Ilse Schrittesser (Hrsg.): Begabungsförderung revisited
Rezensiert von Britta Gauding, 05.06.2020

Ilse Schrittesser (Hrsg.): Begabungsförderung revisited. Begabungsförderung als Kinderrecht im Kontext von Diversität. Julius Klinkhardt Verlagsbuchhandlung (Bad Heilbrunn) 2019. 1 Auflage. 258 Seiten. ISBN 978-3-7815-5723-9.
Thema
Das Thema Begabtenförderung ist im Rahmen der Inklusion in aller Munde. Doch wie wird im Rahmen der Globalisierung, der Migration und diverser Individualisierungsprozesse die Begabtenförderung im Klassenzimmer tatsächlich umgesetzt. Auf der Datenbasis eines vorangegangenen Schulforschungsprojektes wird im vorliegenden Buch aus der Perspektive der Kinderrechte dieser Frage nachgegangen. Zudem wird herausgestellt welche Konsequenzen sich daraus für den Unterricht, die Schule und letztendlich für die Lehrer*Innenbildung ergeben.
Herausgeberin
Dr. Ilse Schrittesser leitet von 2010 bis 2013 das Institut für Lehrer*Innenbildung und Schulforschung sowie das Zentrum für Lernforschung an der Universität Innsbruck. Zudem ist Sie die geschäftsführende Herausgeberin des Journals für Lehrer*Innenbildung, Mitherausgeberin des Journals Challenging Organisations and Society und Mitbegründerin der Universitätsplattform Lehrer*Innenbildung. Seit März 2014 hat sie eine Professur für Schulforschung und Lehrer*Innenbildung, mit den Forschungsschwerpunkten Schul- und Unterrichtsforschung mit besonderer Berücksichtigung der Lehr- und Lernforschung sowie die Professionalisierungsforschung und Forschung zur Lehrer*Innenbildung, am Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien inne.
Entstehungshintergrund
Ausgangspunkt des vorliegenden Buches war das Jahr 2014, das Jubiläumsjahr für 25 Jahre zurückliegende Rechte der Kinder. Grundlage dieses Vertrags ist das Kinderwohlvorrangigkeitsprinzip, nach welchem alle Entscheidungen unter dem Leitmotiv des Kindeswohls getroffen werden sollen. In dem vorliegenden Band zur „Begabungsförderung als Kinderrecht im Kontext sprachlicher, ethnischer und sozialer Diversitäten“ wurde demnach überprüft, ob und wie Schulen als staatliche Einrichtungen diesen gesetzlichen Vorgaben nachkommen. Dabei wurden vorrangig der Artikel 28 – mit dem Recht auf Bildung und Chancengleichheit sowie der Artikel 29 – der die vollständige Entfaltung des Kindes im Hinblick auf seine Persönlichkeit, Begabung sowie seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten fordert, herangezogen. Der Begriff Begabung wird hier im Sinne des Artikels 29 der UN-Kinderrechtskonvention gesehen und ist dementsprechend bei allen Kindern zu erkennen und zu fördern und nicht lediglich bei einer kleinen zu erhöhter Leistung befähigten Gruppe. In diesem Zusammenhang beruft sich die Autorin auf den Begriff der Heterogenität, der seit den 90iger Jahren zur Leitidee in den Erziehungswissenschaften deklariert. Sie definiert ihn als die Vielfalt einer Gruppe, deren Lebenswelten in sich inkonsistent sind und unterschiedliche Voraussetzungen, Erwartungen, Einstellungen und Umgangsformen aufweist. Diese Unterschiedlichkeit beschreibt sie als problematische Herausforderung für das Schulsystem.
Aufbau
Das Buch teilt sich in elf Einzelbeiträge auf, die jeweils von ein bis drei Autor*Innen verfasst wurden und welche in sich abgeschlossen sind, sowie mit einem separaten Literaturverzeichnis enden. Jeder Beitrag befasst sich mit einer Fragestellung zum Forschungsvorhaben und versucht diese zu beantworten. Die einzelnen Beiträge sind in sich nochmal in Unterkapitel eingeteilt. Das Buch beginnt mit einem überblicksartigen Inhaltsverzeichnis darauf folgen die einzelnen Beiträge und endet mit einem Autorenverzeichnis.
