Bernd Stegemann: Die Moralfalle
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 11.03.2019

Bernd Stegemann: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Matthes & Seitz (Berlin) 2018. 205 Seiten. ISBN 978-3-95757-712-2. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 22,90 sFr.
Thema
Welchen Stellenwert kann Identitätspolitik in einer „linken“ Programmatik beanspruchen? Welche Folgen zeitigt Political Correctness? Wie sollten Verteidiger des Grundgesetzes mit Vertretern rechter Parteien umgehen? – Das sind die Fragen, die in der vorliegenden Publikation behandelt werden. Diese politischen Fragen verbindet aus Sicht des Verfassers die problematische Tendenz zum Moralisieren. Politik gerate damit in die „Moralfalle“.
Autor
Bernd Stegemann ist Professor an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, Dramaturg am Berliner Ensemble und Mitinitiator der linken Sammlungsbewegung „Aufstehen“. Er hat außerdem Essaybände zu verwandten Themen (u.a. über Populismus) veröffentlicht.
Aufbau und Inhalt
Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige und differenzierte Inhaltsverzeichnis.
Vorausgeschickt werden muss, das das Buch essayistischen Charakter hat und wohl als Diskursintervention verstanden werden soll.
Eine Parabel eröffnet den „Prolog“. Das Märchen vom Wettlauf zwischen Hase und Igel soll zeigen, was unter einer „Moralfalle“ zu verstehen ist, das Problem einer Kommunikationsstrategie nämlich, die zum Beispiel der Kritik an Fremdenfeindlichkeit wenig nützt. Außerdem verdeutlicht der Verf., was er unter paradoxer Kommunikation versteht, ein analytisches Konzept, das im Folgenden das ganze Buch durchzieht. Auch mit der Kritik an jeder Art von Identitätspolitik, die als paradox dargestellt wird, wird ein thematischer Fokus der folgenden Ausführungen angezeigt.
Unter der Überschrift „Was ist moralisch?“ wird systemtheoretisch argumentiert, es sei unsinnig, die Moral in Systemen zur Geltung bringen zu wollen, weil deren „Codierung“ (Beispiel Wirtschaft) ihr fremd sei (25). Daher „der blinde Fleck der Moral“. Die Machtlosigkeit der Moral nötigt nach Stegemann zum Moralisieren (44).
Das Kapitel „Moralische Paradoxien unserer Zeit“ eröffnet der Verf. mit der Unterscheidung zwischen „Widersprüchen“ im marxistischen Sinn und Paradoxien, zu denen gesellschaftliche Widersprüche zunehmend umgebaut würden (48). Dabei sieht der Verf. die Ideologie der Postmoderne am Werk. Unter anderem wird die Formel vom „Unternehmer seiner selbst“ aufgespießt (56). Auch die deutsche ‚Vergangenheitsbewältigung‘ entlarvt der Verf. als paradox.
In „Die Wege der Freiheit“ unterscheidet Stegemann verschiedene Varianten des Liberalismus. Im Kern geht es darum zu zeigen, dass eine liberale Politik, die Minderheitenansprüche zu sehr stärkt, eine Entsolidarisierung begünstigt (90).
Dieser Gedanke wird im Kapitel „Linke Diskurse und die Moral“ wieder aufgegriffen, wo die Identitätspolitik gezielt aufs Korn genommen wird. Auch Political Correctness wird der Kritik unterzogen, wobei der Verf. zu bedenken gibt, dass sie Menschen ausschließe, die den Code nicht beherrschen. Der Verf. registriert einen Hang zur „Kränkung“ bzw. zum Gekränktsein, speziell im Hinblick auf die Praktiken in Sozialen Medien.
„Das Theater der öffentlichen Stimmen“ handelt von der zwangläufig verfehlten Verständigung zwischen „Moralisten“ und „Realisten“. Vor allem will Stegemann aber nachweisen, dass „Moralisten“ in der Migrationsdebatte sich selbst auf lange Sicht die Möglichkeiten humanitären Handelns nehmen.
