Marco Bonacker, Gunter Geiger (Hrsg.): Menschenrechte in der Pflege
Rezensiert von Dr. iur. Marcus Kreutz, 10.09.2019

Marco Bonacker, Gunter Geiger (Hrsg.): Menschenrechte in der Pflege. Ein interdisziplinärer Diskurs zwischen Freiheit und Sicherheit. Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2018. 292 Seiten. ISBN 978-3-8474-2182-5. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Thematischer Hintergrund
Viele Lebensbereiche erscheinen bei einem schnellen, kursorischen Blick als einfach. Schnell ist man mit Lösungen bei der Hand, obgleich für die Problemlagen, die in dem jeweiligen Lebensbereich bestehen, kein Fachmann ist. Diese überschnelle vermeintliche Problemlösungskompetenz bei bestehender Laienhaftigkeit ist allzu oft gerade der Komplexität von Schwierigkeiten und Dilemmata geschuldet. Oft meint man aber auch, Komplexität würde nur zum Schein bestehen, um Fachleuten eine Existenzberechtigung zu geben. Würde man den gesunden Menschenverstand einsetzen, wären schnell – zumindest bei ausschließlicher Beteiligung der Gutmeinenden – gelöst. Dass diese Sichtweise keinesfalls der tatsächlichen Komplexität der Welt gerecht wird, dürfte auch bei halbwegs langer Überlegenszeit und der Bereitschaft, seine Voreingenommenheiten zu reflektieren, schnell auf der Hand liegen.
So verhält es sich natürlich auch für das einigermaßen überschaubare Feld der Pflege. Selbst dies relativ klar eingrenzbare Teillebensgebiet bietet so viele verschiedene Facetten und Problemlagen, dass es nicht wunder nimmt, dass auch hier in den Zeitläuften und bedingt durch die technische Entwicklung bzw. dem demographischen Wandel neue, bislang unbekannte oder zumindest unterbelichtete Problemlagen zum aktuellen Thema werden. Gerade die Aktivierung der Menschenrechte in nahezu allen Lebensbereichen führt dazu, dass die Verrechtlichung voranschreitet und unterschiedliche Sichtweise auf Problemlagen Platz greift. Denn schließlich sind gerade die Menschenrechte höchst interpretationsfähig.
Das hier vorzustellende Buch nimmt sich der Thematik der Menschenrechte in der Pflege unter den verschiedensten Blickwinkeln an. Dies allein macht deutlich, dass wir in Zukunft auch auf diesem Gebiet mit rasanten Veränderungen – z.B. des Technikeinsatzes und ihrer menschenrechtlichen Bewertung – zu tun haben werden. Nicht ohne Grund hat sich der Ausschuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung des Deutschen Bundestages mit seinem Bericht über „Robotik und assistive Neurotechnologien in der Pflege – gesellschaftliche Herausforderungen“ vom 15.06.2018 (BT-Drucks. 19/2790) mit dem verstärkten Einsatz von Robotern in der Pflege beschäftigt. Doch nicht nur dieses Thema beschäftigt den Pflegebereich neu bzw. vermehrt. Dies zeigt die Bandbreite der Beiträge, die sich in dem hier vorzustellenden Buch finden.
Herausgeber
Die Herausgeber des Werkes sind Dr. Marco Bonacker, stv. Leiter der Abteilung Erwachsenenbildung im Bistum Fulda und Gunter Geiger, Direktor der Katholischen Akademie Fulda. Diese berufliche Herkunft prägt das Werk auch offensichtlich Christliche und vor allem katholische Blickwinkel auf die Themen dominieren.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist in insgesamt vier Abschnitte gegliedert, die insgesamt 16 Beiträge beinhalten. Folgende Inhalte sind in dem Buch zu finden:
Marco Bonacker/Gunter Geiger: Die Sicherung der Menschenrechte in der Pflege als interdisziplinäre Herausforderung
I. Ethische Grundlagen der Pflege
- Claudia Mahler: Menschenrechte in der Pflege – ein Qualitätskriterium?
- Marco Bonacker: Der Diskurs der Menschenrechte. Freiheit und Verantwortung im Kontext angewandter Ethik in der Pflege
- Hans-Martin Rieger: Demenz als Testfall der Menschenwürde – Auf der Suche nach einem leibgebundenen Verständnis von Person und Würde
- Elmar Nass: Menschenwürdiger Technikeinsatz im Gesundheitswesen: Systematik und exemplarische Anwendung
II. Rechtliche Perspektiven im Pflegeprozess
- Gisela Zenz: Gewaltschutz im Alter. Ethik und Recht vor neuen Herausforderungen
- Axel Bauer: Pflege und Betreuung zwischen Gewaltprävention und Freiheitsermöglichung – Perspektiven vor dem Hintergrund der Novellierung des HGBP
- Helga Steen-Helms: Das Hessische Curriculum zur Vermeidung freiheitsentziehender Maßnahmen – ein interdisziplinäres Schulungskonzept für die Alten- und Behindertenhilfe vor dem Hintergrund des Hessischen Gesetzes über Betreuungs- und Pflegeleistungen (HGBP)
- Anna Schwedler: Die Sicherung der Menschenrechte in der häuslichen Pflege
III. Medizinische Perspektiven in der Pflegepraxis
- Jens Kleffmann: Die Patientenverfügung als Garant für den Patientenwillen in jeder Lebensphase?
