Leonie Wagner, Ronald Lutz et al. (Hrsg.): Handbuch internationale soziale Arbeit
Rezensiert von Dr. Monika Pfaller-Rott, 04.07.2019

Leonie Wagner, Ronald Lutz, Christine Rehklau, Friso Ross (Hrsg.): Handbuch internationale soziale Arbeit. Dimensionen - Konflikte - Positionen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2018. 368 Seiten. ISBN 978-3-7799-3137-9. D: 49,95 EUR, A: 51,40 EUR, CH: 64,30 sFr.
Thema
Internationale Sozialarbeit hat sich in unterschiedlichen Ländern differenziert entwickelt. Kritiken an der kolonialisierenden Einflussnahme nordatlantischer Konzepte, wie z.B. die Theorien zur Indigenisierung, belegen die neue Vielfalt. In der Konsequenz muss eine vergleichende internationale Soziale Arbeit Positionen finden, die dies reflektieren. Jenseits der Länderspezifik muss sie aber auch Themen diskutieren, die dem Einfluss der Globalisierung geschuldet sind, weil sie die internationale Soziale Arbeit herausfordern und formen. Diese Debatten werden in diesem Band erstmalig zusammengetragen (Verlagsbeschreibung).
HerausgeberInnen
- Professorin Dr. Leonie Wagner, Dipl. Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin, lehrt Pädagogik und Soziale Arbeit an der HAWK Hochschule Holzminden. Ihre Themenschwerpunkte sind Migration und Inklusion, Ländliche Räume, Genderforschung, Internationale und Interkulturelle Soziale Arbeit.
- Professor Dr. Ronald Lutz, Soziologe und Ethnologe, lehrte an der FH Erfurt, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften. Seine Themenschwerpunkte sind besondere Lebenslagen. Er ist u.a. Herausgeber des Sammelwerkes „Sozialarbeit des Südens“ Band 1 bis Band 6.
- Professorin Dr. Christine Rehklau lehrt Diversität und Interkulturelle Soziale Arbeit an der FH Erfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften. Ihre Themenschwerpunkte sind Migration und Soziale Arbeit, Internationale Soziale Arbeit.
- Professor Dr. Friso Ross lehrt an der Hochschule Kempten Recht im Sozial- und Gesundheitswesen. Seine Themenschwerpunkte sind das Internationale und Europäische Recht, vergleichende Sozial- und Gesundheitsrecht und das Internationale Sozial- und Gesundheitswesen.
AutorInnen
Die einzelnen Beiträge stammen von neu berufenen und renommierten Professoren, Nachwuchswissenschaftler, Studiengangsleiter bspw. für ISA, Intercultural Conflict Management – Studiengänge, die sich theoriegeleitet und forschend mit Internationaler Sozialer Arbeit auseinandersetzen – sowie von Praktikern (z.B. Internationaler Sozialdienst, NGOs, Caritas). Einige Autoren besitzen länderbezogene Erfahrungen in Europa (z.B. Irland, Schweiz, Kroatien, Bosnien und Herzegowina), Afrika (z.B. Tansania, Libyen, Mosambik, Äthiopien, Namibia) und Südamerika (z.B. Mexiko). Hinzu kommen Autoren, die themenbezogen (z.B. UN-Kinderrechtskonvention) und institutionell (z.B. Fachgruppe „Internationale Soziale Arbeit“ in der DGSA, Vorstandsmitglied der International Association of Schools of Social Work) international und national tätig sind.
Aufgrund der Heterogenität des Forschungsfeldes ist eine interdisziplinäre Herangehensweise zielführend; neben der Sozialen Arbeit kommen Beiträge aus den Bereichen Pädagogik, Soziologie, Religionswissenschaft, Ökonomie, Management, Frauenforschung, Europarecht / internationales Recht.
Entstehungshintergrund
Aktuelle Diskussionen (z.B. Peacebuilding, Kinderrechte, Indigenes Wissen, Sozialarbeit des Südens, critical development, Dekolonialisierung, Migration) zeigen den Bedarf an einer analytischen und komparativen Betrachtung konfliktiver sozialer Situationen in unterschiedlichen Regionen der Welt. Diese erfolgt aus einer Perspektive der ISA, die durch internationale / transnationale Forschung und im praxisorientierten internationalen Austausch erarbeitet wurde.