Inhalt
Im ersten Beitrag beschreibt die Autorin Ilse Schrittesser einleitende Überlegungen zum Buch, dabei stellt sie zum einen das Kindeswohlvorrangigkeitsprinzip als Ausgangslage der Untersuchung dar. Im zweiten Teil des Beitrags definiert Sie den Begriff der Diversität und Heterogenität im Kontext von Begabtenförderung. Im dritten Teil geht Sie auf das Forschungsdesign und methodologische Überlegungen der Studie ein. Abschließend widmet sie sich kurz den Ergebnissen der Untersuchung und damit den Inhalten der darauf folgenden Beiträge.
Die Einzelbeiträge werden im zweiten Kapitel von der Autorin Andrea Fraundorfer eröffnet die sich der Frage nach dem pädagogischen und psychologischen Verständnis von Begabung und dessen gesellschaftliche und pädagogische Konsequenzen widmet. Zudem beschreibt Sie die Begabtenförderung als Teil des inklusiven Verständnisses von Lehren und Lernen und versucht damit die Unterscheidungspraxis zwischen begabt und unbegabt zu durchbrechen. Im letzten Abschnitt beschäftigt sich die Autorin mit der Frage, welche Bedeutung der Begabtenförderung im Kontext von sprachlicher, ethnischer und sozialer Diversität zukommt und welche Herausforderungen dadurch im pädagogischen Feld entstehen.
Im dritten Kapitel beschreibt Ilse Schrittesser das Thema Begabtenförderung im Rahmen der Inklusion. Dabei geht sie darauf ein, wie Begabungen von Schülern und Schülerinnen identifiziert und gefördert werden können, Defizite kompensiert und festgelegte Kompetenzniveaus sichergestellt werden können. Zudem sollen fruchtbare Lerngelegenheiten identifiziert werden und zu weiteren Lernerfahrungen führen, die das Potenzial der Lernenden fördert. Dafür beschreibt die Autorin zwei videografierte Unterrichtsszenen aus dem Forschungsprojekt. In einem weiteren Unterkapitel geht Ilse Schriftesser auf den aktuellen Diskurs zum Thema Begabung ein und widmet sich dem Paradigmenwechsel des Begabungsbegriffes von der bloßen Messung der Intelligenz, hin zu einem dynamischen Phänomen. Abschließend geht sie darauf ein, ob ein Begabungsbegriff überhaupt notwendig ist oder ob es ausreichend erscheint, Förderung so zu konzipieren, dass man sich mehr am Interesse des Kindes orientiert.
Im Anschluss an Ilse Schriftesser Ausführungen folgen Beiträge, die die Analyse von Unterrichtssequenzen aus didaktischer, bildungstheoretischer und lerntheoretische betrachten.
So untersuchen Bernd Hackel und Alois Stifter im vierten Kapitel Strategien zur Vermittlung von fachlichem Wissen und Können und zeigen typische Strukturmerkmale des reformpädagogischen öffentlichen Schulunterrichts anhand von Fallstudien in Mathematik-, Geschichte- und Biologie. Die Autoren beschreiben anhand ihrer Beispiele wie der Versuch auf die Schüler einzugehen daran scheitert, dass sie wenig Raum für Lernerfahrungen bekommen. Den Autoren zufolge werden Routinen eingeübt, ohne sie vorher verstanden zu haben.
Im fünften Kapitel gehen Sabine Freudhofmayer und Katharina Rosenberger auf die Bedeutung der Anerkennung im schulischen Kontext ein. Dabei greift der Beitrag erstmal den Begriff der Anerkennung im erziehungswissenschaftlichen Diskurs auf und geht anschließend im Rahmen des durchgeführten Forschungsprojektes anhand eines Unterrichtsbeispiels auf die empirische Perspektive zum Thema ein. Dazu werden unterrichtliche Interaktionssituationen aufgegriffen, die sich unter dem Aspekt der Anerkennung ereignen. Anerkennung selbst wird in diesem Zusammenhang nicht nur im Sinne von Wertschätzung, sondern auch als Voraussetzung für die Entwicklung des eigenen Selbst, dem Zusammenspiel von Anerkennung und Verkennung, der Verwobenheit von Anerkennung und Macht sowie dem performativen und produktiven Seiten im Anerkennungshandeln gesehen. In einem abschließenden Resümee wird das breit gefächerte Verständnis von Anerkennung und die darauf aufbauende Gestaltung der pädagogischen Beziehungen unter der Perspektive eines begabungsfördernden Unterrichts diskutiert.
