Benno Hafeneger, Katharina Unkelbach et al. (Hrsg.): Rassismuskritische politische Bildung
Rezensiert von Dr. Axel Bernd Kunze, 26.08.2019

Benno Hafeneger, Katharina Unkelbach, Benedikt Widmaier (Hrsg.): Rassismuskritische politische Bildung. Theorien - Konzepte - Orientierungen.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2019.
221 Seiten.
ISBN 978-3-7344-0785-7.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Reihe: Non-formale politische Bildung - Band 14.
Thema
Das Meinungsklima im Land ist seit der Migrationskrise rauer geworden. Beklagt wird, der gesellschaftliche Grundkonsens sei bedroht. Angesichts dieser Situation stehen die Konzepte der politischen Jugendbildung auf dem Prüfstand. Inwiefern werden diese den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen noch gerecht? Eine Antwort auf die gegenwärtigen Veränderungen innerhalb der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ist die Forcierung einer Bildungsarbeit, die sich programmatisch als „rassismuskritisch“ versteht.
Herausgeberin und Herausgeber
Benno Hafenegger ist Emeritus am Institut für Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg.
Katharina Unkelbach, Germanistin und Kulturwissenschaftlerin, arbeitete von 2016 bis 2018 als Referentin für Extremismusprävention in der katholischen Bildungsstätte „Haus am Maiberg“.
Dessen Direktor, der Politikwissenschaftler Benedikt Widmaier, ist als Redakteur des Journals für politische Bildung sowie Mitherausgeber der Publikationsreihe Non-formale politische Bildung, in der auch der vorliegende Band erscheint, tätig.
Entstehungshintergrund
Der Autorenkreis, der sich auf Initiative der drei Herausgeber zusammengefunden hat, besteht – wie es in der Einleitung des Bandes heißt – aus „Grenzgänger[n] zwischen Theorie und Praxis“ (S. 13). Der Band will eine Art Zwischensumme aus den verschiedenen, aus heterogenen Theorietraditionen schöpfenden Ansätzen ziehen, die sich programmatisch als rassismuskritische Jugendbildung verstehen.
Aufbau
Der Band gliedert sich in drei Teile, denen eine Einführung unter der Fragestellung „Warum rassismuskritische politische Bildung?“ (I.) von zwei der Mitgliedern des Herausgebertrios, Benno Hafenegger und Benedikt Widmaier, vorangestellt ist:
- Der erste Kreis von Beiträgen ist mit „Blick auf Theorie“ (II.) überschrieben.
- Dann folgt ein „Blick auf Institutionen und Strukturen“ (III.) innerhalb der Bildungslandschaft.
- Den Abschluss bilden zwei Beiträge unter der Überschrift „Internationaler Blick“ (IV.).
Ein Autorenspiegel beschließt den Band.
Inhalt
Blick auf Theorie
Benno Hafenegger, aus dem Herausgeberkreis, versteht in seinem Beitrag Rassismus als „eine spezifische Form sein Selbst und die Welt zu deuten bzw. nach außen zu projizieren“ (S. 27). Rassismus bilde sich aus einer Gemengelage gesellschaftlicher Strukturen, soziokulturellen, als krisenhaft empfundenen Dynamiken und psychisch verankerten Überzeugungen. Gegenwärtig würde die Entstehung rassistischer Muster durch digitale Medien und Netzwerke verstärkt. Hafenegger ist davon überzeugt, dass das aufklärerische und selbstkritische Potenzial gesellschaftskritischer Ansätze auf der einen und psychoanalytischer Traditionen auf der anderen Seite helfen könne, rassistische Deutungen zu entschlüsseln. Jugendarbeit könnte in diesem Sinne als ein „(selbst-)aufklärender Ort“ begriffen werden.
María Do Mar Castro Varela und Natascha Khakpour widmen sich in ihrem Beitrag dem Zusammenhang von Sprache und Rassismus; beide nehmen dabei Bezug auf das Paradigma der linguistischen Wende („linguistic turn“) sowie sprachphilosophische Ansätze. Sprache wird als Machtinstrument begriffen, mit dem rassistische Praktiken „normalisiert“ würden und sich so gesellschaftlich durchsetzen könnten. Am Ende ihres Beitrags warnen die beiden Verfasserinnen davor, dass politische Strategien, die einer Normalisierung gegensteuern wollten, in „Zensurpolitik“ (S. 43) umkippen könnten.
