Thomas Maier, Naser Morina et al.: Trauma – Flucht – Asyl
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 19.02.2019
Thomas Maier, Naser Morina, Matthis Schick, Ulrich Schnyder: Trauma – Flucht – Asyl. Ein interdisziplinäres Handbuch für Beratung, Betreuung und Behandlung. Hogrefe AG (Bern) 2019. 536 Seiten. ISBN 978-3-456-85829-6. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 65,00 sFr.
Entstehungshintergrund und Thema
Viele der Geflüchteten und Asylsuchenden, die in den vergangenen Jahren in Deutschland Schutz gesucht haben, sind durch die Bürgerkriegssituationen in ihren Herkunftsländern und/oder ihre Erfahrungen auf der Flucht traumatisiert und bedürfen besonderer Unterstützung. Die ungewissen Zukunftsperspektiven hier, die Vielzahl neuer Anforderungen und die teilweise jahrelange Trennung von ihren Familien, belasten diese Menschen zusätzlich. Jugend- und Familienhilfe, Bildungs- und Beratungsinstitutionen sind deshalb häufig vor neue Anforderungen gestellt, auf die sie nur unzureichend vorbereitet sind. Zwar sind in der letzten Zeit mehrere Publikationen zur Beratung und Therapie dieser Zielgruppen erschienen, viele von ihnen erwiesen sich indes bei näherem Hinsehen als pragmatische „Schnellschüsse“, um die Nachfrage zu bedienen. Umso erfreulicher ist deshalb, dass jetzt mit dem vorliegenden Band ein fundierter und differenzierter Überblick über den gegenwärtigen Stand von Forschung und Praxis zum Thema vorliegt.
Die HerausgeberInnen betonen bereits in ihrer Einleitung, dass angesichts der komplexen Problemlage vieler traumatisierter Menschen mit Fluchterfahrung eine ganzheitliche Perspektive erforderlich ist. „Sprachschwierigkeiten, aber auch die soziale und rechtliche Marginalisierung führen oft dazu, dass die bio-psycho-sozialen Folgen sequentieller Traumatisierung bei Asylsuchenden und Geflüchteten nicht diagnostiziert und adäquat behandelt werden. Da derzeit viele die Einwanderung und Integration von Migranten als Problem, ja als Ärgernis empfinden, fehlen zumindest in gewissen Kreisen der politische Wille und teilweise auch die Mittel, um eine professionelle Abklärung, Behandlung und Betreuung zu gewährleisten. (…) Die Psychotherapie mit Folter- und Kriegsopfern greift daher weit über das Feld der psychotherapeutischen Techniken und Praktiken hinaus und bezieht politische, historische, soziale, philosophische, religiöse und spirituelle Zusammenhänge mit ein.“ (24f)
Aufbau
Diesem umfassenden Anspruch geht der vorliegende Band in drei Abschnitten nach:
- Grundlagen Trauma – Flucht – Asyl (7 Beiträge)
- Gesundheit – Versorgung und Integration (10 Beiträge)
- Behandlung von Traumafolgestörungen (11 Beiträge)
Ein Ausblick der HerausgeberInnen schließt den Band ab.
1. Grundlagen Trauma – Flucht – Asyl
Dieser Abschnitt wird eröffnet mit anschaulichen Fallberichten und Erfahrungen aus erster Hand. Das sich anschließende Kapitel „Geschichtlicher Überblick: Psychotraumatologie, Krieg, Flucht und Migration“ skizziert zunächst Befunde aus den zwei Weltkriegen und des Holocaust. Im Fokus dieses Beitrags stehen die Entdeckung der „posttraumatischen Belastungsstörung“ und deren wachsende Bedeutung durch Migration und Flucht. Im folgenden Abschnitt „Der rechtliche Kontext von Flucht und Asyl“ werden sehr knapp und allgemein die Grundzüge von Asylverfahren referiert, ohne allerdings auf nationale Besonderheiten des Asylrechts einzugehen.
Die weiteren Beiträge skizzieren prägnant weitere relevante Aspekte des Kontextes der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten. Sie beschreiben den „postmigratorischen Stress“ durch Lebenssituation und unklare Perspektiven und Erwartungen im Gastland als erschwerenden Einflussfaktor für Begleitung und Therapie Geflüchteter und widmen sich ausführlich und systematisch der Rolle von Dolmetschern und Sprache in diesem Prozess. Der Abschnitt schließt mit grundsätzlichen Überlegungen zur notwendigen kulturellen Kompetenz und Transkulturalität in diesem Hilfeprozess und verweist dezidiert auf strukturelle Voraussetzungen einer erfolgreichen Arbeit mit der Zielgruppe.
2. Gesundheit, Versorgung und Integration
Folgerichtig und konsequent geht dieser zweite Teil des Bandes der Frage nach, durch welche Strukturen, Hilfsangebote und Strategien die Kontextbedingungen des Lebens der Geflüchteten hier positiv beeinflusst werden können, um den „postmigatorischen Stress“ zu reduzieren und deren alltägliche Lebensbedingungen zu normalisieren. Themen wie die „Unterbringung und Betreuung von Geflüchteten“, die „Arbeitsmarktintegration von anerkannten Flüchtlingen und Geduldeten“, deren „Allgemeinmedizinische und hausärztliche Behandlung“ und „Rechtsberatung für Aslysuchende“ werden ebenso diffrenziert und praxisbezogen abgehandelt, wie die Bedeutung von Schule und Bildung für die Kinder von Geflüchteten, die Rolle von Sozialer Arbeit mit Asylsuchenden und Flüchtlingen und die besondere Situation traumatisierter Kinder und Jugendlicher.