Im Kapitel „Das Talkshow-Paradox“ wird zunächst die Dramaturgie von Talkshows beleuchtet. Wieder ist die Kommunikation zwischen „Moralisten“ und „Realisten“ Thema. Nun wird ersteren eine fragwürdige Ermächtigung zugeschrieben, weil sie sich anmaßen, „darüber zu entscheiden, welche Art der Realitätsbeschreibung öffentlich zugelassen ist und welche nicht“ (168). Zur Stärkung seiner Argumentation zieht Stegemann die Rahmenanalyse von Goffman heran. Denn schon die moralische Rahmung entscheide über den Wert einer Aussage (173).
Abgeschlossen wird das Buch mit dem Plädoyer „Für eine neue Aufklärung“, wo Stegemann die Ziehung einer „scharfen Diskursgrenze“ gegenüber der AfD für kontraproduktiv erklärt (179 f.) und an einem Beispiel linke „Doppelmoral“ entlarvt.
Es folgt noch ein Nachwort zur Sammlungsbewegung „Aufstehen“.
Diskussion
An manchen Punkten möchte man dem Autor zustimmen. Und das Buch hätte zur kritischen Selbstreflexion anregen können, wenn sich der Autor etwas kürzer gefasst hätte. Aber die endlose, in Variationen wiederholte Polemik gegen die „Moralisten“ ermüdet. Dazu kommt, dass die scheinbar messerscharfe Argumentation der Überprüfung oft nicht standhält. Ein Beispiel: „Der paradoxe Befehl der Identitätspolitik lautet: Nimm mich in meiner Besonderheit wahr und zeige mir zugleich, dass dieser Unterschied für dich keinen Unterschied bedeutet“ (94 f.). Das Paradox ergibt sich nur, wenn zwischen den zwei Bedeutungen von Unterschied nicht differenziert wird, z.B. zwischen dem Unterschied der sexuellen Orientierung und unterschiedlicher Rechtsstellung oder Achtung. Der Schwule beispielsweise will, dass er in seiner Besonderheit wahrgenommen und ungeachtet dessen gleich behandelt und geachtet wird wie jeder andere Zeitgenosse. Der Begriff Identitätspolitik wird außerdem völlig undifferenziert gebraucht, ungeachtet der Unterschiede zwischen den sozialen Bewegungen (84). Ärgerlich ist auch der Wechsel der Argumentationsebenen (z.B. von der Kritik der Doppelmoral zu der am „privilegierten Teil der Gesellschaft“, 184). Vor allem gegen Schluss steigert sich der Autor stellenweise in pauschalisierende Polemik (z.B. 181 f.). Nur noch den Kopf schütteln konnte der Rezensent aber über folgende Passage: Stegemann zitiert zustimmend einen David Miller, der „Belege“ dafür zu haben glaubt, „dass dann, wenn Gesellschaften ethnisch oder kulturell vielfältiger werden, das Maß an Vertrauen tendenziell abnimmt“ (137), wenn nämlich nicht jeder „sich fair verhält, ehrlich seine Steuern bezahlt und sich keine Vorteile erschleicht“ (ebd.). Ja, diese Fremden! Stegemann beruft sich ohne Bedenken auf dieses Urteil, ohne ein Wort über die Steuervermeidungstricks der Weltkonzerne.
Fazit
Die „klarsichtige Analyse“, die Sahra Wagenknecht im Klappentext ankündigt, ist es nicht. Eine identitätspolitisch beeinflusste Tendenz zum Moralisieren gibt es heute anscheinend tatsächlich. Aber sie wird von dem Kunsthistoriker Rauterberg (2018) klarer aufgezeigt und auch belegt.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 11.03.2019 zu:
Bernd Stegemann: Die Moralfalle. Für eine Befreiung linker Politik. Matthes & Seitz
(Berlin) 2018.
ISBN 978-3-95757-712-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25401.php, Datum des Zugriffs 25.09.2023.
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