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Edith Sheffer: Aspergers Kinder

Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, Prof. Dr. Dr. Christoph Hiendl, 04.06.2019

Cover Edith Sheffer: Aspergers Kinder ISBN 978-3-593-50943-3

Edith Sheffer: Aspergers Kinder. Die Geburt des Autismus im "Dritten Reich". Campus Verlag (Frankfurt) 2018. 356 Seiten. ISBN 978-3-593-50943-3. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Autorin

Edith Sheffer ist eine amerikanische Historikerin, die an der Stanford University arbeitet. Ihr Spezialgebiet ist die deutsche Geschichte im zwanzigsten Jahrhundert.

Entstehungshintergrund

In sachlicher Hinsicht knüpft das Buch an die umfangreichen Forschungen zur Aufarbeitung des Euthanasie-Programms im Wien der Nazizeit an. Es führt diese Untersuchungen mit der ausführlichen Darstellung des Karrierewegs von Hans Asperger fort, der am Kindereuthanasieprogramm zumindest mittelbar beteiligt war und sich zu dieser Zeit mit der Beschreibung der ‚autistischen Psychopathie‘ akademisch so profilierte, dass er eine glanzvolle Nachkriegskarriere starten konnte und schließlich in den 1980er Jahren bei der Ausdifferenzierung der Autismusdiagnostik mit einer Benennung nach ihm geehrt wurde.

In einer persönlichen Hinsicht ist die Autorin als Mutter eines dreizehnjährigen Sohnes mit einer Asperger-Diagnose am Verhältnis von diagnostischen Etiketten und Exklusion interessiert. Im Nachwort des Buches lässt sie dazu ihren Sohn zu Wort kommen.

Aufbau

In der Einleitung wird die zentrale Fragestellung entwickelt. Sheffer will zeigen, wie Kinder „dem Diagnoseregime der NS-Psychiatrie ausgeliefert wurden“ (p.12) und dass „Aspergers Diagnose der ‚autistischen Psychopathie‘ […] ihren Ursprung in den Wertvorstellungen und Institutionen des Dritten Reichs“ (ibd.) hatte. Die einzelnen Kapitel folgen dann der chronologischen Entwicklung von Aspergers Lebens- und Karriereweg von der Gründung und der Glanzzeit der Heilpädagogischen Abteilung der Universitätskinderklinik im Roten Wien zu ihrer Nazifizierung in den frühen 1930er Jahren, die Aspergers Karriere begünstigte. Die Darstellung geht dann weiter zum Beginn der Kindereuthanasie und deren Orchestrierung durch theoretische Diskurse um die ‚Gemüthaftigkeit‘, einer mystifizierten Gemeinschaftsfähigkeit, die als sehr weites Kriterium für eine Aussonderung diente. Mit ihr operiert auch Aspergers Beschreibung der autistischen Psychopathie, mit der er sich 1944 habilitierte. Die Habilitation und ein vorsichtiger Abstand zur NSDAP waren dann die Voraussetzungen zu Aspergers Nachkriegskarriere, die mit der Benennung des Asperger-Syndroms in den 1980ern schließlich einen Höhepunkt erfuhr.

Inhalt

Die „Einleitung“ stellt die erwähnten Thesen vor und formuliert das Programm, die „andere Geschichte“ (15) von Hans Asperger zu erzählen, die nicht die des mitfühlenden, progressiven Arztes ist, der nach seiner Selbstdarstellung Kinder vor der Euthanasie gerettet hat, sondern der „auf verschiedenen Ebenen an der systematischen Tötung von Kindern“ (ibd.) beteiligt war. Zugleich wird auf die derzeit rasante Entwicklung der Autismusdiagnose eingegangen mit ihrer Ambivalenz zwischen begrüßenswerter Neurodiversität, zu der Asperger einen Beitrag geleistet hat, und dem Menetekel der kategorial geleiteten sozialen Exklusion.

Im Kapitel „Auftritt der Experten“ wird der persönliche Werdegang und Charakter von Asperger geschildert. Dabei wird auch die Frage angeschnitten, ob Asperger ein Asperger-Syndrom hatte, einige Züge davon scheint er bei sich selbst wahrgenommen zu haben. Ausführlich wird die Situation im Wien nach dem Zusammenbruch der Monarchie geschildert, besonders geht Sheffer auf die die Herausbildung der interventionistischen Wohlfahrtspolitik des ‚Wiener Systems‘ ein, in der sich bereits in den 1920er Jahren eine Diskussion zu einer positiven und negativen Eugenik entwickelt hat. Die Soziale Arbeit erscheint in diesem System als Kontrollorgan.

