Dörte Weltzien, Heike Wadepohl et al. (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik XI
Rezensiert von Monika Pietsch, 19.06.2020

Dörte Weltzien, Heike Wadepohl, Peter Cloos, Joachim Bensel, Gabriele Haug-Schnabel (Hrsg.): Forschung in der Frühpädagogik XI. Die Dinge und der Raum.
FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre
(Freiburg) 2018.
368 Seiten.
ISBN 978-3-932650-91-8.
D: 32,00 EUR,
A: 32,90 EUR.
Reihe: Materialien zur Frühpädagogik - 22.
Thema
Das Buch soll einen ersten Überblick über die Vielfalt der Forschungsperspektiven hinsichtlich Raum und Dinge geben. Zu diesen beiden Bereichen wird hier ein Spektrum an Studien gebündelt. Das Buch will methodische und methodologische Impulse für weitere Forschung geben.
HerausgeberInnen
Dr. D. Weltzien, Professorin, lehrt und forscht seit 2009 in der Ev. Hochschule Freiburg.
Dr. H. Wadepohl, Akademische Rätin in der Abtl. Sonderpädagogische Psychologie/​Leipzig.
Dr. P. Cloos, Professor für Pädagogik der frühen Kindheit in Hildesheim.
Dr. rer. nat.Dipl. Biol. J. Bensel, Verhaltensbiologe, lehrt in der Ev. Hochschule Freiburg und Universität Salzburg.
Dr. rer. nat. habil. G. Haug- Schnabel, Verhaltensbiologin und Ethnologin, lehrt in der Ev. Hochschule Freiburg und Universität Salzburg.
Entstehungshintergrund
Die Reihe „Forschung in der Frühpädagogik“ ist eine wichtige Forschungspublikation, in der zeitnah Ergebnisse veröffentlicht werden können. Für kindheitspädagogische Studiengänge bildet diese Reihe Lehr- und Lernmaterial.
Aufbau und Inhalt
Peter Cloos, Joachim Bensel, Gabriele Haug-Schnabel, Heike Wadepohl & Dörte Weltzien: Die Dinge und der Raum – einleitende Überlegungen
Der Raum und seine darin befindlichen Dinge machen ihn spezifisch und wieder erkennbar (Bsp.: gelbe Postschalter machen den Raum als Post wiedererkennbar). Es gibt bereits Konzepte wie „Orte für Kinder“ oder Familienzentren, also auf Kinder und deren Bedürfnisse zugeschnittene Orte. Eine Bedeutung der Dinge zeigt sich, wenn man in die Überlegungen Materialien von Fröbel, Montessori oder Steiner einbezieht, den Wandel zur Wald- oder Naturpädagogik oder dem völligen Verzicht auf Materialien in der Frühpädagogik. Kinder lernen einerseits mit unterschiedlichen Materialien besser und andererseits deren vielfältige Verwendung kennen. Untersuchungen zeigen, dass Kinder in eine Welt mit Dingen hineingeboren werden und sie sich damit die Welt erschließen.
Die Beiträge sind im Folgenden übergeordneten Themen zugeordnet. Hier werden exemplarisch einige Kapitel ausführlicher beschrieben.
Grundlagen- theoretische Überlegungen
Claus Stieve: Forschungsmethodologische Zugänge zum „Bildenden Raum“
In „Die Bedeutung des anregenden Raums in der Früherziehung“ stellt Stieve dar, dass historisch Rousseau, Fröbel und Montessori sich auf die „negative Erziehung“ beziehen. Eine Erziehung aus den Dingen und dem Drang des Kindes steht im Vordergrund. Stieve stellt fest, dass es sich hier um Erziehung handelt und nicht um Bildung. Zwei Sichtweisen werden vorangestellt: das Pädagogische einer Alltagssituation wird durch den pädagogischen Blick als solches konstituiert oder die pädagogisierende Selbstbeschreibung eines Gegenstandes wird sich zu eigen gemacht. Beispielhaft wird beschrieben, wie Regeln an Orte/Territorien geknüpft sind und die Kinder zu Regeln angehalten werden. Damit wird aufgezeigt, dass es bestehende Ordnungen gibt, in die Kinder eingebunden werden. Begriffe wie Selbstbildung und Ko- Konstruktion müssen in Frage gestellt werden. Stieve identifiziert Forschungsaspekte, in denen pädagogisches Ordnen in Konflikte und Irritation mündet, in denen Dinge „anderes“ genutzt werden, in denen sich die Leiblichkeit des Kindes als sperrig erweist und in dem die Identität einer Sache, eines Raumes und der darin adressierte Körper zur Frage wird.
