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Sylvia Nienhaus: Ungleichheits­relevanz im Bildungs- und Betreuungsalltag

Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 03.02.2020

Cover Sylvia Nienhaus: Ungleichheits­relevanz im Bildungs- und Betreuungsalltag ISBN 978-3-8474-2225-9

Sylvia Nienhaus: Ungleichheitsrelevanz im Bildungs- und Betreuungsalltag. Eine qualitative Mehrebenenanalyse. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 305 Seiten. ISBN 978-3-8474-2225-9. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.
Band 12. Qualitative Fall- und Prozessanalysen.

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Thema

Der Einfluss von Bildung auf die Genese und Reproduktion von sozialer Ungleichheit beginnt bereits vor der schulischen Erziehung. Das Land Luxemburg hält für 2-4jährige Kinder ein ausdifferenziertes System heterogener Angebote bereit, z.B. sogenannte konventionierte und nicht-konventionierte Kinderkrippen oder staatlich organisierte Vorschulklassen, wie die fakultative éducation précoce. Durch die jeweils unterschiedliche Nutzung und Kombination dieser Angebote durch die Eltern entsteht eine Diversität betreuter Kindheiten, die potentiell ungleichheitsrelevant ist, d.h. Vor- oder Nachteile im Hinblick auf das Erreichen bestimmter Bildungsstufen von Kindern nach sich ziehen kann. Wo und wie diese auszumachen sind, untersucht diese Dissertation explorativ in drei ethnographischen Fallstudien mehrebenenanalytisch, d.h. querschnittlich-situativ auf mehreren Ebenen. Sie kommt zu dem Ergebnis, die Herstellung von Ungleichheitsrelevanz geschehe über Differenzierungen ‚richtiger‘ bzw. ‚falscher‘ Verhaltensweisen von Kindern, wobei diejenigen Kinder, die diese Verhaltensweisen anwenden, von ErzieherInnen oder LehrerInnen als kompetent bzw. inkompetent bewertet werden. Im Rahmen eines gemeinsamen Interesses an kindlicher Bildung und Betreuung werde dies zwischen Eltern und ErzieherInnen oder LehrerInnen bzw. ErzieherInnen oder LehrerInnen untereinander verhandelt, indem z.B. Kompetenzen versichert oder Inkompetenzen problematisiert werden. Determinanten sind hier z.B. Bildungsmilieu, Migrationshintergrund oder körperlich/​geistige Beeinträchtigungen.

Autorin

Sylvia Nienhaus hat Kommunikationswissenschaft, Anglistik und Psychologie an der Universität Duisburg-Essen mit dem Abschluss Magister studiert. Mit der vorliegenden Arbeit hat sie an der Universität Luxemburg, Fakultät für Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften, promoviert. Anschließend arbeitete sie als Koordinatorin eines Promotionskollegs an der Universität Freiburg und gegenwärtig als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg „Emergenz und Anbahnung bereichsspezifischen Lernens in frühkindlichen Bildungsprozessen am Forschungszentrum Frühkindliche Bildung und Entwicklung (CEDER)“ der Universität Osnabrück.

Entstehungshintergrund

Die Arbeit entstand im Kontext des Forschungsprojekts „Children in the Luxembourgian Day Care System“ (CHILD), in dessen Rahmen Sylvia Nienhaus von 2013–2017 an der Universität Luxemburg beschäftigt war. In diesem Projekt der Forschungsgruppe Early Childhood: Education and Care (Leiter: Michael-Sebastian Honig, Prof. em. für Sozialarbeit) wurden ethnographische Feldstudien zum Bildungs- und Betreuungsarrangement von Kindern im Alter von zwei bis vier Jahren in Einrichtungen der Luxemburger Kindertagesbetreuung und der vorschulischen Bildung durchgeführt, an die die Autorin die bildungssoziologische Fragestellung anhand dreier ethnographischer Fallstudien zu den Kindern Nadine, Tito und Stephanie angedockt hat.