Sebastian Seng diskutiert, in welchem Verhältnis Rassismus und Rechtspopulismus zueinander stehen. Seiner Ansicht nach seien rassistische Praktiken immanenter Bestandteil des letzteren: durch ideologische Anleihen, rechtspopulistische Mastererzählungen, den Anschluss an das Alltagswissen potentieller Wähler oder Stilmittel wie Zuspitzung, Verkürzung, Polarisierung, Simplifizierung, Personalisierung oder Emotionalisierung. In der präventiven rassismuskritischen Bildungsarbeit könne auf vierfache Weise darauf reagiert werden: durch direkte wie indirekte Thematisierung, durch Einordnung in den historischen Kontext oder das Aufdecken fortwirkender kolonialrassistischer Wissensbestände.
Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik widmet sich dem Thema Antisemitismus. Dabei erkennt er ähnliche Reaktionsmuster zwischen Antisemitismus und heutiger Islamophobie. Die pädagogische Arbeit müsse auf eine Verharmlosung oder Leugnung nationalsozialistischer Verbrechen wie auch auch auf einen neueren israelbezogenen Antisemitismus reagieren.
Shadi Kooroshy und Paul Mecheril widmen sich den Begriffen „race“ und „state“. Sie verweisen etwa auf die PEGIDA-Bewegung, welche die Parole „Wir sind das Volk“ aus der friedlichen Revolution 1989/90 erneut aufgegriffen habe. Diese und ähnliche Bewegungen beanspruchten für ein „natio-ethno-kulturell kodiertes Wir“ einen Vorrang, sowohl innerhalb der geistig-kulturellen Debatte als auch in territorialer Hinsicht.
Anastasia Paschalidou fragt in ihrem Beitrag, ob Rassismuskritik als pädagogische Querschnittaufgabe begriffen werden könne. Ihre Antwort lautet: Ja – allerdings eingebettet in eine insgesamt sozial gerechte Bildungspraxis, die förderliche und nichtdiskriminierende Lernumgebungen für alle Kinder und Jugendlichen schaffe. Dieses Ziel verlange nach einem institutionellen Wandel innerhalb des Bildungssystems.
Blick auf Institutionen und Strukturen
Yaliz Akbaba nimmt die Rolle von Lehrern mit Migrationserfahrungen kritisch in den Blick. Sein Befund zeigt deutliche Ambivalenzen: Einerseits würden diese geradezu zum „Hoffnungsträger“ oder „Heilsbringer“ stilisiert, andererseits aber auch als Bedrohung wahrgenommen. Am Beispiel einer Integrierten Gesamtschule zu Beginn des Beitrags wird deutlich, was dies bedeutet: „Herr Blut soll eine ‚Migrantensprechstunde‘ anbieten, als Zusatzleistung, die seine Weiterbeschäftigung sichern soll“ (S. 109). Die „Verwertbarkeit“ des Kollegen stehe im Vordergrund, seine Andersheit bleibe bestehen. Der Verfasser erkennt darin Stereotypisierung als ein typisches Instrument des Rassismus.
Tina Dürr und Eva Georg beklagen die „Unsichtbarkeit von Rassismus an Schulen“, so der Titel ihres Beitrags. Zwar werde Alltagsrassismus von Schülern wie Lehrern wahrgenommen, aber es bestehe eine große Unsicherheit, wie darauf reagiert werden sollte. Die beiden Autorinnen schlagen einen Mix aus Qualifizierung durch Aus- und Weiterbildung, Thematisierung im Unterricht, Beratung, Bildungsangeboten sowie Ansprechstrukturen vor.
Turkan Kanbicaks Beitrag schließt daran an: „Schule mit ohne Rassismus“. Schule wird beschrieben als eine Institution, die von ihrer eigenen Logik her durch Homogenisierungstendenzen und Machtasymmetrien gekennzeichnet sei. Diese Logiken begünstigten Konstruktionen „des Anderen“ („Othering“). Daher sei es wichtig, in der pädagogischen Arbeit immer wieder über die Implikationen der eigenen „Normalitätsvorstellungen“ aufzuklären und deren Folgen aufzudecken.
