Beate Kortendiek, Birgit Riegraf et al.: Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 31.05.2019

Beate Kortendiek, Birgit Riegraf, Katja Sabisch: Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung.
Springer VS
(Wiesbaden) 2019.
1566 Seiten.
ISBN 978-3-658-12495-3.
D: 149,99 EUR,
A: 154,20 EUR,
CH: 154,50 sFr.
Reihe: Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung. Geschlecht und Gesellschaft - 65
Inhaltverzeichnis zu Band 1: https://d-nb.info/1163831549/04;
Inhaltverzeichnis zu Band 2: https://d-nb.info/1178874419/04.
Thema
Das „Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung“ umreißt den aktuellen Forschungsstand im Themenfeld Geschlecht. Dabei wird einerseits ein Überblick über theoretische Ansätze und Denkströmungen gegeben, die in der Geschlechterforschung Bedeutung haben, andererseits wird der Sachstand im Themenfeld Gender in einzelnen Fachdisziplinen vorgestellt.
Herausgeberinnen
- Beate Kortendiek leitet die Koordinations- und Forschungsstelle des Netzwerks Frauen- und Geschlechterforschung NRW an der Universität Duisburg-Essen.
- Birgit Riegraf ist Professorin für Allgemeine Soziologie an der Universität Paderborn.
- Dr. Katja Sabisch ist Professorin für Gender Studies an der Universität Bochum.
Das Handbuch ist als Band 65 der Reihe „Geschlecht und Gesellschaft“ erschienen.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende zweibändige Werk ist in gewisser Weise lexikalisch angelegt, wenn auch die einzelnen Beiträge einen individuellen Fokus aufweisen. Es beinhaltet insgesamt 155 Beiträge, die jeweils etwa zehn Seiten lang sind. Die Beiträge sind in die folgenden sieben Kapitel gegliedert:
- Debatten: hinterfragte Dualismen und neue Sichtweisen der Geschlechterforschung
- Denkströmungen: theoretische und methodologische Grundlagen der Geschlechterforschung
- Disziplinen: fachspezifische Entwicklungen und fachkulturelle Perspektiven der Geschlechterforschung
- Ungleichheiten, Sozialstruktur, Gleichstellung: zentrale Fragen und empirische Zugänge der Geschlechterforschung
- Lebensphasen, Lebensführung, Körper: zentrale Fragen und empirische Zugänge der Geschlechterforschung
- Institutionen, Organisation, Kultur: zentrale Fragen und empirische Zugänge der Geschlechterforschung
- Internationales: Geschlechterforschung weltweit
Aufbau
Den drei Herausgeberinnen Beate Kortendiek, Birgit Riegraf und Katja Sabisch ist es gelungen, eine große Zahl von Wissenschaftlerinnen für das „Mammutprojekt“ zu gewinnen. Die Beiträge vermitteln einen Einblick in die Forschungen der Gender Studies. Dabei wird zunächst an aktuelle gesellschaftliche Debatten (Kapitel 1) und die verschiedenen Denkströmungen (Kapitel 2) angeschlossen, um anschließend auf die Ausprägung der Gender Studies in den einzelnen Fachdisziplinen (Kapitel 3) einzugehen. Die weiteren Kapitel (4, 5, und 6) vermitteln einen sozialen und kulturellen Überblick über den Forschungsstand der Geschlechterforschung. In Kapitel 7 wird schließlich auch der internationale Rahmen gestreift.
Inhalt
Auffallend ist bei den Beiträgen die starke Fokussierung auf „klassische“ Theorien der Geschlechterforschung. So wird in den Beiträgen (u.a. in den ersten beiden Beiträgen des Handbuchs von Friederike Kuster und Astrid Deuber-Mankowsky) etwa ungebrochen an die Perspektiven Thomas Laqueurs zur historischen Trennung eines „Ein-Geschlechter-Modells“ und eines „Zwei-Geschlechter-Modells“ angeschlossen und darauf aufbauend im weiteren Verlauf des Handbuchs der Fokus auf die europäische Moderne gelegt. Für sie wird die bürgerliche Sphärentrennung zwischen den (zwei) Geschlechtern herausgearbeitet. In einer reichen Zahl an Beiträgen werden ökonomische Fragen der Geschlechterordnung behandelt – dabei auf die gesellschaftliche Stellung von Frauen und Männern fokussiert und insbesondere die Herausbildung und Herabwürdigung von Care-Arbeit herausgestellt (insbesondere Kapitel 4, aber auch mehrere Beiträge in Kapitel 1 und Kapitel 2). Umfassendere Ausführungen zu vormodernen Gesellschaften, etwa Betrachtungen zum europäischen Mittelalter und zur Antike, fehlen hingegen weitgehend.