Im sechsten Kapitel betrachten Monika Perkhofer-Czapek, Renate Potzmann und Denise Hofer auf der Grundlage des Zusammenhangs zwischen Partizipation und Begabungsförderung das Prinzip des partizipativen Lernens nach Klaus Holzkamp und wenden sich der Frage zu, inwieweit Lehrer*Innen im Unterricht partizipative Lerngelegenheiten ermöglichen bzw. ermöglichen können. Zur Beantwortung dieser Frage analysieren die Autorinnen Unterrichtstranskripte an Schulen im Primär- und Sekundärstufen, die im Rahmen des vorliegenden Forschungsprojektes erstellt wurden. Dabei wird das Datenmaterial nach situativen Praktiken in Unterrichtsgesprächen gelenkt, die Aspekte des partizipativen Lernens ermöglichen könnten. Um das ganze exemplarisch zu veranschaulichen werden anhand zweier Beispiele Unterrichtssequenzen sichtbar gemacht. Ein Beispiel geht den Aspekten der subjektiven Sichtweise und des wissenssuchenden Nachfragens nach, während ein kontrastierendes Beispiel die vorauswissenden Fragen im Dienst des Lehr-Lern-Kurzschlusses betrachtet. Daraus leiten die Autorinnen ausgehend von Holzkamps These „Lehren als Lernbehinderung“ Überlegungen zu Ihrer eigenen Hypothese „Lehren als Lerngelegenheit“ ab. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion zur Realisierung des partizipativen Lernens im Spannungsfeld strukturbedingter Paradoxien und dem Ausloten von partizipativen Lerngelegenheiten in institutionellen Handlungsmustern.
Im siebten Kapitel wenden sich Linda Huber, Bernhard Schratzberger und Sven Sebastian Grundmann der Fragestellung zu, inwieweit narrative Leitbilder der ihnen inhärenten Ansprüche gerecht werden kann. Im Mittelpunkt steht die Rekonstruktion der Vorstellung einer „inklusive Begabungsförderung“. Zudem wird analysiert, wie diese Vorstellung das soziale Handeln beeinflusst und welche intendierten und nicht intendierten Konsequenzen sich daraus ergeben. Anhand von narrativen Interviews wurde eine Schule mit dem Schwerpunkt der Begabungsförderung im musischen-künstlerischen Bereich untersucht. Sowohl die Schulleitung als auch Lehrer*Innen und Schüler*Innen wurden nach den Motivgründen für den musischen Begabungsschwerpunkt und Ihrer Auffassung von Begabung befragt. Dadurch konnte aufgezeigt werden, dass sowohl in Bezug auf das soziokulturelle Milieu als auch im Hinblick auf die Interessen und Ressourcen der Schüler*Innen exklusiv vorgegangen wird.
Christa Bauer und Maria Winter gehen im achten Kapitel der Frage nach, welche Konstrukte von Begabtenförderung die pädagogische Haltung der Lehrkräfte an zwei unterschiedlichen Schulen leiten. Dazu gehen die Autorinnen einleitend auf die Leitbilder und Programme der Schulen und die Heterogenität der Schülerschaft in Form von sozialer, sprachlicher und kultureller Diversität ein, die für die Lehrkräfte in unterschiedlichem Maße als Herausforderung wahrgenommen werden. In einer Interviewanalyse der Lehrkräfte und der Schulleitung arbeiten die Autorinnen die Bewältigungsversuche für den Umgang mit Heterogenität heraus und untersuchen, wie sich diese Überlegungen in den täglichen Unterrichtssituationen umsetzen lassen. Dabei beschreiben Sie eine deutliche Diskrepanz zwischen den Vorstellungen und den sichtbaren Praktiken im Unterricht. Abschließend stellen die Autorinnen Überlegungen an, wie diese Diskrepanzen überwunden werden können.
Die nun folgenden drei Buchbeiträge sind nicht unmittelbar im Rahmen des im Buch vorgestellten Forschungsvorhabens entstanden. Dennoch sind die Autor*Innen der Beiträge eng an das Vorhaben gebunden und bringen sowohl erweiternde als auch ergänzende Fragestellung mit ein.