Astrid Messerschmidt diskutiert, wie Bildungsarbeit zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte beitragen könne. Dazu gehöre es unter anderem Rassismus historisch einzuordnen. Die Autorin ist überzeugt: „Erst die Auseinandersetzung mit der unterschiedlichen ideologischen Struktur und geschichtlichen Verankerung von Antisemitismus und Rassismus bietet Grundlagen für eine Bildungsarbeit, die sich der Gegenwartsbedeutung von beidem bewusst ist“ (S. 155).
Torsten Niebling und Gamze Damat stellen pädagogische Antworten auf den problematischen Einfluss sozialer Medien (z.B. „Hate Speech“, Radikalisierungsplattformen) vor. Wichtig seien jugendgemäße Hilfen, die dem Bedürfnis von Jugendlichen nach Anerkennung auf gemeinwohlförderliche Weise entsprechen: „Jugendliche brauchen ein ernsthaftes Gegenüber, das aktiv Brücken baut und als Person Resonanz erzeugt. Soziale Arbeit bleibt aufgefordert, sicheres Terrain zu verlassen, den Kontakt zu gefährdeten Jugendlichen zu suchen und dort sichtbar zu sein, wo diese sich aufhalten“ (S. 173).
Katharina Unkelbach untersucht, wie türkische Migranten in der Kriminalserie „Tatort“ dargestellt werden. Im Vordergrund steht die mit einem Ausstrahlungsverbot belegte Episode „Wem Ehre gebührt“. Aus Perspektive der Rezeptionsforschung kommt die Verfasserin zu dem Schluss, dass „ein Aufgreifen von selektiven, diffamierenden oder rassistischen Bildern unter anschließender Dekonstruktion oder Diffusion nicht zur Aufgabe der Stereotype führt, sondern gegenteilig zu deren Perpetuierung und Festigung“ (S. 190).
Internationaler Blick
Bernd Overwien, der selbst dazu beigetragen hat, „Globales Lernen“ in Deutschland zu implementieren, greift die postkolonial inspirierte Kritik an dieser Richtung auf. Allerdings greife diese für sich allein genommen zu kurz, z.B. bleibe die ökologisch-soziale Seite einer Bildung für Nachhaltigkeit dabei unterbestimmt. Schule müsse Anhaltspunkte und Kriterien für ein globales Weltverständnis vermitteln. Der Einbezug antirassistischer Ansätze könne helfen, dabei nicht einen eigenen Ethnozentrismus zu verstärken oder weiterzutragen.
Benjamin Haas unterzieht abschließend den entwicklungspolitischen Freiwilligendienst „weltwärts“ einer antirassistischen Kritik. Der Anbieter arbeitet in seiner begleitenden Bildungsarbeit mit Ansätzen aus dem Bereich Globalen Lernens. Dem Selbstanspruch nach sollen die Jugendlichen befähigt werden, globale Ungerechtigkeiten zu erkennen und zu bearbeiten. Haas bezweifelt, dass dies umfassend gelingt. Hierzu müssten auch die Strukturen und Akteursbeziehungen innerhalb des Programms selbst einer rassismus- und machtkritischen Überprüfung unterzogen werden. Von einem gleichberechtigten Dialog zwischen Nord und Süd könnte bei der aktuellen Fassung der Programmkriterien keine Rede sein.
Diskussion
Der vorliegende Band betrachtet, wie es in der Einführung heißt, politische Bildungarbeit als ein „Laboratorium der Demokratie“ (S. 13). Um diesem Selbstanspruch gerecht zu werden, müsse politische Bildung aber mehr als „Verhinderungspädagogik“ (S. 13)sein. Mit Förderprogrammen, die erkennbar darauf ausgerichtet sind, negative politische Tendenzen abzuwehren oder zu verhindern, könnten Jugendliche nicht erreicht werden. Die angezielte Prävention liefe ins Leere. Hier spricht ein pädagogischer Realismus, dem zuzustimmen ist: Jugendliche merken durchaus, wenn sie für bestimmte Ziele „verzweckt“ werden sollen. Überdies geht das für eine fruchtbare pädagogische Beziehung notwendige Vertrauen verloren, wenn sich Pädagogen in einen pädagogisch-politischen Rollenkonflikt treiben lassen.