Als zentrale Figur für die Entwicklung der Heilpädagogik an der Universitätskinderklinik in Wien wird Erwin Lazar herausgestellt. Sein Einsatz für den Ausbau einer klinischen Heilpädagogik erscheint als Versuch, die Bestrebungen von Wohlfahrt und Justiz rational zu leiten. ‚Heilpädagogik‘ meint dabei nicht nur eine Sonderpädagogik, sondern eine ganzheitliche medizinische Kinderpsychiatrie. Für dieses Projekt gewann Lazar die Unterstützung des berühmten Pädiaters Clemens von Pirquet, und so kam es zur Gründung der Heilpädagogischen Abteilung (HPA), die auch als Diagnosestelle im regionalen Wohlfahrts- und Bildungssystem fungierte. Mit der Übernahme der Kinderklinik durch Franz Hamburger 1930 zog ein autoritäres Regime in die Kinderklinik ein, ihre wissenschaftliche Bedeutung aus der Zeit von Pirquets ging rasch verloren. Es kam zur Entlassung jüdischer und liberaler Mitarbeiter. 1931 stellte Hamburger Asperger ein und machte nach Lazars Tod und einem kurzen Interregnum den dann 28-Jährigen schon 1934 zum Leiter der HPA. Mit Asperger kam auch Erwin Jekelius an die Kinderklinik, ein österreichischer Nazi, der später an den Spiegelgrund wechselte und die Kindertötungsabteilung leitete.

Die „Diagnose der Klinik“ schildert das Innenleben der HPA, ihr empathisches Klima, die Versuche, eine kindgerechte Umgebung zu schaffen, die Ansätze zu einer Spieldiagnostik und auch die etablierte Abstinenz gegenüber Diagnosen und Labels. Eine tragende Rolle spielte dabei die Pflege, voran Viktorine Zak als Oberpflegerin.

Sheffer belegt hier eine kollektive Beschreibung der autistischen Phänomene durch das Team der HPA, auch bereits ihre Verbindung mit einseitigen Begabungen. Sie kann hier mehrere Zeugnisse aufführen, die nicht auf Asperger zurückgehen und aus dem Jahrzehnt vor seiner Habilitationsschrift stammen.

„NS-Psychiatrie und sozialer Geist“: 1934 ließ sich Asperger zwei Monate beurlauben, um im Zentrum der deutschen Kinderpsychiatrie an der Universität Leipzig bei Paul Schröder als Assistenzarzt zu hospitieren. Schröder hatte die Nazifizierung dieser Einrichtung vorangebracht und die deutsche Kinderpsychiatrie und die Heilpädagogik in die „nationalsozialistische Kinderpsychiatrie“ (77) transformiert. Schröder war eine Leitfigur für Asperger und im Sinne der Erhaltung der Volksgemeinschaft entwickelten er und seine Kollegen ein diagnostisches Paradigma, bei dem Gemeinschaftsfähigkeit von Individuen als zentrale Kategorie fungierte. Sie griffen dabei auf das ‚Gemüt‘ zurück, das hier als Ort der Verschmelzung eines Individuums mit dem Kollektiv der Volksgemeinschaft gedeutet wurde. Wer als ‚gemütsarm‘ erschien, wurde zur Bedrohung des Volksganzen, für ihn empfahl Schröder eine „Verwahrung unter einem strengeren Regiment“ (80). Asperger notierte damals in seinem Tagebuch, wie nützlich ihm der Begriff erschien.

In Leipzig lernte er auch Hans Heinze, einen Mitarbeiter Schröders kennen, der bald darauf in Berlin und Potsdam als Chef der Kinderpsychiatrie Berlin und der Landesheilanstalt Potsdam ein führender Akteur des NS-Euthanasieprogramms wurde. Auf eine Schrift Heinzes über intellektuell begabte Gemütsarme bezieht sich Asperger später in seiner Habilitationsschrift. Theorien über Konstrukte wie Gemütsbegabung oder Gemütlosigkeit waren ein großes Thema der deutschen Psychiatrie der dreißiger Jahre. Die soziale Bindungslosigkeit war hier bereits eine pathologische Größe, die von Asperger dann in Österreich mit dem Namen der ‚autistischen Psychopathie‘ eingeführt wurde.

