Reimer Gronemeyer: Die Weisheit der Alten
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 22.05.2019

Reimer Gronemeyer: Die Weisheit der Alten. Sieben Schätze für die Zukunft. Verlag Herder GmbH (Freiburg, Basel, Wien) 2018. 216 Seiten. ISBN 978-3-451-60043-2. D: 25,00 EUR, A: 25,80 EUR, CH: 33,90 sFr.
Thema und Entstehungshintergrund
Modernisierung, Beschleunigung, Anpassung an die technologischen Anforderungen gelten als Fortschritt und Ziel heutiger Gesellschaft. Wer da nicht mithalten kann oder will, wird an den Rand gedrängt oder „vergessen“. So ist es auch mit der Lebenskompetenz, der Weisheit von Menschen, die Wissen aus ihrem Leben mitbringen, das nicht modern zu sein scheint oder mit Menschen, die von Hilfe abhängig sind, wie z.B. die vulnerable Gruppe der von Demenz Betroffenen. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, Menschen in ihrem Geworden-Sein zu sehen und situationsübergreifende Fähigkeiten aufzudecken, die kollektiv wertvoll sind.
Autor
Prof. Dr. Dr. Reimer Gronemeyer ist Emeritus des Instituts für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist Theologe, Soziologe und Altersforscher mit Projekten zum besseren Leben mit Demenz, zur Versorgung von AIDS-Waisen im südlichen Afrika, zur Ernährungssicherung in ländlichen Gebieten Tansanias und Namibias. Ihn treiben Themen um, wie z.B. Menschen in lokalen Gesellschaften ent-fähigt werden, wie sie ihre Souveränität verlieren, in Abhängigkeiten eines Systems geraten. Er ist zudem Autor zahlreicher Monographien und Aufsätze und ein unermüdlich Forschungs- und Vortragsreisender. Er ist Mitglied in zahlreichen Fachgremien und Beiräten und Gastprofessor.
Aufbau
Das Buch ist in zwei große Abschnitte gegliedert: Es beschreibt „Die Schätze der Alten“ (S. 9-181) in sieben Punkten und widmet sich danach unter der Überschrift „Perlenfischer“ (S. 183-207) wie das „Wissen der Alten aus der Tiefe“ (S. 183) geholt werden kann.
Inhalt
Die „Schätze der Alten“ (S. 9) sind nach Ansicht des Autors gefährdet, entwertet zu werden, weil sie entweder als wertlos gelten, nicht nachgefragt sind oder als vor-modern gelten. Dem tritt Gronemeyer vehement entgegen und fordert, das „Bild von den Alten“ (S. 13) zu revidieren, die Ignoranz ihnen gegenüber zu überwinden und ihre „Kenntnisse, ihre Kompetenzen, ihre Erfahrungen“ nicht „auf dem Müllhaufen der Geschichte verschimmeln“ (S. 18) zu lassen. Bevor der Autor die sieben Schätze beschreibt, legt er sieben „Querfäden“, um metaphorisch die „Längsfäden“ mit ihnen zu einem Muster zu verweben.
Namentlich sind diese quergezogenen Fäden:
- die Bodenhaftung, das Verwurzelt sein, das Behalten-Wollen und nicht Weg-Werfen,
- der kostbare Starrsinn widerspenstiger Alter,
- das bescheidene und geduldige Leben,
- die Bremsklötze unendlichen Konsums,
- die Abweichler von monotoner Bequemlichkeit,
- das Staunen über das Können der Alten und
- die würdigen Greise.
Die Längsfäden sind die „Schätze der Alten“, die wie folgt beschrieben werden:
- „Mut. Wir müssen nur unsere alten Mäntel rausholen“ (S. 31-50): Gronemeyer wehrt sich dagegen, dass Menschen in ihrer vierten Lebensphase als „Musterfiguren der Bedürftigkeit“ (S. 41) gezwungen werden, sich allen möglichen gesundheitlichen Vorausplanungen zu unterwerfen, zu einem „Planungsprojekt“ (S. 35) zu degradieren und nicht mehr unabhängig und frei sein zu dürfen. Dagegen stellt er die Kraft, die hinter den „abgestaubten Mänteln“ wohnt, die auch Unvernunft enthalten kann, in jedem Fall sich aber nicht einlullen lässt von „billige[r] Reproduktion“ (S. 47) einer nicht mehr erfahrbaren Wirklichkeit, sondern sich der Endlichkeit zu stellen, um den Tod nicht „betrogen“ (S. 48) zu werden.
