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Rita Marx, Ann Kathrin Scheerer (Hrsg.): Auf neuen Wegen zum Kind

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 14.06.2019

Cover Rita Marx, Ann Kathrin Scheerer (Hrsg.): Auf neuen Wegen zum Kind ISBN 978-3-8379-2877-8

Rita Marx, Ann Kathrin Scheerer (Hrsg.): Auf neuen Wegen zum Kind. Chancen und Probleme der Reproduktionsmedizin aus psychoanalytischer Sicht. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2019. 230 Seiten. ISBN 978-3-8379-2877-8. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.

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Thema

Die Lektüre behandelt die Chancen und Probleme der modernen Reproduktionstechnologie aus historisch-kulturtheoretischer, medizinethischer, soziologischer und psychoanalytischer Sicht.

Autoren und Herausgeberinnen

  • Prof. Dr. Rita Marx ist Erziehungs- und Sozialwissenschaftlerin und lehrt Psychologie und Pädagogik an der Fachhochschule Potsdam und ist als Psychoanalytikerin in freier Praxis in Berlin tätig.
  • Ann Kathrin Scheerer ist niedergelassene Psychoanalytikerin in Hamburg und leitet mit Rita Marx den Arbeitskreis »Neue Familienformen und ihre Kinder« in der deutschen Psychoanalytischen Vereinigung.
  • Christa Hoffmann-Riem war Professorin am Institut für Soziologie der Universität Hamburg und zu Forschungszwecken in Berkeley, Havard und Tulane und veröffentlichte 1984 »Das adoptierte Kind«.
  • Prof. Dr. Andreas Bernard ist Professor für Kulturwissenschaften am »Centre für Digital Culture« an der Leuphana-Universität Lüneburg und war 1995 – 2014 Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung.
  • Dr. Tobias Fischer ist Medizinethiker und Wissenschaftskoordinator mit den Schwerpunkten Forschungsethik, Individualisierte Medizin und Reproduktionsmedizin; er koordinierte bis 2018 das Department für Ethik, Theorie und Geschichte der Lebenswissenschaften in Greifswald und fördert jetzt wissenschaftlich den medizinischen Nachwuchs der Universität Rostock.
  • Anne Meier-Credner ist Diplompsychologin und Psychotherapeutin und arbeite als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Braunschweig im Bereich klinische Psychologie; sie ist Vorstandsmitglied des Vereins Spenderkinder und setzt sich für deren Rechte und Bedürfnisse ein.
  • Sven Riesel arbeitet nach dem Studium der Kulturwissenschaft und Geschichte im Museumsbereich und – selbst ein Spenderkind – journalistisch im Bereich Reproduktionsmedizin.
  • Kerstin Bruchhäuser hat an der Bauhaus-Universität in Weimar in Kunst und Design promoviert und ist – selbst durch eine heterologe Insemination gezeugt – Mitglied im Verein Spenderkinder.
  • Rebecca Schmidt, durch eine anonyme Samenspende gezeugt, 2017 wurde die ärztliche Praxis verurteilt, Auskunft über die Identität des genetischen Vaters zu geben, ein Urteil, das noch nicht vollstreckt wurde.
  • Émilie Moget ist Psychologin und Sozialwissenschaftlerin und arbeitet an der Fakultät für Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Université Louvain-La-Neuve und schreibt eine Doktorarbeit zum Thema ‚Ödipuskomplex in gleichgeschlechtlichen Familien‘.
  • Prof. Susann Heenen-Wolff ist Psychoanalytikerin und Professorin für klinische Psychologie an den Universitäten Louvain-La-Neuve und Université Libre de Bruxelles; im gleichen Verlag ist von ihr »Gegen die Normativität in der Psychoanalyse« (2018) erschienen.

Entstehungshintergrund

Die veränderten Lebenssituationen von nicht dem klassischen Familienmodell entsprechenden Elternpaaren und Kindern stellen nicht nur herkömmliche Strukturen infrage, sondern auch Wert- und Moralvorstellungen ob alles, was machbar ist, auch ethisch zu verantworten ist. Überlegungen und erste Untersuchungsergebnisse werden zur Diskussion gestellt.