Hinter problematischen Verhaltensweisen junger Menschen stecken durchaus legitime Bedürfnisse. Sie sind daher zunächst einmal ernst zu nehmen, wie vor allem Torsten Niebling und Gamze Damat in ihrem Beitrag deutlich machen. Erzieherisch bleibt die Herausforderung, ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie ihre legitimen Bedürfnisse auf lebensdienliche, sozial angemessene und gemeinwohlförderliche Art befriedigen können. Dies kann mitunter zu einer Zerreißprobe werden, bleibt aber für eine nachhaltige Jugendbildung unumgänglich. In diesem Sinne muss Bildungsarbeit, wie die Einführung herausstellt, tatsächlich mehr sein als Prävention.
Benno Hafenegger und Benedikt Widmaier machen in ihrer Einführung ferner deutlich, dass Extremismusprävention neuerdings nicht einfach alle anderen Bereiche der Jugendbildung überlagern oder sogar verdrängen dürfe. Diese Gefahr besteht immer dann, wenn Förderprogramme einseitig Ressourcen in eine ganz bestimmte Richtung lenken. Die Herausgeber wollen ihren Band als Beitrag auf der Suche nach einer zeitgemäßen politischen Bildung verstanden wissen, die aktuellen Herausforderungen gerecht wird und diese pädagogisch in angemessene Ziele und Aufgaben übersetzt. So weit, so gut. Erkennbar schließen die einzelnen Beiträge an aktuelle politische Debatten an.
Eine Punkt kommt allerdings im vorliegenden Band zu kurz: Bildung ist kein gesellschaftlicher Reparaturbetrieb, sondern setzt auf Stärkung der Urteilskraft des Einzelnen – und ist gerade deshalb politisch-gesellschaftlich relevant. Der Beutelsbacher Konsens, dem es 1976 gelang, die seinerzeitigen Verwerfungen innerhalb der Politikdidaktik zu befrieden, macht bis heute auf ein Problem politischer Bildung aufmerksam: Bei allen gutgemeinten Absichten stehen Pädagogen immer in Gefahr, die Heranwachsenden zu überwältigen oder für partikulare Positionen zu vereinnahmen. Dies gilt immer noch, auch wenn der Beutelsbacher Konsens mittlerweile in die Jahre gekommen ist. Wenn dem so ist, müsste aber auch das einer rassismuskritischen Bildung zugrundeliegende Rassismusverständnis selbst einer Kontroversitätsprüfung unterzogen werden. Die Beiträge des Bandes erwecken den Eindruck, als könne von einem allgemein geteilten Verständnis von Rassismus bzw. Antirassismus ausgegangen werden (Gleiches gilt auch für andere Konstrukte, die im Band eine Rolle spielen, etwa Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder Postkolonialismus).
Nicht alle Beiträge sind für den im Umgang mit gesellschaftsphilosophischen Theorien ungeübten Leser leicht verständlich. Hier hätte man sich mitunter einen weniger schwerfälligen Nominalstil gewünscht. Es ist erkennbar, dass alle Beiträge des Bandes praktische Erfahrungen aus dem Bereich der politischen (Jugend-)Bildung mitbringen. Zugleich macht der Band auf diese Weise deutlich, welche Potenziale in der non-formalen Bildung liegen. Diese sollte nicht vernachlässigt werden, wenn die Schule nicht mit allen möglichen Erwartungen überfrachtet werden soll.
Fazit
Wer sich einen komprimierten Überblick über aktuelle Themen und Tendenzen innerhalb der Jugendbildung im Allgemeinen und der speziellen Ausrichtung einer rassismuskritischen Bildungsarbeit im Besonderen verschaffen will, ist mit dem vorliegenden Band gut beraten.
Rezension von
Dr. Axel Bernd Kunze
Privatdozent für Erziehungswissenschaft an der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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