Aufbau und Einleitung
Der Einleitung zum Thema „Internationale Soziale Arbeit zwischen Kolonialismus und Befreiung“ folgen die Bereiche
- Gegenstandsbereich und Geschichte
- Themen und Brennpunkte
- Theorien, Positionen, Recht
Einleitend erfolgt eine Auseinandersetzung mit historischen Aspekten der ISA, gefolgt vom Versuch, einen Bezug zu aktuellen Fragestellungen herzustellen: „Was also ist Internationale Soziale Arbeit oder besser, was könnte sie sein?“ (Seite 8). Leonie Wagner und Ronald Lutz diskutieren die Komplexität der ISA anhand relevanter Aspekte und plädieren dabei u.a. für eine stärkere curriculare Verankerung internationaler Perspektiven in Lehre und Praxis sowie für die Weiterentwicklung dieser Perspektiven. Es folgt eine nachvollziehbare und begründete Einbettung von Fragestellungen dieser Publikation sowie aktueller fachspezifischer kritischer Diskussionen (z.B. Indigenisierung, Weltwissenschaftlichkeit, Soziale Arbeit des Südens, nachkolonialer Soziale Arbeit). Angestrebt wird eine Konzeptualisierung der Sozialen Arbeit, die das Lokale und Globale verbindet sowie eine kritische Auseinandersetzung mit den hegemonialen Wissensformationen des Nordens und den Gegenbewegungen des Südens.
Gegenstandsbereich und Geschichte
Einen Abriss der Geschichte sowie aktuelle Definitionen Internationaler Sozialer Arbeit sowie internationalen Organisationen im Einzelnen aber auch gemeinsamen Aktivitäten gibt Ute Straub in Ihrem Artikel „Definitionen Internationaler Sozialer Arbeit“. Kritisch diskutiert sie dabei u.a. die starke Dominanz asiatischer Partner in der IASSW, die Rolle der Sozialen Arbeit bei der Kolonialisierung und neoliberale Entwicklungen.
Mit den Fragen: „Wann ist Forschung in der Sozialen Arbeit international oder transnational? Gibt es überhaupt eine explizit internationale Forschung?“ beschäftigen sich Grasshoff, Homfeld und Schröer, die beispielsweise 2016 (Internationale Soziale Arbeit: grenzüberschreitende Verflechtungen, globale Herausforderungen und transnationale Perspektiven) gemeinsam ein Standardwerk publizierten aber auch einzeln durch zahlreiche Publikationen bekannt sind. Dabei tragen sie nicht nur mit einem Überblick über die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte in diesem Forschungsbereich bei, sondern erläutern auch aktuelle Aspekte des Vergleichs (Territorium comparationis). Sie monieren einen Mangel an Theorie und Methodologie, den methodologischen Nationalismus und Ethnozentrismus, nehmen Bezug zur sog. large-scale-Bildungsforschung, beschreiben verschiedene Verfahren des Vergleichs sowie Schwierigkeiten (z.B. Konzept duale und linguistische Äquivalenz), diskutieren die Histoire croisée, etc. Nicht zuletzt plädieren sie für eine transnationale Forschungsperspektive mit erweitertem Blick sowie eine partizipative internationale Forschung.
Kritisch beleuchten Tanja Kleibl und Laura Sevenich das Wirken von Entwicklungshelfern in ihrem Artikel „Development, post- development and the alternative beyond-aid debates“. Nach der Darstellung der aktuellen Situation in diesem Kontext fokussieren sie die deutsche Entwicklungskooperation: Economic versus human development. Nach einem Diskurs bisheriger Entwicklungstheorien folgt der Ausblick auf neue Ansätze, z.B. mit dem post development approach.
Aufgrund weltweiter Konflikte beschäftigt sich Inkje Sachau mit zahlreichen Aspekten von Peacebuilding. Sie befasst sich mit politischen und pädagogischen Dimension der Sozialen Arbeit auf lokaler und globaler Ebene, z.B. transitional justice, Friedenspädagogik und indigenem Wissen.
Nicht nur für Studierende und Freiwillige, die sich für einen Lernprozess im Ausland interessieren, sind die Aspekte von Elke Kruse (Internationaler Austausch in der Sozialen Arbeit) eine gewinnbringende Vorbereitungs- und Evaluationsoption. Ihr Artikel beschäftigt sich zudem mit jeglichen Formen des wissenschaftlichen Austausches während des Studiums sowie mit Internationalität/Transnationalität in Wissenschaft, Praxis und Forschung. Die Autorin hat 2015 dazu grundlegend publiziert (Internationaler Austausch in der Sozialen Arbeit. Entwicklungen – Erfahrungen – Erträge).
Themen und Brennpunkte
Im Kapitel Themen und Brennpunkte fasst u.a. Ronald Lutz Aspekte von Armut und weltweiter sozialer Ungleichheiten zusammen. Er diskutiert das Verständnis von Entwicklung, die Rolle der SDGs und die Position der ISA.
Manfred Liebe zeigt den eurozentrischen Blick am Beispiel von Kindheit und Jugend auf, indem er Kindheiten und Jugendkulturen des globalen Südens beschreibt.