Anschließend folgt ein Beitrag von Kathrin Borg-Tiburcy: Die Bedeutung der sinnlich-materiellen Präsenz der Dinge für das gemeinschaftliche Herstellen ästhetischen Sinns von Kindern.
Didaktische Forschungsperspektiven auf den Raum und die Dinge
Edita Jung & Lena S. Kaiser: Dem „Verwendungs- und Bedeutungsoffenen“ einen Sinn geben.
Kathrin Hormann & Claudia Schomaker: Die Bedeutung des Raums im Kontext von Lernwerkstattarbeit:
Hormann/​Schomaker bedienen sich des Forschungsstils der „Reflexive Grounded Theory“. Hier wird nicht von einer fertigen Theorie ausgegangen, sondern der Forschungsbereich wirft Fragen auf, die sich in einer Spirale von Antworten und Fragen entwickeln. In einer qualitativen Studie (Befragungen in 2 Kindertagesstätten) wurde den Fragen nachgegangen: was kennzeichnet für pädagogische Fachkräfte, die in einer Lernwerkstatt arbeiten, eine Lernwerkstatt bzw. Lernwerkstattsarbeit? Was verstehen pädagogische Fachkräfte unter den Begriffen „Raum“ und „Raumgestaltung“ im Kontext von Lernwerkstattarbeit? Die Ergebnisse zeigen auf, Lernwerkstätten sind Werkstatt/​Produktionsort, Haltung, erkennbar im Tun und Handeln, variabel und anpassbar, ein Möglichkeitsraum und die Summe aller Merkmale. Die Merkmale zum Raum sind: vorbereitete Umgebung, Freiraum und Rückzugsort, Rahmen als strukturgebendes Element, Abgrenzung und Begrenzung. Mit diesen Antworten ergeben sich weitere Forschungsaspekte, z.B. wie die präsentierten Perspektiven der Fachkräfte mit ihrem pädagogischen Alltag verknüpft sind.
Kindliche Sicht- und Aneignungsweisen
Iris Nentwig-Gesemann: Geheime (Erfahrungs-)Räume und die Erprobung autonomen Handelns – Geheimwissen und Geheimwelten von Kindern:
Nentwig- Gesemann untersucht in Kindertageseinrichtungen direkt 4- 6 jährige hinsichtlich Geheimnisse haben, hüten, teilen, etwas Geheimes tun, sich an geheime Orte zurückziehen, sich in Fantasiewelten zurückziehen. Das Geheimnis wird hier als Erweiterung des Lebens verstanden, eine Errungenschaft der Menschheit. Nentwig- Gesemann unterscheidet typische Muster: Geheimniswege, Geheimniswelt/​Fantasiewelt, Geheimhaltung, Geheimwissen. Neben den organisierten Tätigkeiten und Handlungen in der Kita, sind Geheimnisse selbstiniitierte Räume der Kinder, in denen sie unbeobachtet sind. Weitere Forschungsaspekte ergeben sich durch die Beobachtung, dass Kinder Zeit und Raum brauchen, unbeobachtete Aktivitäten, Diskretion und Respekt der Erwachsenen vor ihren Geheimnissen.