Mit dem Anschluss Österreichs wurde dann die gesamte Medizinische Fakultät Wiens unter Eduard Pernkopf nazifiziert, der gleich zu seinem Antritt eine „Ausschaltung von Erbminderwertigen“ (87) forderte. Die Universitätskinderklinik mit der HPA Aspergers blieb vom Anschluss weitgehend unberührt – sie war bereits durch das Wirken Hamburgers anschlussfähig. Asperger passte sich an. Er wurde zwar kein Parteimitglied, begann aber als psychiatrischer Experte für den nationalsozialistischen Jugendgerichtshof zu arbeiten, er wollte auch beraterisch für die Hitlerjugend tätig werden und trat in den NSDÄB ein. Hatte er sich noch 1937 im Geist der alten HPA gegen ein pauschalierendes Kategorisieren von Kindern gewandt, radikalisierte sich nun sein Denken. Mit seinem jetzt eingeführten diagnostisches Label der ‚autistischen Psychopathie‘ entsprach er dem Zeitgeist. Seine Definition umfasst dabei eine Störung der Instinktfunktionen und der Anpassung an die Umwelt sowie eine Störung des Verständnisses für die Situation und der Beziehungen zu anderen Menschen. Manche der Betroffenen seien auch zu besonderen Leistungen fähig, er warnte jedoch vor einer „unbrauchbaren“ „autistischen Originalität“ und verweist auf die „gemütlosen Bosheiten“ (95) dieser Kinder.

Bezogen auf seine Rolle im System bejahte er entschieden die Verantwortung des NS-Arztes für die Rassenhygiene, dem absoluten Vorrang des Volkes vor dem Einzelnen. Gleichzeitig finden sich bei ihm auch immer wieder Äußerungen für eine individuelle Betrachtung des Kindes, die Sheffer aber als „warmherzige Rhetorik“ wertet, die in gleicher Weise auch Hamburger pflegte – auch noch als die Praxis „längst mörderisch geworden war“ (94).

„Menschenleben auf dem Index“ erzählt von Aspergers Zusatzaufgabe bis Juli 1940 als Leiter der „Motorisierten Mütterberatung“. Diese „Aufklärungseinheit des NS-Regimes“ (99) bestand aus Teams mit einem Kinderarzt, einem Sozialarbeiter und einer Schwester der Volkswohlfahrt, die auf dem Land zum Gesundheitsstatus der Kinder Erhebungen durchführten. Beim Einsetzen der Euthanasie wurden diese Daten dann als Grundlage genutzt. Diese Tätigkeit gab Asperger nach etwas einem Jahr zugunsten einer nebenberuflichen Tätigkeit als Mitarbeiter des Wiener Hauptgesundheitsamtes auf, wo er an der ‚Erbbestandsaufnahme‘ mitwirkte und seine Expertentätigkeit als passgenaue Sortierleistung für den menschlichen Abfall („Misteimer“, 107) erläuterte. Aspergers Arbeit hier wird in den Rahmen der totalitären Bemühungen des Regimes um eine umfassende Bestandsaufnahme mit dem System der Erbgesundheitsgerichte gestellt. Die tatsächliche Willkür der Beurteilungskriterien der Wiener Mitarbeiter an diesem Projekt, die „körperliche, seelische, soziale, wirtschaftliche und rassische Kriterien“ (109) vermengten, steht dabei im Gegensatz zu Aspergers wissenschaftlichen Beratungsanspruch.

„Tödliche Theorien“ kontrastiert die Tötungspraxis des Kindereuthanasieprogramms am Spiegelgrund mit den Beiträgen der ersten Konferenz der Deutschen Gesellschaft für Kinderpsychiatrie und Heilpädagogik im September 1940, die Paul Schröder in Wien organisierte und die der „Nationalsozialistischen Kinderpsychiatrie zum ersehnten Durchbruch“ (119) verhalf. Asperger nahm an der Konferenz teil und berichtete für ‚Der Neurologe‘ davon. Die Beiträge der Tagung schwankten zwischen einem normalisierenden Behandlungsprogramm für problematische Kinder, vertreten durch die wenigen ausländischen Teilnehmer, und einem von den deutschen Teilnehmern vertretenen streng normativen Programm, das an der Passung für das Volksganze orientiert war und die Selektion der nicht-passenden Kinder befürwortete. Die Beiträge der Heilpädagogen waren dabei in gleicher Weise orientiert wie die der deutschen Kinderpsychiater.