Die Autorin Julia Reischl widmet sich in diesem Zusammenhang in Kapitel neun der Interaktionsordnung des Unterrichts und seine Störungsanfälligkeit und geht der Frage nach welche Interaktionsordnung der Aufrechterhaltung des Unterrichtsprogramms im Umgang mit Störungen dienen und wie diese sich auf das Lernen der Schüler auswirken. Mit Hilfe einer rekonstruktiven Fallanalyse arbeitet sie Routinen und Rituale als wesentliche Mechanismen der koordinierten Interaktion im Unterricht heraus. Aus den daraus folgenden Ergebnissen im Bezug auf Handlungspraktiken werden dann Erkenntnisse für die pädagogische Beziehung zwischen Lehrpersonen und SchülerInnen abgeleitet.
Im zehnten Kapitel wirft sich Antonia Paljakka einen Blick hinter die Kulissen des Unterrichts und thematisiert Hindernisse eines lern- und bildungsförderlichen Unterrichts auf gesellschaftlicher, schulischer und auf der Interaktionsebene. Dafür stellt sie zunächst das österreichische Schulsystem als einen möglichen Auslöser der verstärkten Selektion dar, die zu einer erhöhten Vererbung von Bildungschancen führen. Im Hinblick auf die systembedingten Hindernisse zieht die Autorin Erkenntnisse aus dem Projekt der „Begabungsförderung als Kinderrecht im Kontext von sprachlicher, ethnischer und sozialer Diversität“ heran. Den Schwerpunkt legt die sie dabei auf die Förderung von Potenzialen, Interessen oder Begabungen auf der Ebene des sozialen Geschehens, insbesondere des sozialen Phänomens Bullying. So geht die Paljakka der Frage nach inwiefern Bullying dazu beiträgt, dass die Schule an Qualität als begabungs-, lern- und leistungsförderliche Umgebung verliert. Gleichzeitig betrachtet sie die Fähigkeiten der Lehrpersonen, um Hindernisse auf der Ebene der Lehrer-Schüler*In-Beziehung entgegenzuwirken. Abschließend zieht sie ein Resümee zu den Ergebnissen.
Im letzten Kapitel widmet sich Barbara Neunteufl der Frage wie lernwirksamer und Bildungsprozesse anregender Unterricht durch eine auf diese Ziele ausgerichtete Lehrer*Innenbildung sichergestellt werden kann. Dabei greift sie auf Daten des vorliegenden Forschungsprojektes zurück und erarbeitet sie im Hinblick auf die erforderlichen Kompetenzen die Lehrkräfte im Klassenzimmer benötigen. In diesem Zusammenhang konnte sie herausstellen, welche Kompetenzen im Umgang mit Diversität und zur Förderung individueller Interessen und Fähigkeiten hilfreich wären. Allerdings konnte sie anhand der Aussagen der Lehrer deutliche Unterschiede an den Schulen herausstellen. Abschließend weist die Autorin im Hinblick auf die Lehrerbildung darauf hin, dass Diversität inzwischen bereits bei Aufnahmeverfahren an den Universitäten und Hochschulen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, um bereits Studieninteressierte für diese Unterrichtsrealität zu sensibilisieren.
Fazit
Alle Beiträge des Buches verdeutlichen, dass ein kompetenter und sensibler Umgang mit den einzelnen Interessen, Voraussetzungen und Fähigkeiten eines Kindes maßgeblich für einen gelungenen Lernprozess sind.
Gleichzeitig zeigt das Buch aber auch die Vielschichtigkeit des Phänomens der Diversität und seine diversen sozialen Konstruktionen und mögliche pädagogische Handlungsweisen. Somit bietet es ein umfassendes und differenziertes Bild zum Thema Begabungsförderung im schulischen Kontext, bei dem es nicht lediglich darum geht eine kleine Gruppe genetisch bevorzugter Kinder durch eine besondere Förderung hervorzuheben, sondern vielmehr darum wie man auf die individuellen Begabungen eines jeden Kindes eingehen sollte. Eine lohnenswerte Lektüre für Student*Innen in der Lehrerausbildung aber auch für die Lehrkräfte in der Praxis.
Rezension von
Britta Gauding
Bachelor of Science Psychologie, staatlich geprüfte Ergotherapeutin
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