Es folgen zwei weitere Beiträge:
- Rolf Schwarz: Habituelles Aktivitätsverhalten 3- bis 6-Jähriger in Raum und Zeit – eine empirische Tagebuchstudie
- Lara Vetter: Interaktionsorganisationen von Krippenkindern in Peerinteraktionen im Modus des Zeigens – eine videobasierte, dokumentarische Studie (beschreibt, dass die Zeigegeste Besitzansprüche oder Erklärungen impliziert, aber auch gegenseitig den Erwachsenen auffordert)
Pädagogische Ordnungen – die Herstellung von pädagogischer Bedeutsamkeit mit Dingen und Räumen
Stephanie Karcher: Kindgerechte Räumlichkeiten der Kindertagespflege – Dokumentarische Fotointerpretation pädagogisch konnotierter Räume:
Anhand einer Fotointerpretation geht Karcher der Frage nach, wie Tagespflegepersonen in ihrem privaten Wohnraum das pädagogische Angebot räumlich- materiell hervorbringen. Ziel ist es Tagespflege in den Fokus der pädagogischen Praxis zu nehmen. Beispielsweise werden zur Beantragung einer Tagespflegeeinrichtung gesetzlich „kindgerechte Räume“ und „Familienähnlichkeit“ gefordert. Mindestanforderungen oder Standards gibt es nicht. Handreichungen sprechen von Sicherheit, Hygiene, Bewegungsfreiheit, entwicklungsförderliche Raumgestaltung und Spielmaterialauswahl. Eine pädagogische Qualitätsentwicklung und erziehungswissenschaftliche Reflexion stehen noch aus.
Das Kapitel endet mit einem Beitrag von Alina Zils: Subjektivationsprozesse und die Destabilisierung von Geschlecht in Interaktionssituationen unter Hinzunahme von Spielgegenständen auf dem Spielplatz.
Praxeologische Perspektiven auf die Dinge der Pädago*innen
Katharina Rauh & Klaus Fröhlich-Gildhoff: Gesundheitsförderung in Kindertageseinrichtungen
In einer landesweiten, systematischen Präventionsstrategie wird die Umsetzung von Gesundheitsförderung in Bildungseinrichtungen auf kommunaler Ebene evaluiert. Folgende Fragen wurden untersucht:
- Verbessert sich die Kompetenz der pädagogischen Fachkräfte vor uns nach der Organisationsentwicklung?
- Die Einrichtungen, deren Kinder befragt wurden, haben sich für den Schwerpunkt „Förderung der seelischen Gesundheit von Kindern“ entschieden. Hat sich das psychische Wohlbefinden dieser Kinder verändert?
- Wenn in beiden Fragen oben eine Veränderung stattfand, hängen diese Veränderungen miteinander zusammen?
Festgestellt wurde, dass sich die Kompetenz der Erzieher*innen und das psychische Wohlbefinden der Kinder schon durch den Organisationsentwicklungsprozess verbessert haben. Ergebnisse hinsichtlich des Zusammenanhangs müssen noch überprüft werden. Dazu werden Kontrollgruppen und Follow-up- Untersuchungen empfohlen.
Alle Artikel beginnen mit einer Zusammenfassung auf Deutsch und Englisch und enden mit einem ausführlichen Literaturverzeichnis.
Fazit
Das Buch zeigt eine Vielfalt an Forschungen zur Frühpädagogik auf. Das Materielle und der Zusammenhang mit der Pädagogik, mit sozialen Praktiken, Dingen und Räumen wird hier unter vielen Aspekten diskutiert. Letztlich kann es nur eine Zusammenfassung der Ergebnisse sein und weitere Untersuchungen anregen.
Es stellt sich jedoch auch die Frage nach der Nachhaltigkeit und Relevanz für die praktische Arbeit der Erzieher*innen. Die gesellschaftliche Relevanz der Arbeit steigt stetig (nicht dagegen die Entlohnung und das gesellschaftliche Ansehen). Ob und inwieweit vorliegende Ergebnisse in der Praxis Einzug halten, bleibt abzuwarten. In die gesetzlichen Vorgaben von vorschulischer Bildung, Schwerpunktsetzung in der Einrichtung, Ausbildung von Erzieher*innen, Materialien für die Arbeit etc. können sich Aspekte der Ergebnisse allerdings niederschlagen.
Rezension von
Monika Pietsch
Training und Konstruktives Lernen
selbständige Trainerin und Beraterin, Schwerpunkt: Team- und Führungskompetenzen mit den Methoden des konstruktiven Lernens
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