„Asperger und das Tötungssystem“ beleuchtet wie Asperger vor Ort in Wien mit den Protagonisten der Kindermorde zusammenarbeitete. Er gründete 1941 die Wiener Heilpädagogischen Gesellschaft zusammen mit seinem Mentor Hamburger sowie Max Gundel, dem Leiter des Wiener Hauptgesundheitsamtes, und Erwin Jekelius. Dieser engagierte sich rassenpolitisch für die Euthanasie als festen Bestandteil des NS-Gesundheitswesens und war direkt für die Ermordung von tausenden Erwachsenen und hunderten von Kindern am Steinhof verantwortlich. Ihm wurde dann bald sein Verhältnis zu Hitlers Schwester Paula zum Verhängnis. Hamburger leitete Experimente, die Kinder TBC-Erregern und extremen Temperaturschwankungen aussetzen. Von diesen Aktivitäten seiner Kollegen wusste Asperger und befürwortete sie. Auf einer Versammlung der Gesellschaft warb er vor niedergelassenen Ärzten für eine Überweisung von ‚schwierigeren Fällen‘ an den Spiegelgrund, wo sie im günstigeren Fall einer ambulatorischen Beobachtung oder aber einer ‚länger dauernden stationären Beobachtung‘ zugeführt werden sollten – letzteres war der Code für die Überweisung in die Tötungsabteilung von Jekelius bzw. seines Nachfolgers Ernst Illing.

Aspergers Rolle im Tötungssystem fasst Sheffer so zusammen: Er nahm nicht so aktiv Teil wie seine Kollegen der Gesellschaft, „aber er gehörte zum Club“ (160) und war als Überweiser in das Tötungsprogramm, als Mitglied einer Auswahlkommission sowie als Berater von Ämtern und als Propagandist der Tötung beteiligt.

„Mädchen und Jungen“ beleuchtet die unterschiedliche Einschätzung Aspergers von Kindern unterschiedlichen Geschlechts. Es werden zwei Jungen vorgestellt, die Asperger als Belegfälle in seiner Habilitationsschrift verwendet, sowie zwei Mädchen mit ähnlicher Phänomenologie, aber deutlich anderer Bewertung. Bei der Einschätzung folgt Asperger der Ideologie des Dritten Reichs. Die Jungen werden bevorzugt, aus ihrer Erscheinung wird der Typus der erziehbaren und gemeinschaftsfähigen Ausprägung der Psychopathie extrahiert, ihre zufällige Herkunft aus der Oberschicht wird grob verallgemeinert, die „feinen prinzenhaften, für das Alter schon sehr differenzierten Züge“ (178) erhalten pathognomische Qualität und Asperger vermutet eine generelle Verbindung der autistischen Psychopathie mit einem höheren Sozialstatus. Die Mädchen werden dagegen mit einer „Einkaufsliste“ (179) von Problemen stereotyp-oberflächlich beschrieben. Wie wenig Aspergers Beschreibung dabei zutrifft, rekonstruiert Sheffer aus den erhaltenen Akten. Sie resümiert: „Die Diagnosen in der NS-Psychiatrie waren von tödlicher Willkür“ (190). Die Mädchen werden dem Euthanasieprogramm überstellt, die Jungen werden „geduldig und fürsorglich“ (ibd.) behandelt. Wie undifferenziert, wie voreingenommen die Beispielfälle von Asperger beschrieben werden, wird ausführlich dargelegt. „Aspergers Vorstellung von der autistischen Psychopathie war eine totalisierende, gleichzeitig jedoch vollkommen amorphe Diagnose“ (191 f.). Er sieht bei dieser Störung ein Spektrum im Schweregrad, das von begabten normalen Menschen, d.h. Männern, bis zu „intelligenten Automaten“ reicht. Seine Gesamturteil über die betreffenden Kinder ist negativ, sein diagnostische Label war unter den Bedingung seiner Zeit ein „psychiatrisches Todesurteil“ (204).