Inhalt

Neue Wege zum Kind – Neue Seelenlandschaften? (Rita Marx & Ann Kathrin Scheerer; 6 Seiten)

Schon der Titel zeigt, dass es den Herausgeberinnen darum geht, eher Fragen zu stellen als Antworten zu geben angesichts der aktuellen Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin. Die herkömmliche Familie als eine natürliche Ordnung wird infrage gestellt durch In-vitro-Fertilisation (IVF) oder Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) und die Normalisierung gleichgeschlechtlicher (Ehe)-Beziehungen. Die künstlich gezeugten Wunschkinder und ihre Familien (zu Dritt, Viert oder Fünft aufgespaltene Elternschaften) haben ethische Implikationen in Bezug auf Offenheit in den Eltern-Kind-Beziehungen, das Erleben der Kinder und der sozialen Umwelt und zudem auch theoretische, wie z.B. herkömmliche psychoanalytische Konzepte der Psychodynamik des bewussten und unbewussten Erlebens bei allen Beteiligten gerecht werden.

Psychische Aspekte der Reproduktionstechnologie – Erfahrungen aus einer psychoanalytischen Praxis (Ann Kathrin Scheerer; 14 Seiten).

Der Wandel von Elternschaft durch die Reproduktionstechnologien wird vorgestellt und anhand der Adoptionsforschung und ersten empirischen Daten eine vorsichtige und vorläufige sozialwissenschaftliche Folgeneinschätzung. Scheerer beschreibt die unterschiedlichen Anforderungen an die Eltern bei

  1. verwandtschaftlicher Zugehörigkeit des Kindes mit beiden oder
  2. mit nur einem Elternteil und die daraus resultierenden unterschiedlichen Beziehungsqualitäten und die sozialen Barrieren beim Durchbrechen der ‚natürlichen Ordnung‘. 

Wahrheitsgemäße oder falsche Selbstverortung aufgrund der Kommunikation zwischen Eltern und Kind können eine Belastung (auch durch falsche genealogische Selbstverortung) für das Kind sein. Durch die zunehmende Fragmentierung der Elternschaft steigen die Anforderungen an das Kind, selbst seine Beziehungen zu den Fragmenten zu bestimmen. Möglicherweise fehlt den Kindern eine bestimmte Basis des Vertrauens bei einem nicht natürlichen Lebensanfang.

Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie (Andreas Bernard; 17 Seiten).

Nach einem historischer Überblick über die Entwicklung der Kleinfamilie als Ort der Intimität und das Stiefmutterproblem beschreibt der Autor die Reproduktionsmedizin als eine ‚Rettung der Familie‘ und geht auf die Unterschiede zwischen narrativer(Abstammung) und genetischer Verbindungen ein unter Hinweis auf die »Heilige Familie«, in der auch der soziale Vater Josef nicht der Erzeuger war.

Ethische Auseinandersetzungen um reproduktionsmedizinische Verfahren der Familiengründung (Tobias Fischer; 16 Seiten).

Im Gegensatz zur Moral als Summe aller sittlichen Werte und handlungsleitenden Überzeugungen einer Gesellschaft reflektiert und hinterfragt Ethik Moralvorstellungen, insbesondere wenn moralische Überzeugungen miteinander in Konflikt geraten. Kinderlosigkeit ist keine Krankheit, sondern ein Leiden an ungewollter Kinderlosigkeit und einem unerfüllten Wunsch, den die Reproduktionsmedizin erfüllen kann. Bei den heterologen Verfahren ergeben sich gemeinsame Verpflichtungen, die bei einem Auseinanderfallen der sozialen und genetischen Elternschaft im Interesse des gezeugten Kindes erst geklärt werden müssen, einschließlich der Zumutung für das Kind, durch eine donogene Insemination (fehlende Herkunft) entstanden zu sein. Auch der donogene Vater (oder die Mutter) hat eine Verantwortung gegenüber dem gezeugten Kind, nicht gegenüber den Eltern; das betrifft nicht nur lesbische Paare. Inwieweit darf der Gesetzgeber die Normativität familiärer Lebensplanung vorgeben und in die Fortpflanzungsfreiheit eingreifen? Bei Eizellspenden (bereits legal in Britannien, Spanien, Tschechien und Dänemark) hat das Kind zwei Mütter; es wird eine Gleichbehandlung mit Samenspenden gefordert, wobei in beiden Fällen die Gefahr einer Kommerzialisierung nicht ausgeschlossen werden kann. Auch wenn persönliche moralische Entscheidungen der Eltern eine Rolle spielen, gehören Informations- und Beratungsangebote in die ethische Verantwortung der Gesellschaft durch eine Zusammenarbeit zwischen fortpflanzungsmedizinischen Zentren und psychosozialen Beratungsstellen.