Aufbau

  • In Kapitel 1 werden Ansätze zur Bedeutung und Entstehung von sozialer Ungleichheit aus Sozialstrukturanalyse im Allgemeinen und der empirischen Bildungsforschung frühkindlicher Bildung und Betreuung im Besonderen vorgestellt. Der Autorin machte dies auch „deutlich, wie schwierig eine Begriffsbestimmung sozialer Ungleichheit zu sein scheint“ (S. 22), auch weil sowohl bei quantitativen als auch bei qualitativen Ansätzen nicht immer klar definiert werde, ob dabei Prozesse, Mechanismen oder die Genese sozialer Ungleichheit in den Blick genommen werde und inwiefern sich diese überhaupt unterscheiden (S. 38).
  • Kapitel 2 stellt, angelehnt an einen Literaturbericht, Studien zur Genese sozialer Ungleichheit in der frühkindlichen Bildung und Betreuung vor und wie dabei Eltern, ErzieherInnen, LehrerInnen und Kinder im Kontext von Vorgaben und Alltagspraktiken des jeweiligen Bildungs- und Betreuungssystems interagieren.
  • In Kapitel 3 wird mit dem Fokus auf derartige Konstellationen von AkteurInnen die qualitative Mehrebenenanalyse als Forschungsstrategie und
  • in Kapitel 4 das empirische Design der Arbeit vorgestellt.
  • Kapitel 5 stellt die empirischen Befunde zur Art der Betonung von Bildung in der frühkindlichen Betreuung und Erziehung in den einzelnen untersuchten Ebenen vor,
  • die in Kapitel 6 ebenenübergreifend anhand der ungleichheitsrelevanten Themen Sprache, Sozialverhalten und Essen zusammengefasst werden.
  • Erträge und Grenzen der als explorativ bezeichneten Untersuchung diskutiert Kapitel 7.

Alle Kapitel und einige Unterkapitel enden mit Zwischenzusammenfassungen.

Inhalt

Die Fallstudien machen die Leserschaft zunächst mit dem Luxemburger System bekannt, das die Autorin ein „Split System“ unterschiedlicher Zuständigkeiten, Trägerschaften etc. nennt, welches möglicherweise Vereinbarkeitsprobleme verstärkt, die Eltern auch andernorts dabei haben, z.B. Bring- und Abholzeiten mit ihren beruflichen Verpflichtungen in Einklang zu bringen („Bring- und Abholstress“, S. 123), wobei aufgrund ihrer beruflichen Position manche Eltern Vor-, andere Nachteile haben. Von den drei Fallstudien-Kindern haben zwei einen Migrationshintergrund. Nicht nur im Falle des Mädchens aus einem liberal-gehobenen Milieu, sondern bei allen drei Kindern vermutet die Autorin ein familiäres Interesse an Bildungsförderung der Kinder, wofür ein zentrales Moment ist, die in der Familie nicht gesprochene Bildungssprache Luxemburgisch (Letzeburgisch) in der Einrichtung zu erlernen. Diese wird hier im Hinblick auf die große Nähe zu Deutsch – als späterer Alphabetisierungssprache – gepflegt. Das gleiche Interesse wird man den Einrichtungen zuschreiben können, von denen eine sogar aus ursprünglich kompensatorischen Gründen eingerichtet wurde.