Im Anschluss an den Artikel über Gewalt im Geschlechterverhältnis in der Paarbeziehung und beim Frauenhandel von Carol Hagemann-White folgt der zweite englischsprachige Artikel zum Thema: Xenophobia and Social Welfare in South Africa von Ndangwa Noyoo. Sie beschreibt den Kontext des Problems sowie social welfare against xenophobia und trägt dazu bei, eine Facette dieses Landes zu verstehen.
Ein weiterer Aspekt der ISA ist die Gesundheitspolitik und damit verbundene soziale Ungleichheit. In dem Artikel von Ulrike Brizay spielen präventive Ansätze eine große Rolle.
Viel diskutiert wird im Kontext der ISA die ländliche Entwicklung im Kontext der Globalisierung; Philipp Kumria konkretisiert dies am Beispiel tansanischer Kleinbäuerinnen.
Hervorzuheben sei der dritte englischsprachige Artikel: Armed Conflict and Social Workvon Ruth Seifert, da diese Thematik in der Regel im Bereich der ISA eine Vernachlässigung erfährt. Military Social Work, „new wars“ und Sozialarbeit werden interdisziplinär im Kontext des post-conflicts Reconstruction and Neoliberal Peace betrachtet. In der deutschsprachigen Literatur findet sich dieses Thema fast ausschließlich als Randgebiet in Bezug auf das Trauma der Verfolgten, wenn es um Flüchtlinge geht.
Anschließend folgt ein Artikel von Ronald Lutz und Inkje Sachau zum Thema Religiöser Fundamentalismus, verstanden als polarisierende Weltsicht und als Herausforderung für die ISA (z.B. Radikalisierungsprävention).
Aufgrund des hohen Migrationsanteils spielt die ISA als grenzüberschreitende Einzelfallarbeit eine zunehmend große Rolle. Dieser Thematik des International Social Service (ISS, davor ISD) widmen sich Ursula Rölke und Marc Bauer, um anhand ausgewählter Fallkonstellationen die Hürden, das internationale Recht, Akteure etc. zu beschreiben.
Im Anschluss an einen Artikel zu Säkularisierung und Migration in der Sozialen Arbeit von Rabih El-Dick (mit religionssoziologischer Kritik, Perspektiven religionswissenschaftlicher Forschung im Rahmen einer ISA etc.) folgt ein Überblick zu Migration und Flucht von Christine Rehklau und Ronald Lutz. Sie benennen zahlreiche Herausforderungen und Positionierungen der ISA angesichts von zunehmenden weltweiten Fluchtbewegungen, die sich in Forschung und Praxis, Armutsbekämpfung, etc. niederschlagen.
Theorien, Positionen, Recht
Nach bisher sechs Bänden zur Sozialarbeit des Südens und weiteren Publikationen akzentuieren Ronald Lutz und Alexander Strauß diese Debatte sowohl theoretisch als auch praktisch in Abgrenzung zur euro-amerikanischen Sozialarbeit des Nordens. Im Anschluss an die Darstellung der Themenvielfalt (Armut, Kindheiten, Prostituierte, Kindersoldat*innen, afrikanischer Feminismus, Folgen des Klimawandels) werden Ursprünge (z.B. Unabhängigkeitsbewegungen, Befreiungspädagogik, Indigenisierung, Authentisierung, Rekonzeptualisierung) dargestellt und eine Refokussierung verbunden mit einer „radical social work“ diskutiert.
Johann Kniffki betrachtet in seinem Artikel zu „indigenem Wissen“ und Soziale Arbeit diese kritisch, bevor er den methodologischen Nationalismus und die Entseelung von Gemeinschaft und Gesellschaft episodenhaft darstellt.
Kritisch und in Bezug auf die kontextuelle Entwicklung erörtern Ronald Lutz und Inkje Sachau dialektisch und aus dem Wissen der Ethnologie heraus das Thema Reflexive Entwicklung. Ausgehend vom Fall der kolonialen Moderne, der Philosophie der Hoffnung und buen vivir folgt die Forderung nach Dialog und Aushandlung.
Nach einem kritisch beschreibenden Beitrag von Holger Ziegler zu Empowerment und Capabilies diskutieren Günther Graßhoff, Hans Günther Homefeldt und Wolfgang Schröer im Kapitel Transnationale Soziale Arbeit, (TSA) beispielswiese Aspekte der TSA im Kontext von Globalisierung und Kosmopolitismus, die Verflechtungen der TSA in der global social policy sowie den Versuch der Sozialen Arbeit, über die transnational studies ihre eigene Positionierung zu finden.