Dieser außerordentlich breit gespannte Rahmen löst produktiv und sachgerecht den eingangs von den HerausgeberInnen formulierten Anspruch ein, eine umfassende und ganzheitliche Perspektive auf die Lebenssituation Geflüchteter einzunehmen und den beschränkten Rahmen rein therapeutischer Zugänge zu überwinden
3. Behandlung von Traumafolgestörungen
In diesem dritten Teil des vorliegenden Bandes schließlich geht es um unterschiedliche Zugänge, Formen und Methoden der Therapie der Traumafolgestörungen Geflüchteter. Der einleitende Beitrag dieses Abschnittes benennt anschaulich die „Prinzipien und Besonderheiten der Psychotherapie traumatisierter Geflüchteter“ und leitet daraus plausibel Konsequenzen für den therapeutischen Umgang ab. Diese Ausführungen sind als „Koordinaten“ für die Beurteilung und Einordnung der folgenden Beiträge zu lesen.
Diese beschreiben verständlich und in einer guten Balance von theoretischen Grundlagen und praktischem Vorgehen entweder unterschiedliche Handlungsansätze (kognitiv-verhaltenstherapeutische Psychotherapie, körperorientierte Ansätze, Schmerztherapie), wichtige Teilaspekte (Screening und Psychodiagnostik, psychodynamische Aspekte, stationäre Behandlung. Umgang mit Religiosität und Spiritualität, der Einsatz digitaler Medien in der Therapie) oder Kinder- und Jugendliche als spezielle Zielgruppe therapeutischen Bemühens.
Der letzte Beitrag dieses Abschnittes „Indirekte Traumatisierung – die emotionalen Kosten der Arbeit mit traumatisierten Flüchtlingen“ greift ein wichtiges Thema auf, das leider meist ausgeklammert bleibt: die Frage, wie Fachkräfte damit umgehen und sich davor schützen können, dass das Leid, von dem sie in der Therapie erfahren, auch Wirkungen auf sie als Helfende hat. Die Autorin dieses Beitrages weist mit Nachdruck darauf hin, dass die konstruktive Verarbeitung dieser Wirkungen die „Gewährleistung ausreichender Aus- und Weiterbildung, Supervision, Selbst- und Teamfürsorge sowie geeigneter organisatorischer Rahmenbedingungen“(496) voraussetzt.
In ihrem abschließenden Beitrag „Trauma – Flucht – Asyl: Schlussfolgerungen und Ausblick“ betonen die HerausgeberInnen einmal mehr, wie wichtig aus ihrer Sicht ein umfassender Blick ist: „ Themen wie Scham, Schuld, moral injury, eigene Täteranteile, familiäre Verantwortung und transgenerationale Weitergabe von traumatisch geprägten Symptomen, Ansichten und Verhaltensmustern gehen über ein einfaches Angst-Paradigmas hinaus und verlangen nach differenzierter Auseinandersetzung im Rahmen der Behandlung“ (501). Aber auch die konkreten Kontextbedingungen der aktuellen Lebenssituation müssen nach Kräften positiv beeinflusst werden. „Rechtliche Einschränkungen, Sprachbarrieren, Informationsdefizite, eingeschränkter Zugang zu materiellen und sozialen Ressourcen können zu subjektiv enorm belastenden Alltagsproblemen werden, vor allem auf dem Hintergrund früherer Bedrohungen: Wenn Menschen durch negative, gar traumatisierende Erlebnisse geschwächt sind, wirken solche Umgebungsbelastungen besonders destabilisierend.“ (502)
Fazit
Der vorliegende Band bietet in der Zusammenschau aller Beiträge einen überzeugenden Überblick über den aktuellen Stand der Forschungen und Diskurse zu den Themen Trauma, Flucht und Asyl. Die einzelnen Beiträge sind durchgängig klar und verständlich abgefasst und bieten durchweg eine gute Balance zwischen theoriegeleitetem Diskurs und praktischen Hinweisen. Das Bestechende an der Auswahl und Kombination der Beiträge erscheint mir der breite, weit gesteckte thematische Rahmen zu sein, verbunden mit dem Bemühen, die Lebenswelt der Geflüchteten in ihrer Vielfalt und Differenzierung multiperspektivisich zu erfassen. Insofern ist dieses Handbuch Studierenden und Berufsanfängern ebenso zu empfehlen wie erfahrenen Fachkräften und TherapeutInnen.
Einschränkend ist allerdings darauf hinzuweisen, dass einige wenige Beiträge vermutlich nur eingeschränkt hilfreich für einige Leserinnen und Leser sein werden: die Autorinnen und Autoren dieses Bandes stammen aus Deutschland, der Schweiz und Österreich und beschreiben ihre Praxis vor ihrem länderspezifischen Hintergrund.
Das ist bei der Beschreibung von therapeutischen Ansätzen, Methoden und praktischem Vorgehen vermutlich nicht weiter problematisch, wird allerdings um Problem, wenn es um die Darstellung rechtlicher Grundlagen, spezifischer Arbeitsstrukturen und Verfahren geht, die nicht selten länderspezifisch sehr unterschiedlich ausfallen können.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 19.02.2019 zu:
Thomas Maier, Naser Morina, Matthis Schick, Ulrich Schnyder: Trauma – Flucht – Asyl. Ein interdisziplinäres Handbuch für Beratung, Betreuung und Behandlung. Hogrefe AG
(Bern) 2019.
ISBN 978-3-456-85829-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25387.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.
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