Jochen Fuchs: Auschwitz als eine moralische Anstalt betrachtet
Rezensiert von Prof. Dr. Bernhard M. Hoppe, 06.05.2019

Jochen Fuchs: Auschwitz als eine moralische Anstalt betrachtet. Mitteldeutscher Verlag (Halle (Saale)) 2019. 232 Seiten. ISBN 978-3-96311-125-9. D: 15,00 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 21,00 sFr.
Thema
Die Auffassung, dass die Begegnung mit den sogenannten authentischen Orten der nationalsozialistischen Herrschaft, für die Auschwitz als weltweites Paradigma gilt, für Jugendliche und junge Erwachsene besonders eindrücklich ist, wird in der Bildungslandschaft ausnahmslos anerkannt. Die hier vorgelegte Studie versucht erstmals, für einen Teilbereich der Gesellschaft diese These langfristig mit empirischen Daten zu untermauern. Sie ist damit ein Desiderat der Forschungslandschaft.
Autor
Der Autor, Prof. Dr. Dr. Jochen Fuchs, vertritt am Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien der Hochschule Magdeburg-Stendal das Lehrgebiet Recht. Von seinen früheren Publikationen ist insbesondere der Titel „Auschwitz in den Augen seiner Besucher“ (Magdeburg 2003) einschlägig.
Entstehungshintergrund
Der Autor unternimmt seit 1994 mit Studierenden Fahrten zu Gedenkstätten, insbesondere nach Auschwitz. Seine Erwartungen und die empirisch belegbaren Einschätzungen der Teilnehmenden präsentiert er in dem vorliegenden Band.
Aufbau
Die Publikation untergliedert sich in die folgenden, auch argumentativ aufeinander aufbauenden Abschnitte:
- „Untersuchung der TeilnehmerInnen der Gedenkstättenfahrten
- Befragung von Studierenden im ersten Studienjahr
- Befragung von TeilnehmerInnen der Gedenkstättenfahrt
- Vergleich Teilnehmer*Innen der Gedenkstättenfahrten versus Studierende im ersten Studienjahr“ (Seite 5f)
Inhalt
Zusammenfassend zieht der Band das Fazit, dass die Teilnahme an einer Gedenkstättenfahrt nach Auschwitz „überraschend“ (Seite 165) keine fundamentalen Wirkungen auf die Teilnehmenden gezeigt hat. Der Autor führt dies in erster Linie auf die spezifische Zusammensetzung der Teilnehmerschaft zurück. Darüber hinaus seien die Motivationslagen der Studierenden sehr heterogen, sodass zwangsläufig auch kein einheitliches Ergebnis festgestellt werden kann. Trotzdem berichten die Befragten mehrheitlich, dass sie die Exkursion subjektiv stark beeindruckt hat. Dies ist ein Beleg für die mehr emotionale und das Nachdenken befördernde Seite, die mit der Konfrontation mit den nationalsozialistischen Verbrechen verbunden ist. Dies drückt sich auch in der gestiegenen Wahlbeteiligung der Befragten aus.
Sowohl die Exkursionsteilnehmenden aller Jahrgänge als auch die vergleichsweise später das Studium aufnehmenden Personen zeigen im Vergleich zu früheren Jahren eine gesteigerte Affinität zu Nationalsymbolen (z.B. dem Brandenburger Tor). Auch die positiven Einschätzungen der militärischen Aktivitäten der Bundesrepublik sind deutlich gestiegen. Im Gegensatz zu den Erstsemestern, die die hauptsächliche Verantwortung bei den Naziführern sahen, gaben die Exkursionsteilnehmer verstärkt „dem deutschen Volke“ (Seite 168) die Schuld für die Judenverfolgung. Auch die Sensibilität für die besondere Verantwortung der Deutschen aus ihrer Geschichte steigt durch den Besuch in Auschwitz an, allerdings hat sich diese Einschätzung auch generell in den zurückliegenden Jahren durchgesetzt. Dies ist einer der zahlreichen Hinweise, die deutlich machen, dass kaum abgrenzbar ist, welche Veränderungen dem Gedenkstättenbesuch zuzuschreiben sind und welche Veränderungen den allgemein gesellschaftlich verbreiteten Meinungen zuzuschreiben sind. Die Ablehnung des Statements, dass man nicht mehr so viel über den Nationalsozialismus reden sollte, nimmt bei den Teilnehmenden der Exklusion zu, ebenso die Sensibilität für den Rechtsradikalismus und das Bedürfnis nach Solidarität mit Minderheiten.