Familiengründung durch Samenspende oder Familiengründung zu dritt? (Anne Meier-Credner; 29 Seiten)

Die Autorin beschäftigt sich mit den psychosozialen Aspekten der Aufklärung des Kindes über seine Herkunft. Der Spender als genetischer Vater gehöre zur Familie und beeinflusse Gedanken, Gefühle und Reaktionen der Eltern. Eine Geheimhaltung erschwert eine aktive Auseinandersetzung und trübt das Verhältnis Kind-Eltern, selbst bei Wunscheltern; die Angst vor einer unfreiwilligen Enthüllung belastet die Beziehung. Ein Kind hat ein – inzwischen auch gesichertes (Samenspenderregistergesetz 2018) – Recht auf Kenntnis seiner Abstammung. Dennoch klären auch heute noch viele Eltern zu spät oder gar nicht auf. Meier-Credner meint, dass auch zu dem noch unbekannten Vater eine Beziehung bestehe (?), sicher ist dass sich Kinder mit dem unbekannten Vater (oder der Mutter) und dessen Familie in der Phantasie beschäftigen und auch mit der Frage nach möglichen Halbgeschwistern.

Der Kinderwunsch selbst geht auf ein Bedürfnis des Eltern zurück, und das Kind ist als ‚Wunschkind‘ besonderen Erwartungen ausgesetzt. Die Sprache ‚Spender‘ wird den Bedürfnissen der Kinder nach nicht nur einem sozialen sondern auch einem genetischen ‚Vater‘ nicht gerecht. Ethisch ist fraglich, ob es überhaupt vertretbar ist, ein Kind in die Welt zu setzen, für das man sich in keiner Weise verantwortlich fühlt. Dass das die Kinder belastet geht aus vielen Gesprächen und Fallbeispielen hervor, wobei es nicht nur um den genetischen Vater geht, sondern die über mehrere Generationen zurück zu verfolgende Familiengeschichte. Selbst eine frühe Aufklärung löst dieses Problem nicht. Bei der Eizellspende – auch medizinisch nicht ganz problemlos – kann es eine genetische und biologische Mutter geben, was sich erschwerend auf die Identitätsentwicklung des Kindes auswirken kann und oft erst im Erwachsenenalter virulent wird. Das gleiche gilt auch für eine Familiengründung mit Embryonen Dritter und Vierter, die weder psychologisch noch ethisch unproblematisch sind. Desinteresse der genetischen Eltern wird von Kindern als Kränkung erfahren und ist nicht leicht zu verarbeiten.

»Spenderkind« – Familiale Verortung als Vater und Sohn (Sven Riesel; 13 Seiten).

Sehr persönlich berichtet der Autor von seinen Unsicherheiten und Zweifeln in der Kindheit, bedingt durch Ähnlichkeitsvergleiche, und wie diese auch das Verhältnis zu den Eltern belasteten. Der genetische Vater war für ihn nicht der ‚Spender‘ sondern der ‚Vater‘. Unter den anonymisierten Bedingungen in der DDR gelang es ihm nicht, den genetischen Vater, und mögliche Halbgeschwister, ausfindig zu machen. Das Problem der Herkunft setzt sich fort der eigenen Kinder- und Enkelgeneration, wenn diese nach den genetischen Groß- und Urgroßeltern fragt.

Gespräch mit Spenderkindern (Rita Marx, Ann Kathrin Scheerer, Kerstin Bruchhäuser, Rebecca Schmidt & Sven Riegel; 36 Seiten).

