund
Der Band stellt die Rekapitulation bestimmter Denkbewegungen und sozialer Bewegungen zu Recht und Geschlechtergerechtigkeit dar und damit auch eine Synthese der Entwicklung der Autorin. Das Buch ist eigenständig komponiert, einzelne Beiträge beruhen auf an verschiedenen Stellen publizierten Beträgen der Autorin. Die Beiträge sind hier in einer – wenn auch weitläufigen – Denkbewegung zusammengestellt und dies macht den Band so interessant.
Aufbau
Der Band ist in drei große Teile gegliedert.
- In dem ersten Teil geht es um das Verhältnis der Frauenbewegung zum Recht. Zentral sind dabei die Konzepte von Geschlechterdifferenz und Geschlechtergleichheit, deren Verhältnis und dessen Folgen für das Recht. Aus der Perspektive der neuen Frauenbewegung werden die verschiedenen Ausgestaltungen des Feminismus und dessen Rechtskonzeptionen in nationalen und internationalen Diskursen rekapituliert und insbesondere auf die Debatte „Frauenrechte sind Menschenrechte“ fokussiert.
- Im zweiten Teil werden die rechtlichen Grundlegungen der Geschlechterungleichheit in Deutschland bzw. Europa seit dem 19. Jahrhundert dargestellt und die Rolle des Rechts im Kampf dagegen rekapituliert. So geht um die Bedeutung des Familienrechts bzw. die Rolle des Privatrechts für die Rechts(un)gleichheit von Frauen, um den Kampf m das Wahlrecht, die europäische Rechtsordnung und um Gewalt gegen Frauen.
- Im dritten Teil werden soziologische Perspektiven auf Recht und Gerechtigkeit dargestellt. Dieser Teil umfasst ein Kapitel feministische Traditionen in der Soziologie, feministische Perspektiven auf Ehe und Familie und die Debatten zu Care und Demokratie. In einem Fazit „Eine andere Gerechtigkeit“ fasst die Autorin ihre Anliegen noch einmal zusammen.
Inhalt
Gedanklich hat der Band verschiedene Ausgangspunkte. Erstens ist das Konzept zentral, dass nicht nur die Menschenrechte, sondern Recht allgemein immer in Verbindung zu spezifischen Unrechtserfahrungen zu sehen ist und dass alle Rechtsordnungen letztlich auch das Ergebnis sozialer und politische Bewegungen sind und daher das Recht auch immer wieder Gegenstand kritischer Hinterfragung durch soziale und politische Bewegungen sein muss. Dies wird vor allem in den Kapiteln über die verschiedenen Etappen der Frauenbewegung verdeutlicht. Recht ist nicht nur eine legale sondern eine soziale und politische Kategorie und als solches gemacht und veränderbar.
Eine weitere gedankliche Grundlage stellen die vielfach hinterfragten, von Gerhard aber als unhintergehbar bezeichnete Konzepte von Freiheit und Gleichheit als normative Basis und Antriebskraft für feministische Bewegungen dar. Gerhard schreibt, trotz aller postkolonialen und queeren Kritik „Das Rechtsprinzip der Gleichheit, das gleiche Rechte trotz und angesichts der Verschiedenheit der Menschen gewährleisten soll, ist unter den Menschenrechten immer als radikalste oder gar ungehörige Forderung betrachtet worden, denn sie greift bestehende Herrschaftsverhältnisse, überkommene Ordnungen und Privilegien und vor allem soziale Ungerechtigkeit an“. (352).
Anschließend konstatiert Gerhard aber, dass das, was Gleichheit bedeute, nicht für immer und ewig festgelegt sei und Gleichheit nicht als festgelegte Norm, sondern als „dynamisches und kritisches Maß“ betrachtet werden sollte. Dies stellt eine weitere gedankliche Grundlage dar, denn die Frage nach der Gleichheit führt zu der Frage, was Geschlechtergleichheit wirklich bedeutet und wo die Möglichkeiten und Grenzen einer Gleichberechtigungspolitik liegen. Diese Aspekte werden insbesondere in den ersten beiden Kapiteln des ersten Teils ausgeführt. Die Kontextualität von Gleichheitskonzepten wird aber auch in dem Kapitel über Care sehr deutlich. Gerhard rekapituliert hier die insbesondere von Joan Tronto geführte Debatte zur Bedeutung von Sorgearbeit und plädiert dafür, Fürsorglichkeit oder Sorgearbeit als eine demokratische Praxis zu sehen. Sie folgt Tronto darin, dass wir eine Neubestimmung des Autonomiegriffs brauchen und in diesen die Orientierung an Anderen als ein der individuellen Autonomie nicht widersprechendes Moment eingehen muss.
Diskussion
Der Band stellt eine beeindruckende Rekapitulierung des Verhältnisses von Recht, sozialen Bewegungen und Geschlechterverhältnissen im Europa des 20. und 21. Jahrhunderts dar und führt zu den normativen Grundlagen feministischer Bewegungen zurück. Er gibt einen sehr guten Überblick über genderspezifische Gleichheitsdiskurse und ihr Verhältnis zu rechtlichen Perspektiven. Er zeigt auch sehr deutlich, wie wichtig Fragen nach Geschlechterdifferenzen für das Konzept der Geschlechtergleichheit sind. Zwar wird in dem Band immer wieder Bezug genommen zu postkolonialen und queeren Debatten und zur Kritik von Eurozentrismus und Rassismus im Kontext von Menschenrechte und formaler Rechtskonzepte, aber mit dieser Kritik setzt sich die Autorin nicht wirklich auseinander. Sie geht auch wenig auf andere Ungleichheiten wie beispielsweise Ethnizität oder Religion ein. Damit stellt der Band eine letztlich innereuropäische Ausbuchstabierung einer „anderen Gerechtigkeit“ dar.
Fazit
Als Fazit kann festgehalten werden, dass in dem Band sehr deutlich wird, was ein „soziologisch informiertes Verständnis“ von Recht ausmacht. Gerhard zeigt auf, wie welche Bedeutung das Rechtsprinzip der Gleichheit hinsichtlich der Gender-Frage hat und inwiefern Gleichheit ein relationales Prinzip darstellt. Die Autorin zeigt plastisch, welche Rolle Rechtslehren und Rechtskonzepte für die Geschlechterverhältnisse spielen. Sie argumentiert dafür, die Analyse der Begründung und Verteidigung von Gewaltverhältnissen und hierarchischen Geschlechterordnungen in Geschlechterstudien einzubeziehen ebenso wie die an den Rechtsprinzipien der Freiheit und Gleichheit festzuhalten. Dieser sehr multiperspektivische Zugang wird in beeindruckender Klarheit in dem Band durchgehalten. Dieser Band gibt damit jenen, die diese Debatten Forscher*innen und Aktivist*innen, die diese Debatten nicht erlebt haben, einen sehr guten Einblick und allen eine Orientierung darüber, was eine andere Gerechtigkeit beinhalten könnte.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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Es gibt 38 Rezensionen von Nausikaa Schirilla.
Zitiervorschlag
Nausikaa Schirilla. Rezension vom 08.05.2020 zu:
Ute Gerhard: Für eine andere Gerechtigkeit. Dimensionen feministischer Rechtskritik. Campus Verlag
(Frankfurt) 2018.
ISBN 978-3-593-50836-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25378.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.
Urheberrecht
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