Diskussion
Der erste Satz des Buches stellt bereits klar, dass es sich um eine nicht repräsentative Studie handelt. Die Untersuchungsgesamtheit umfasst Studierende des Fachbereichs Soziale Arbeit, Gesundheit und Medien an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Es handelt sich damit um einen spezifischen Ausschnitt der Gesellschaft, oder wie sich der Autor ausdrückt, um das „Missionieren von Missionaren“ (Seite 17). Andererseits ist aber auch zu bedenken, dass es sich bei den zukünftigen Sozialarbeitern auch um Multiplikatoren handelt, die nicht unwesentlich auf breitere Schichten der Gesellschaft Einfluss nehmen können.
Die im Literaturverzeichnis und die in den Fußnoten verzeichnete Literatur ist ein guter und aktueller Überblick über den Forschungsstand. Zwei Anhänge machen die Arbeitsweise nachvollziehbar.
Wiederholt waren zumindest im Rezensionsexemplar Seiten mehrfach (z.B. die Seiten 15 und 25) eingebunden. Auch die wechselnde Schreibung zwischen „TeilnehmerInnen“ und „Teilnehmer*Innen“ – schon im Inhaltsverzeichnis – zeugt nicht gerade von redaktioneller Sorgfalt.
Die immer wieder aufgegriffene Terminologie des Damaskuserlebnisses, das die Teilnehmenden bei der Besichtigung von Gedenkstätten vom Saulus zum Paulus macht oder nicht macht, mutet merkwürdig an, gerade in einem mehrheitlich nichtkonfessionellen Umfeld, wie die Erhebungen wiederholt bestätigen. Auch das wiederholte Sprechen von den „Wessis“ ist einer wissenschaftlichen Publikation nicht angemessen.
Fazit
Der Titel der Publikation weckt Erwartungen: Unter dem Titel „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ veröffentlichte Friedrich Schiller eine Rede, die er am 26. Juni 1784 vor der kurpfälzischen Deutschen Gesellschaft gehalten hatte. Schillers Leitfrage lautete: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich bewirken?“ Die durch die Ergebnisse seiner Befragungen wohlbegründete Antwort des Autors im Hinblick auf die besuchten Gedenkstätten lautet: eher wenig.
Trotz der über die Jahre intensivierter Vor- und Nachbereitung der Gedenkstättenbesuche finden bei den Teilnehmerinnen und den Teilnehmer im Bereich von persönlichen und politischen Einstellungen sowie im gesellschaftlichen Engagement keine eklatanten Veränderungen statt. Sich diesen Umstand empirisch untermauert vor Augen zu führen, ist angesichts weit verbreiteter unrealistischer Vorstellung von der Wirksamkeit der Gedenkstättenlandschaft, die der Autor in seiner Einleitung nochmals vor Augen führt, ein wichtiges Verdienst. In den Bildungsprozess nachhaltig eingreifen können Gedenkstätten, insbesondere auch aufgrund des immer heterogener werdenden Publikums, nur wenn sie in langfristige Konzepte eingebunden werden und einen permanent wirksamen Widerhall in der Gesellschaft finden. Dies gilt insbesondere im Zeitalter des viel beschworenen Ablebens der Zeitzeugen, die auch nach dieser Studie für die Bildungsarbeit immer noch am beeindruckendsten sind (Seite 19).
Rezension von
Prof. Dr. Bernhard M. Hoppe
Hochschule Mittweida und Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern-Landau
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