Die ausführlichen dokumentierten Gespräche, an denen drei Spender-Kinder teilnahmen, drehten sich um Fragen wie: Frühe Zweifel an der Herkunft wegen Ähnlichkeiten und Unterschieden, die Möglichkeit offener Gespräche mit den Eltern über deren Verantwortung nach der Aufklärung und wie die Aufklärung die familiären Beziehungen verändert hat. Weitere Themen waren die – auch – ambivalente Suche nach den Vätern und Halbgeschwistern (»Seelenverwandtschaft« oder »Massenprodukt«?), Wunschkind oder Wunschobjekt, die ‚Kälte‘ der künstlichen Befruchtung und wie man später in einer Partnerschaft lebt mit dieser ‚Lücke‘ in der Biographie.

Analyse der psychischen Entwicklung von Kindern, die mit zwei Müttern aufwachsen (Émilie Moget & Susann Heenen-Wolff; 27 Seiten).

Es handelt sich um eine qualitative Forschung mit der Frage nach der Ausbildung der sexuellen Identität bei den zwei über einen längeren Zeitraum beobachteten Kindern, die in einer lesbischen Familie aufgewachsen sind. Die Daten stammen aus Paargesprächen und Beobachtungen und projektiven Tests, die mit den Kindern in verschiedenen Altersstufen gemacht worden sind.

Ethan, 9 Jahre, konnte von dem lesbischen Paar, von denen eine das Kind ausgetragen hatte, den Vater nicht erfahren. Es wurde aber offen mit seiner Herkunft in seinem sozialen und familiären Umfeld umgegangen. Die wiedergegebene Familienzeichnung zeigt eine weibliche erste Mama und eine eher männliche zweite Mama, wobei die Bindung an die erstere deutlich größer ist; ergänzt wird das Bild durch einen Kamin – mit Feuer – und einem langen aufrechten Abzugsrohr. Dieses Bild, das für mich – entgegen den Interpretationen der Autorinnen – einen hoch besetzten phallischen Symptomcharakter hat, passt auch zu der beschriebenen ausgeprägten männlichen Identifizierung von Ethan. Allerdings steht das phallische Symbol deutlich im Abstand zum Familienbild und das könnte auch darauf hinweisen, dass hier eine – eher überstarke – männliche Identifikation ausserhalb der Familie oder in der Phantasie stattgefunden hat. Intellektuell waren beide untersuchten Kinder normal entwickelt und zeigten keinerlei Defizite.

In der zweiten Familie gab es zwei Jungen, acht und viereinhalb Jahre alt, wobei nur eine die leibliche Mutter beider Kinder war (ungeklärt ob vom gleichen oder verschiedenen Spendern). Beide lassen sich ‚Mama‘ nennen, mitunter zusätzlich mit dem Vornamen. Trotz der Erklärungen fragt der Jüngere, etwas vitalere, immer wieder nach seinem Papa, während Adrien, der ältere, mehr in sich gekehrt ist und auch keine Fragen stellt. Ein Bild von Adrien zeigt meiner Ansicht nach mehr, als die Autorinnen angeben: Einerseits eine intakte Familie, gestaffelt nach Grösse und Altersangaben ziemlich realistisch (wenn auch als Strichfiguren gezeichnet), dazu ein Hase (anstelle des in der Familie vorhandenen Hundes), was vielleicht doch ein ‚Angsthase‘ (?) ist, denn was das Bild vor allem beherrscht ist ein großes schwarzes (!) Haus, das nur durch zahlreiche kleine Fenster etwas heller erscheint und eine kaum erkennbare Haustür hat, und daneben eine kleines phallisches Symbol eines Baumes. Wolken und ein Flieger über allem sind nur mit schwachen Konturen angezeigt. Das Haus, aus dem Rauch aufsteigt, erscheint mir (?) aber gewalttätig wie eine – eher bedrohliche – black box. Ich habe mich gefragt, ist das das Bild für die ‚geschwärzte‘ Familien-, Herkunftsgeschichte?

Nach den Schlussfolgerungen der Autorinnen sind Verallgemeinerungen nicht möglich, doch meinen sie auf ‚eher banale Abwehrmechanismen‘ (Verdrängung, Verbot, Vermeidung) im Gegensatz zu Verleugnung und Spaltung oder pathologische Projektionen gestoßen zu sein, was ich angesichts der Zeichnung für eine gewagte Schlussfolgerung halte.

»Es ist alles ganz normal« – Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen (Rita Marx; 36 Seiten).