Gleichwohl finden sich in diesem Bereich – nach Auffassung des Rezensenten – die markantesten empirischen Beispiele für ein Potenzial an Ungleichheitsentstehung bzw. -reproduktion, weswegen sich hier auf diese Inhalte beschränkt wird. So wird eine Beobachtung während einer Bastelaktivität in der Education Préscolaire berichtet, wo Nico die Lehrerin auf Französisch fragt, ob er auf die Toilette gehen dürfe. Die Lehrerin erlaubt dies Nico jedoch solange nicht, bis er sie nochmals auf Luxemburgisch um Erlaubnis fragt (S. 207 und S. 274). In einem anderen Beispiel berichtet die Lehrerin einer Kollegin von „Spezialfällen, die noch kein Luxemburgisch können“. Damit bringe sie der Autorin zufolge zum Ausdruck, dass sie solche Kinder als „speziell“ ansehe „in dem Sinne, dass sie unverhältnismäßig viel Zeit zum Erlernen der luxemburgischen Sprache benötigen. So interpretiert deutet sich hier also ein Potenzial für Bevor- bzw. Benachteiligung auf Grundlage einer zugeschriebenen Lernschwäche an“ (S. 275). Dies wertet die Autorin als „eine Vorstufe von Mechanismen sozialer Ungleichheit“ (S. 275). Ähnlich interpretiert die Autorin, dass die Erzieherinnen der Mutter von Nadine versichern, ihre Tochter verpasse nichts, wenn diese aufgrund von Vereinbarkeitsproblemen nicht den Übergang in die Education Précoce realisieren könne und bis zur ihrer Pflichteinschulung im Alter von vier Jahren weiterhin ausschließlich die Crèche (Krippe) besuche. Damit versuchten sie einerseits, die Enttäuschung von Nadines Mutter abzumildern, denkbar wäre jedoch „auch eine Entstehung von Ungleichheitsrelevanz in umgekehrter Richtung“ (S. 257) nach dem Motto verdeckter Zuschreibung: „Nadine ist im luxemburgischen Bildungssystem mit ihren serbokroatischen Wurzeln von vornherein benachteiligt, deshalb ist eine ergänzende Förderung in der Education Précoce überflüssig“ (S. 258). 

Diskussion

Der Autorin ist in ihrer eigenen Einschätzung (Kapitel 7) zuzustimmen, dass der Mehrwert der vorliegenden Arbeit nicht in einer Überprüfung von konkreten Hypothesen darüber liege, wie Ungleichheitsrelevanz entsteht, sondern darin, dass ein Verständnis des „Wie's der Entstehung von Ungleichheitsrelevanz über die Arbeit mit ungleichheitsrelevanten Themen und Konstellationen von AkteurInnen (…) als Herstellung innerhalb von Schaltstellen spezifiziert werden konnte“ (S. 278). Den nach Auffassung des Rezensenten größeren Schwachpunkt deutet die Autorin ebenfalls selbst an, indem sie die Frage aufwirft, ob es sich in ihrer Arbeit wirklich um eine Mehrebenenanalyse oder eher nur um eine Zwei-Ebenen-Analyse von Mikro- und Mesoebene gehandelt habe. Sie meint anscheinend, mit der Bemerkung, die Blackbox jedenfalls der quantitativen Ansätze zu den Mechanismen sozialer Ungleichheit wohl ein Stück weit geöffnet zu haben (S. 281), die eigene Bemerkung, Mikro- und Mesoebene allein seien nicht ausreichend, um soziale Ungleichheit umfassend zu erforschen (S. 279), relativieren zu können. Ob die Ungleichheitsrelevanz, die sich als theoretisches Potenzial durchaus anhand des Materials zeigt, sich tatsächlich über die Mikro- und Mesoebene hinaus realisiert, wird anhand der untersuchten Beispiele nicht deutlich. Möglicherweise waren die vorgelegten Fallstudien hierfür zu wenige oder auch nicht die aussagekräftigsten, die eventuell in der Einrichtungspraxis hätten gefunden werden können. Gar nicht thematisiert wird auch, weshalb z.B. ErzieherInnen, die wohl selbst meist nicht gehobeneren Milieus angehören, in der zumindest angedeuteten oder auch unterstellten Weise als Agenten der Genese sozialer Ungleichheit auftreten sollten.

Fazit

Sonderlich LeserInnen-freundlich ist das Buch nach Auffassung des Rezensenten nicht, z.B. aufgrund vieler Querverweise, Datumsangaben zu allen Interviewterminen und einer Schreibweise, die ausgesprochen bemüht um Nachweisbarkeit akademischer Standards erscheint. Gleichwohl bietet es sicher Einblicke in frühkindliche Bildung und Betreuung und deren Potenzial für soziale Ungleichheit.

Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management

Es gibt 28 Rezensionen von Thomas Elkeles.

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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 03.02.2020 zu: Sylvia Nienhaus: Ungleichheitsrelevanz im Bildungs- und Betreuungsalltag. Eine qualitative Mehrebenenanalyse. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. ISBN 978-3-8474-2225-9. Band 12. Qualitative Fall- und Prozessanalysen. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25422.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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