Die disziplinären Beiträge fokussieren auf kultur-, sozial- und gesellschaftswissenschaftliche Fachrichtungen. Hier sind jeweils auch Beiträge vorhanden, die auf einzelne Unterdisziplinen eingehen und ein reiches Bild vom aktuellen Erkenntnisstand zeichnen. Hingegen wird auf naturwissenschaftliche Bereiche sehr kursorisch geblickt. So gibt es etwa nur einen Beitrag zur Biologie, anstatt auch hier zu differenzieren: nach Genetik, Mikrobiologie, Immunbiologie, Evolutionsbiologie, Botanik, Zoologie etc. Beiträge zur Physik, Chemie, Geologie, Astronomie (auch hier jeweils ggf. spezifisch für ihre Teilgebiete) fehlen vollkommen – obgleich es auch zu diesen Disziplinen mittlerweile umfassendere Forschungen der Gender Studies gibt. Auch christliche, jüdische und muslimische Theologie tauchen unter den Fachrichtungen nicht auf – hingegen ein Beitrag der Religionswissenschaften, der allerdings den facettenreichen Forschungsstand der theologischen Disziplinen nicht zu fassen vermag.
Im Vergleich der Beiträge zueinander werden klassische differenz- und gleichheitsfeministisch orientierte Ansätze mit solchen unter dekonstruktivistischen Vorzeichen verhandelt. Dabei sind Beiträge versierter Queer-Theoretiker*innen rar und wird Dekonstruktivismus nicht selten unter der (zu kurz greifenden) Prämisse verhandelt, dass er Sprache fokussieren und „Materie“ nur unzureichend betrachten würde. Entsprechend fordern Beiträge zu einem „New Materialism“ und zu „Natur- und Geschlechterverhältnisse[n]“ eine neue Zuwendung zur „Materie“ ein, die sie im Sinne bloßer (aktiver) Stofflichkeit verstehen, anstatt an Erkenntnisse der Physik anzuschließen, nach denen ein – immerhin seit Beginn des 20. Jahrhunderts – neuer Materie-Begriff gerade nicht auf eine „anfassbare Stofflichkeit“ verweist, sondern darauf, dass „Stoff“ ein Äquivalent von „Energie“ darstellt und es entsprechend um die Untersuchung von Prozessen gehen müsste (dabei wäre dann Sprache etc. im kultur- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich selbstverständlich ebenfalls als „materiell“ zu verstehen und könnte von den „materialistischen“ Analysen nicht ausgeschlossen werden).
Fünf Beiträge mit queerem Vorzeichen tauchen im Handbuch ebenfalls auf.
Diskussion und Fazit
Das „Handbuch Interdisziplinäre Geschlechterforschung“ gibt einen oft sehr guten und reflektierten Einblick in einige Themenfelder der Geschlechterforschung. Bei mehr als 1.500 Seiten erwartet man allerdings einen einigermaßen umfassenden Überblick, insbesondere wenn das Handbuch als „interdisziplinär“ angekündigt wird. Der gelingt aufgrund der Auslassungen nicht: Statt einen „Materialismus“ einzufordern, wäre eine gründliche Darstellung des Forschungsstandes der Naturwissenschaften aus Geschlechterperspektive ebenso wünschenswert, wie über Einsichten der Altertumswissenschaften hinsichtlich der nicht haltbaren simplen Unterscheidung eines „Ein-Geschlechter-Modells“ vs. eines „Zwei-Geschlechter-Modells“ nicht einfach hinweggegangen werden sollte. Ein Handbuch dieser Größenordnung für die Wissenschaften soll Jahre prägen – das bedeutet auch, dass die miteinander ringenden Positionen gut zueinander gestellt und miteinander in Diskussion gebracht werden sollten.
Für eine Fortsetzung – möglicherweise einen dritten Band – wäre ebenfalls wünschenswert, dass lesbische, schwule, bisexuelle, trans*, inter* und queere Perspektiven stärker zur Geltung kommen und dass in deutlich größerem Maße auch Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen of Color für die Abfassung von Beiträgen gewonnen werden.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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