Die Autorin berichtet über zwölf Familien mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen, die in leitfadengestützten Interviews mit narrativen Elementen über ihre Erfahrungen mit der Familiengründung, den Alltag des Familienlebens und ihren Blick auf die Kinder berichtet haben. Der Kontakt kam über das Regenbogenfamilienzentrum Berlin und berufliche Verbindungen der Interviewerinnen zustande. Die Zeugung erfolgte bei zwei Familien über eine Samenbank, fünf hatten einen Spender aus dem Bekanntenkreis, in einer Familie stammten die Kinder aus der vorigen sexuellen Beziehung einer Partnerin, bei drei handelte es sich um Pflegefamilien (zwei mit Vätern, eine mit Müttern), in einem Fall hatte das schwule Elternpaar eine Leihmutter in Anspruch genommen. Entsprechend den unterschiedlichen Interviewpartnern gab es auch unterschiedliche Wege zur Familiengründung, in jedem Fall aber waren die Konflikte und Anstrengungen nicht vergleichbar mit dem, was heterosexuelle Paare bewältigen. Der Wunsch nach einem Kind wurde nicht hinterfragt, sondern gehörte für die lesbischen und schwulen Paare zu ihrem normalen Lebensentwurf und bedeutete auch die Hoffnung auf Sicherung einer lebenslangen emotionalen Verbindung.

Es ist offen inwieweit ihre Projektionen und Übertragungen auf die Kinder diese in der Entwicklung beeinflussen. Beziehungswünsche und -ansprüche waren unterschiedlich gestaltet, trotzdem war eine ‚Leerstelle‘ zu beobachten, die vor allem von den Kindern gefüllt werden musste. Die Aufklärung der Kinder war mit Ängsten verbunden, wie die Kinder diese aufnehmen und man ihnen ihre Entstehungsgeschichte verstehbar machen kann. Das war für Pflegeeltern leichter als für lesbische Paare, insbesondere in Bezug auf den Kontakt zum genetischen Vater (oder Mutter). Die Hoffnung bei allen Familien war, dass die Konstellation der Familie für die Kinder (und ihre Umgebung) als „normal“ wahrgenommen wird. Der Umgang mit dem anderen Geschlecht wurde durch die Einbindung von Freunden, Verwandten und Bekannten unterstützt und überhaupt eine Normalisierung angestrebt, die sich sowohl auf das äußere als auch auf innere Zusammenleben bezog in der Hoffnung, dass das nicht in einem sexuellen Akt gezeugte Kind doch zu einem Kind der Liebe zwischen zwei Menschen wird.

Anschließend bringt die Autorin ihre eigenen Überlegungen zu den Interviews: Einerseits war sie dankbar für die Bereitschaft der Männer und Frauen, offen über ihr Leben und ihre Beziehungen zu sprechen, über ihre Selbstdeutungen, Rationalisierungen, Klarheit, Widersprüchlichkeit, Nachdenklichkeit und Bagatellisierungen, andererseits stellten sich auch ambivalente Gegenübertragungsgefühle ein von Befremdung, Sorge und Verärgerung und aber auch Zuversicht und Hoffnung. In der Interviewsituation fand partiell eine projektive Identifizierung statt in dem Bemühen, den Alltag im Leben der Familie plausibel zu machen und zu rechtfertigen. Eine ‚fremdartige Berührtheit‘ stellte sich ein, gleichzeitig mit der Sorge, ob die Hoffnung der Eltern, dass die Kinder später verstehen, warum die Eltern diesen Weg zum Kind gewählt haben, berechtigt ist Das kann auch als Parentifizierungswunsch verstanden werden und Überanpassung und Verleugnung von Aggression aufseiten der Kinder zur Folge haben. Die Verbindung von Liebe, Sexualität und Kinderzeugen bleibt eine Leerstelle im Leben der Kinder, die auch die Eltern nicht füllen können, weil sie real ist. Möglicherweise entwickeln sich Narrative i.S. einer »Urscene eigener Art« in einer warmen, haltenden und entwicklungsfördernden Familie. Gut ist es sicher für die Kinder, wenn sich die Eltern ihrer Defizite ohne Verleugnung bewusst sind. Weitere Untersuchungen sind notwendig, wie Kinder die soziale und innerpsychische Aufgabe bewältigen, ihre Kontakte, Beziehungswünsche und Verlustängste im Geflecht der unterschiedlichen biologischen und sozialen Verbundenheiten aktiv zu gestalten und seelisch zu verarbeiten. Hilfreich kann das Bewusstein einer existentiellen Zugehörigkeit und die ‚Bildung einer stabilen, alle ihre Selbstaspekte integrierende Identität‘ sein.