„Das tägliche Leben mit dem Tod“ zeigt das entsetzliche Innenleben der Einrichtung am Spiegelgrund an konkreten Einzelschicksalen und den Erinnerungen Überlebender. Es zeigt aber auch die Verflochtenheit der Anstalt in ein ganzes Netz von Sozialdiensten, brutalen Kinderheimen und Besserungsanstalten. Dass dabei auch vormals progressive Einrichtungen wie die Kinderübernahmestelle, ein Modellprojekt des Kinderschutzes aus der Zeit des ‚Roten Wien‘ beteiligt war, erscheint als „böse Ironie der Geschichte“ (207). Reaktionen und ein mitunter auch verstörendes Verhalten von Angehörigen werden thematisiert, belegt wird auch die Bekanntheit der Kindermorde in Wien als ein offenes Geheimnis.

„Im Dienst der Volksgemeinschaft“ stellt das Euthanasieprogramm in den Kontext der vielfältigen Mordprogramme der Nationalsozialisten und beleuchtet die besondere Rolle der österreichischen Bürger bei den NS-Gräueln, die im Fortgang des Krieges ausgeweitet wurden. Asperger arbeitete in dieser Zeit „unverdrossen“ und privilegiert an seiner Habilitation, die als Ergebnis einer „oberflächlichen“ Forschung dargelegt wird. Der Radikalisierung des Regimes entspricht bei Asperger eine über die Jahre zunehmend negativere Formulierung des Autismus (245). Der autistische Mensch wird schließlich in seiner Habilitationsschrift als Gegentypus zum nationalsozialistischen Menschen entwickelt. Im Zentrum steht dabei die mit dem Gemütsbegriff operierende Volksgemeinschaftsfähigkeit.

Das abschließende Kapitel „Die Abrechnung“ wendet sich der Entwicklung nach dem Krieg zu. Für die Kinder vom Spiegelgrund waren die Leiden mit dem Krieg keineswegs zu Ende. Sie wurden mit dem Personal nach Schloss Wilhelmienenburg verlegt, wo weiter ein Regime aus „Grausamkeit und Gewalt“ herrschte, vielleicht sogar mit gezielten Tötungen (255). Asperger ging als gering Belasteter aus der Entnazifizierung hervor und machte Karriere als Chef der Universitätskinderklinik Innsbruck und später Wien. Er stellte sich als Gegner der Nazis dar und behauptete bedrohte Kinder gerettet zu haben, was Sheffer zwar als Möglichkeit sieht, aber keine Belege dafür finden kann (263). Den Forschungsschwerpunkt seiner Habilitation hat Asperger nicht weiter verfolgt. In nur zwei Veröffentlichungen nahm er noch einmal Bezug darauf. Dabei verzichtete er nun explizit auf den Begriff des Gemüts und kehrte zu einer wohlwollenderen Beurteilung der Kinder zurück.

Diskussion

Wolfgang Jantzen hat in seiner Allgemeinen Behindertenpädagogik das Bild von John Langdon-Down ideologiekritisch korrigiert [1] und sich gegen die Bezeichnung ‚Down-Syndrom‘ gewandt. Einen ähnlichen Korrekturversuch stellt das Buch von Sheffer dar, nur arbeitet sie mit einer engagierten und tief schürfenden historischen Quellenanalyse, aus der sich eine radikale Neubewertung der Person Hans Aspergers ergibt.

Das ist das primäre, aber nicht das wichtigste Ergebnis von Sheffers Buch. Mit ihm wird ein Stück der Geschichte der Kindereuthanasie im Dritten Reich vertieft aufgearbeitet. Das ist umso notwendiger, als es Asperger wie anderen Akteuren dieser finsteren Zeit gelungen war, ihre Beteiligung fast vollständig vergessen zu machen. Das weitere Ergebnis des Buches erscheint aber bedeutender, da es nicht nur unser Wissen, sondern unsere Denkformen betrifft. Sheffer kann ihren Anspruch, Aspergers Psychopathie aus dem Volksgemeinschaftsdenken zu rekonstruieren, überzeugend einlösen. Auch wenn die Differenz von Genesis und Geltung einer Theorie auch hier beachtet werden muss, so ist das Buch dennoch geeignet – und darauf zielt es auch – mit den Mitteln der historischen Kritik ein Gegengewicht zur aktuellen diagnostische Autismus-Mode zu setzen und an diesem Punkt das weitgehend selbstverständlich gewordene Kategorisieren von Menschen als ‚behindert‘ oder ‚normal‘ zu relativieren. Die Auswertung einer Fülle von Quellenmaterial, das die Autorin differenziert in seinem Kontext interpretiert, enthält dabei eine Reihe brillanter Passagen. So etwa die Rekonstruktion der Lebenswege der beiden Mädchen, mit der Sheffer zum einen das autoritär-patriarchale Männerbild kontrastierend beleuchtet, aber zugleich auch die Willkür, die Dürftigkeit und grausame Lieblosigkeit der diagnostischen Prozeduren dieser Zeit aufscheinen lässt; oder die Zusammenstellung der zunehmend radikalen Diagnoseversuche Aspergers in Parallele zur Entwicklung zum totalen Krieg. Die Details der Darstellung sind dabei mitunter schwer zu ertragen, brennen sich aber dem Gedächtnis ein: Das Kind, das seine Mörder umarmt; der Handwagen, mit dem die kleinen Toten regelmäßig abtransportiert werden; die Eltern, die in einem Brief Hitler bitten, ihr Kind töten zu dürfen. An diesem drastischen Geschehen zeigt Sheffer materiell die Verschränkung von diagnostischen Etiketten mit sozialpolitischen Faktoren auf.