Nach dem Artikel Universeller Menschenrechtsschutz und regionale Menschenrechtsinstrumentarien – eine Thematik die aufgrund der Präsenz in entsprechenden Konventionen, Gremien etc. in einer solchen Handreichung nicht fehlen darf – von Friso Ross und Matthias Knecht folgt von denselben Autoren eine Darstellung der Kinderrechte im internationalen und supranationalen Recht.
Diskussion
Entsprechend dem Titel „Handbuch Internationaler Sozialer Arbeit“ handelt es sich um einen konzeptionell bewusst breit angelegten Rundumschlag. Er reicht von Entwürfen einer Gegenstandsbestimmung über viele relevante Themen, die global unter diesem Begriff diskutiert werden bis hin zu Forschung und Praxiserfahrungen im Ausland. Die Art der Texte ist eine bunte Mischung aus einführenden Texten (z.B. Internationaler Austausch) und vertiefter wissenschaftlicher Auseinandersetzung (z.B. Internationale / transnationale Forschung). Hervorzuheben ist die selbstkritische Auseinandersetzung mit Gegenwart und Vergangenheit der Disziplin. Intention der Herausgeber dürfte es sein, die Thematik nicht nur aus der Sicht des globalen Nordens zu bearbeiten, sondern auch bekannte Autoren aus dem globalen Süden in den Diskurs einzubinden (z.B. Nayoo Ndangwa aus Südafrika). Auch beim Blick auf die verwendete Literatur finden sich bei nahezu allen Autoren Hinweise auf Forscher des globalen Südens.
Die Auswahl der Themen und Brennpunkte wird leider nicht begründet, ebenso ist die vorliegende Publikation nicht auf eine spezifische Zielgruppe (z.B. Einführungswerk ins Studium, vertiefte Diskussion in der Science Community) hin ausgerichtet. Doch für Akteure, die in Wissenschaft und Praxis, insbesondere aber in der Forschung tätig sind, werden viele relevante Aspekte (Armut, eurozentrischer Blick, Gender Diskussion, Xenophobie, Gesundheitspolitik, ländliche Entwicklung, religiöser Fundamentalismus, bewaffneter Konflikt und soziale Arbeit, die grenzüberschreitende Fallarbeit, Flucht und Migration) aufgezeigt.
Die Aktualität der Themen entspricht gleichzeitig den gegenwärtigen Diskussionen in der Science Community und in der Praxis der ISA: die Relevanz Indigenen Wissens ist durch deren explizite Benennung in der aktuellen Definition zur Sozialen Arbeit (IFSSW, IASSW, 2014 in Melbourne) hervorgehoben. Der Global Peace Index (2019) zeigt zwar, dass die Welt zum ersten Mal seit 2013 friedlicher wird, doch in 76 Ländern hat sich die Lage verschlechtert und somit hat Peacebuilding nicht an Relevanz verloren.
Für Nachwuchswissenschaftler und Master Studierende der Sozialen Arbeit mit internationalen Erfahrungen, die diese theoriegeleitet reflektieren und weiterentwickeln, sind die Beiträge über die Gegenstandsbestimmung und Forschung eine relevante Diskussionsgrundlage zur kritischen Auseinandersetzung.
Fazit
Die vielfältigen und sehr unterschiedlichen globalen Herausforderungen der Gegenwart fordern auch von den Forschern aus dem Bereich der Sozialen Arbeit, die sich mit den internationalen Dimensionen des professionellen Helfens befassen, die Formulierung einer fachlich reflektierten Reaktion. Dieser Aufgabe stellen sich die Herausgeber.
Die gesammelten Beiträge analysieren aktuelle Herausforderungen (Entwicklungsverständnis, Peace Building, Migration Geschlechterverhältnis, ländlicher Raum, …) aus z.T. regional unterschiedlichen Perspektiven und bringen diese mit zukünftigen Fragestellungen in Verbindung. Das Buch enthält sowohl Einstiegswissen für alle, die ISA als Querschnittsaufgabe oder zur fachlichen Vertiefung studieren als auch die fast komplette fachliche Expertise dieser science community für diejenigen, die mit der Komplexität der Thematik vertraut sind. Dazu gehört eine vertiefte Auseinandersetzung mit Gegenstandsbestimmung und Forschung transnationaler Sozialer Arbeit in diesem Kontext. Den Herausgebern ist es zudem gelungen, nahezu alle in dieser Disziplin relevanten Autoren – teils mit jahrzehntelangem Renommee in diesem Bereich, teils bereits namhafte Nachwuchswissenschaftler – in einem gemeinsamen Handbuch zusammenzuführen.
Rezension von
Dr. Monika Pfaller-Rott
Akad. Oberrätin, Dipl. Sozialpäd., Dipl. Pädagogik, Dipl. Management, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Mailformular
Es gibt 10 Rezensionen von Monika Pfaller-Rott.