- „Liebe. Wo bleibt die wahre Liebe, wenn die Liebe Ware wird?“ (S. 51-69): Um diese Frage zu beantworten, braucht man, so schlussfolgert der Verfasser, „die Schatztruhe der Alten nur zu öffnen, um das ungeheure, alles sprengende Potenzial der Liebe wiederzuentdecken“ (S. 69). Unterlegt mit vielen Beispielen aus der Literatur schreibt er von einer bedingungslosen und nicht zu beweisenden Liebe, die nicht zu erreichen ist mit Arznei, nicht mit Robotern und Fernreisen und auch nicht romantisierend, sondern als eine Kraft, die auch den Schmerz des Lebens auszuhalten hilft.
- „Erinnerung. Warum die Großeltern Zauberer sind“ (S. 71-100): Nicht weil sie Märchen erzählend der angeblich guten alten Zeit nachhängen, haben die Großeltern Zauberhaftes an sich, wie Gronemeyer ihre Erfahrung, ihre „Ahnung von der Bedeutung (…) dieses Augenblicks“ (S. 91) zusammenfasst, sondern weil sie Erinnerungen und ein soziales Erbe mit sich tragen, die Zugang zu tieferen Schichten des Lebens ermöglichen, die Trost, Ermutigung, Wegweisung und auch Irritation sein können. Darin steckt mehr als eine „konsumistische Beziehung“ (S. 76) zwischen Jungen und Alten, die sich nicht mehr viel zu sagen haben.
- „Früchte. Wie überlebenswichtig Erfahrungen sind“ (S. 101-118): Am Beispiel der Essenskultur zeigt Gronemeyer auf, wie sich Erfahrungen der Alten über Nahrungsgewinnung und Subsistenzwirtschaft in den Großstädten (Urban Farming) auszahlen könnten. Denn sie wissen um die Zeit, die es braucht, Nahrung zu produzieren, zu ernten, Essen individuell und nuanciert zuzubereiten, einzulagern und wieder zu verwerten. Darin drückt sich Wertigkeit aus, die konträr zur Normierung und Universalisierung der Nahrungsaufnahme steht, die ohnehin hauptsächlich unterwegs und nebenbei stattfindet.
- „Gelassenheit. Wie die Freiheit im Alter wachsen kann“ (S. 119-136): Hinter diesem „wachsen kann“ steckt eine facettenreiche Reflexion des Autors über das „Wesen“ der Gelassenheit, die genauso wenig als „letzte Arbeitsaufgabe des Lebens“ (S. 123) oder als Imperativ für das Alter zu verstehen ist, wie als Resignation oder als eine „Tugend der Verbrauchten“ (S. 129). Gelassenheit sei eine Haltung, ein Vertrauen in das was kommt, ein „Nein danke“ (S. 133) zu einem „aktivistischen Mainstream“ (S. 133), auch eine lebensfrohe Askese, „im Sinne einer befreienden Gelassenheit, die ihre Ohnmacht kennt“ (S. 135). Eine solche Gelassenheit sei nur noch in „Ecken und Winkeln“ (S. 136) zu finden. Zu wünschen sei jedoch, dass sie sich, so sein Bild, „in die Gesellschaft“ (S. 136) ergießen möge.
- „Tradition. Warum der Boden wichtig ist, auf dem wir stehen“ (S. 137-165): Er ist es, weil er, so der Autor, die Möglichkeit bietet, „Teil von etwas zu werden“ (S. 145), festzuhalten an dem, was wichtig ist, z.B. an der Vielfalt der Kulturgüter, seien es Lieder, Samen oder Gegenstände, und sie nicht erst zu schützen, wenn sie vom Aussterben bedroht zu sein scheinen. Der Boden bestimmt gewissermaßen auch die Perspektive, von der aus wir die Welt betrachten und uns dessen bewusst werden, dass es unterschiedliche, aber gleichberechtigte Zugänge gibt – bewahrende ebenso wie verändernde, die sich im Aufeinandertreffen – so wäre es zu wünschen – etwas zu sagen haben.