Daneben ist das Buch auch eine historische Regionalstudie zur Geschichte der Heilpädagogik und der Sozialen Arbeit in Wien und Österreich. Es beschreibt deren Entwicklung über drei Jahrzehnte, von den sozialreformerischen Anfängen bis zur ihrer Abwicklung oder Eingliederung in das nationalsozialistische Regime. Und schließlich kann das Buch auch als Übung in moralischem Denken gelesen werden. Es ist mit Asperger keinem einfachen Fall gewidmet – bei Jekelius und Illing fällt die Beurteilung leichter. Es führt einen ganz normalen Anpasser als Unterstützer des Systems vor, der aber nicht selbst zum direkten Täter wurde und eine gewisse vorsichtige, d.h. um sich besorgte Distanz zum System halten konnte, dabei aber Funktionen im weiteren Umfeld des Euthanasieprogramms bereitwillig übernommen hat. Asperger verfügte nicht über genügend moralische Substanz, um im nationalsozialistischen Umfeld, das ihm persönlich einen komfortablen Karriereweg bot, nicht zum mittelbaren Täter zu werden. Das wird von Sheffer in einer Differenziertheit und Ausgewogenheit dargelegt, die es dem Leser nicht erlauben, sich über Asperger erhaben fühlen zu dürfen.

Aspergers Kinder wurde bislang sehr positiv aufgenommen. Kritisch bemerkte Seth Mnookin[2] in einer Besprechung in der New York Times, dass die Autorin ihr persönliches Interesse zu spät offenlege, und unterstellt damit einen Beurteilungsbias. Eine Urteilsverzerrung der engagierten Autorin wäre aber material zu zeigen, wir können sie nicht erkennen. Und das persönliche Interesse wird auch bereits mit der Widmung und der Einleitung des Buches recht deutlich. Schon hier weist die Autorin auf die mit der Diagnose etablierte Etikettierungsmöglichkeit für alle „sozial ungelenken“ Menschen hin und votiert für Neurodiversität anstelle medizinischer Etikettierung (14 f.).

Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass der Verlag ein wenig an der Korrekturarbeit gespart hat. Bei der Reihe von Fehlern ist vor allem eine sinnentstellende Verwechslung von ‚exogen‘ und ‚endogen‘ auf p. 74 ärgerlich.

Fazit

Das Buch ist eine materialreiche, moralisch hochdifferenzierte und spannende historische Untersuchung. Sie beschreibt die Verstrickung der Kinderpsychiatrie und der Heilpädagogik, besonders der Person Hans Aspergers, in das Kindereuthanasieprogramm der Nazis und entwickelt das diagnostische Label ‚Autismus‘ aus dem ideologischen Denken des Nationalsozialismus.


[1] Jantzen, Wolfgang. Allgemeiner Behindertenpädagogik Band 2. Weinheim: Beltz Verlag. 1990, S. 148.

[2] Mnookin, Seth Was Autism a Nazi Intervention? Rezension zu Aspergers Kinder in der NYT vom 18.06.2018. Online (23.04.2019) unter: https://www.nytimes.com/2018/06/18/books/review/aspergers-children-edith-sheffer.html?searchResultPosition=2

Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Prof. Dr. Dr. Christoph Hiendl
Dozent für Gesundheits- und Sozialmanagement an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management, Hochschulzentrum München
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Es gibt 36 Rezensionen von Carl Heese.
Es gibt 2 Rezensionen von Christoph Hiendl.

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ISSN 2190-9245