Diskussion

Die Zahlreichen Aspekte, Fragen und Probleme, die in diesem Buch angesprochen werden, können in der Rezension nur annähernd wiedergegeben werden, weil sie Grundfragen der Identität berühren. Welche Bedeutung hat die bislang vielleicht gar nicht hinterfragte Verbindung von Sexualität, Liebe und Entstehungsgeschichte für das Selbstbewusstsein und die Verwurzelung in einer Generationen übergreifenden Familiengeschichte? Auch ‚normal‘ gezeugte Kinder werden nicht gefragt, ob sie auf die Welt kommen wollen oder nicht. Und auch wenn sie Wunschkinder sind, können die Eltern nicht wissen, was sie auf die Welt bringen und ob das Kind ihren Wünschen und Vorstellungen entspricht. Doch schon das Vergleichen und Suchen nach Ähnlichkeiten deutet auf den Wunschhin, Verbindungen herzustellen und an Generationen übergreifend anTradiertes anzuknüpfen.

Wir gehen davon aus, dass – bis auf Ausnahmen – Eltern sich ihrer Verantwortung bewusst sind und keine Angst vor den Fragen ihrer Kinder haben. Auch behinderte Kinder, die sicher keine ‚Wunschkinder‘ sind, werden meist angenommen und geliebt, mitunter so, dass ihnen im Schutz der Familie die Behinderung gar nicht bewusst wird, da sie selbst nicht als ‚Hindernis‘, sondern als Bereicherung erlebt werden. Diese elementare ursprüngliche Verbundenheit muss in den im Buch beschriebenen Familien erst aufgebaut werden und ist begleitet von Unsicherheit und Ängsten der Eltern, die realistisch sind, weil sie nicht wissen können, wie Kinder diese – als narzisstisch erlebte Kränkung – aufnehmen und verarbeiten werden.

Nicht alles was machbar ist und auch nicht alles, was gut gemeint ist, ist deshalb gut. Der Unsicherheitsfaktor ‚Kind‘ begleitet diese Elternschaften, ist allerdings auch in herkömmlichen heterosexuellen Beziehungen vorhanden, aber – bis auf Vergewaltigungen – nicht bezogen auf den Ursprung. Die evtl. zahlreichen, verstreuten, untereinander nicht verbundenen ‚Wurzeln‘ sind offensichtlich für die Kinder ein Problem, sodass nicht überraschend ist, dass sie sich vor allem – wie wiederholt angegeben wurde – unter Spenderkindern (unter Ihresgleichen) aufgehoben und zuhause fühlen. Selbst für viele Eltern ist dieses Problem nicht leicht, mitunter auch gar nicht zu integrieren und zu lösen.

Man hätte gar kein Gesetz erlassen müssen, dass die Kinder ein Recht auf Kenntnis ihrer Spender haben, wenn das selbstverständlich gewesen wäre. Weitere Untersuchungen sind notwendig, was diese bewusste und unbewusste Abwehr der Eltern zu bedeuten hat, die stärker – wie auch die Reaktion der Kinder zeigt – einen emotionalen als einen intellektuellen Hintergrund hat.

Fazit

Ein aufregendes, anregendes Buch, das Probleme nicht löst und auch nicht lösen kann, aber Fragen stellt, denen wir aufgrund der Entwicklung der Reproduktionsmedizin nicht mehr ausweichen können und die sich mit der zunehmend perfektionierten Medizintechnologie auch in anderen Bereichen stellen, ob alles, was machbar ist auch ethisch vertretbar und im Hinblick auf die Betroffenen auch wirklich gut ist. Den Autoren und dem Verlag ist für diese Publikation zu danken.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 14.06.2019 zu: Rita Marx, Ann Kathrin Scheerer (Hrsg.): Auf neuen Wegen zum Kind. Chancen und Probleme der Reproduktionsmedizin aus psychoanalytischer Sicht. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2019. ISBN 978-3-8379-2877-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25439.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.


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