- „Wissen und Nichtwissen. Warum die Alten keine Besserwisser sind“ (S. 167-181): Die simple Antwort könnte lauten, weil viele von ihnen das Aktuelle nicht mehr wissen, weil sie nichts mehr behalten, weil sie im Wissen der Vergangenheit leben und in der Gegenwart fremd sind. Und dennoch teilen sie etwas mit, was für sie Sinn macht, der „sich uns aber verschließt“ (S. 179). Menschen mit Demenz nehmen anders wahr, spüren und empfinden mit der Seele, sie tragen nach außen, was in ihnen schlummerte und öffnen, wie Gronemeyer es formuliert, „Verschlussklappen in uns, die wir normalerweise verdeckt halten“ (S. 178). Und darin verbirgt sich auch Wissenswertes.
Im kürzeren, zweiten Abschnitt des Buches (S. 183-207) betätigt sich Gronemeyer als Perlenfischer „in den Ablagerungen der Gesellschaft“ (S. 185) und beginnt mit der Frage ob die Alten etwas Wissenswertes wissen, das nicht museal, Müll oder verbrannt ist? In der Tat veraltet, verlischt und vermüllt Wissen, und dennoch gibt es, wie der Autor es nennt, „an Scherbenhaufen“ (S. 190) erinnernde Schätze, die zum Kristallisationspunkt „einer Eisscholle“ (S. 190) werden können, „auf die sich die Überlebenden retten können“ (S. 190). Anhand mehrerer Gedichte verdeutlicht er, wie alte Menschen Werte verkörpern und leben können, die sie „unverwechselbar – und niemals uninteressant“ (S. 197) machen, die sie zu Anstiftern und Kundschaftern macht, die „Menschen mehr lieben als Produkte“ (S. 197).
Das Buch endet mit einer Danksagung (S. 209) und den Anmerkungen (S. 210- 216).
Diskussion
Gronemeyer versteht es fesselnd zu schreiben, tief einzutauchen in die Schätze seines Wissens und seiner Erfahrung, sie zu heben und zu vermitteln, und auf den ersten Blick unverbunden erscheinende Sachverhalte miteinander zu verknüpfen und auf diese Weise verblüffende Einsichten und Erkenntnisse zu gewinnen. Er nimmt verschiedene Rollen ein, greift biographisch bedeutsame Momente auf, bettet sie ein in den kulturgeschichtlichen Kontext, bisweilen auch in kulturvergleichende oder interkulturelle Überlegungen und reichert sie mit soziologischer und theologischer Expertise an. Mit sprachlich ausgefeilter Akribie vermag er mit Exkursen, an Beispielen, an Weltliteratur oder über theologische Schriften (auch aus dem Neuen Testament) über mehrere Seiten hinweg, teilweise dem Leser / der Leserin als Umweg erscheinenden Ausführungen und Anfeindungen heraus zu arbeiten, worin sich z.B. ein Schatz des Lebens erweist. Die Kunst besteht darin, das Komplexe, das nicht so einfach auf einen Punkt zu bringende, in Sprache zu gießen, den Kern und den Inhalt zu beschreiben – im Abgleich mit dem, was nicht gemeint ist, mit aussagekräftigen Bildern. Gronemeyer nimmt kein Blatt vor dem Mund, beschönigt nichts, gibt sich nicht als Besserwisser, sondern eher als Mahner. Er vertritt aber seine Meinung und kritisiert gesellschaftliche Entwicklungen.
In diesem Buch bekommen vor allem diejenigen Menschen im Alter ihr Fett ab, die so tun als ob sie die Realität verkennen könnten, als würde es den Jungbrunnen geben, so als müssten sie sich oder andern beweisen, nicht zu altern. Gronemeyer prangert das Verleugnen von Altern und Alter an, nicht das Alt-, Veraltet- oder Verrückt-Sein. Zugleich wird er nicht müde, die bisweilen zwar negierten oder übersehenen oder als irrelevant erachteten Aspekte älterer und alter Menschen zu suchen und zu heben, die für die Gesellschaft bedeutsam sind, die zur Kultur gehören, die von lokaler Bedeutung sind, die nicht erst ausgerottet werden müssen, um museal bedeutsam zu werden, sondern die jetzt genutzt werden können – für das Überleben.
Fazit
Das Buch kann jeder und jedem empfohlen werden, der/dem etwas daran liegt, das Leben selbstbestimmt in kleinen Gesellschaften leben zu können und die an einem wertschätzenden Zusammenleben der Generationen interessiert sind – persönlich wie beruflich und alt wie jung.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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