- Christoph Lenk: Der ärztliche Gutachter im Pflegeprozess und die Sicherung der Menschenwürde
- Klaus Pfeiffer: Psychosoziale Belastungen bei pflegenden Angehörigen
- Marianne Schneemilch, Jessica Domröse und Thomas Lichte: Die Menschenrechte pflegender Angehöriger. Empirische Befunde und hausärztliche Praxis
IV. Pflegewissenschaftliche Perspektiven auf die Praxis
- Regine Krampen: „Wohltätiger Zwang“ und die Sicherung der Menschenrechte. Ein Diskurs am Beispiel der Anwendung freiheitsentziehender Maßnahmen in stationären Pflegeeinrichtungen
- Regina Lorenz-Krause und Rita Heinrichs: Gewaltfreiheit in der Pflege – Unter besonderer Berücksichtigung pflegewissenschaftlicher und genderspezifischer Ansätze
- Ralph Möhler: Perspektiven einer gewaltfreien Pflege in der Zukunft
Ein Autorenverzeichnis vervollständigt das Werk. Die einzelnen Beiträge schließen mit einem Literaturverzeichnis ab.
Diskussion
Wegen der Vielfältigkeit der Themen, die in dem Buch behandelt werden, können hier lediglich schlaglichtartig einige wenige Beiträge des Werkes einer Bewertung unterzogen werden.
Elmar Nass schildert in seinem Beitrag zunächst einige Messoptionen, die mit sog. SMART-Homelösungen und AAL-Techniken möglich sind (S. 87/88). Alle solche Einsätze von technischen Möglichkeiten in der Pflege bis hin zum Einsatz von sozialen Robotern unterwirft Nass sodann einer exemplarischen Lösung auf der Grundlage eines christlichen Verständnisses der Menschenwürde (S. 89). Dabei ist sein Würdemaßstab der der Akzeptabilität, worunter er das Ergebnis eines Urteils hinsichtlich einer Handlung versteht, deren Folgen, eines Sachverhalts, einer Motivation, einer Absicht – kurz allem, was Gegenstand einer moralischen Bewertung sein kann (S. 91). Akzeptabel ist danach, was mit den eigenen Prinzipien, Wertvorstellungen, deren Prioritäten und mit übernommenen Normen soweit konform geht, dass ein möglicher Konflikt als vernachlässigbar erscheint. Unter Zugrundelegung eines christlichen Verständnisses der Akzeptabilität vertritt Nass sodann die Meinung, dass der Einsatz von humanoiden Robotern nicht als im Dienst des Heils des betroffenen Menschen bewertet werden kann, da eine derartige Kommunikation mit einem mit einem Menschen täuschend echten Roboter die Gefahr heraufbeschwört, dass sich der zu pflegende Menschen täuschend echt imitierten Gefühlen ausgesetzt sieht, die selbst Gefühle hervorruft, diese aber nicht „echt“ erwidert werden. Generell spricht sich Nass gegen den Einsatz von Robotern mit humanoiden Erscheinungsformen aus, da diese menschliche Kontakte vortäuschen und Gefühlsleben sowie Beziehungen manipulieren und gesellschaftlich dazu beitragen sollen, die herausragende Würde des Menschen in Abgrenzung zu solchen Maschinen zu relativieren (S. 101).
Nass geht bei dieser Bewertung stillschweigend davon aus, dass es niemals möglich sein wird, Roboter mit eigenem Bewusstsein und eigener Gefühlwelt zu kreieren. Man kann diese Sichtweise vertreten. Allerdings übersieht man dabei die spannende Frage, wie man das Vorhandensein von Bewusstsein wirklich überprüfen will. Auch wenn der sog. Turing-Test bislang nicht bestanden wurde (vgl. dazu die Preisausschreibung von Loebner), ist gleichwohl zu konstatieren, dass auch wir Menschen bei anderen Menschen Bewusstsein und Intentionalität auch in der täglichen Praxis lediglich unterstellen.
Claudia Mahler beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Frage, ob die Realisierung von Menschenrechten in der Pflege ein Qualitätskriterium sein sollte (S. 15 ff.). Da das SGB XI und alle Landesheimgesetze (vgl. nur § 1 Abs. 1 Satz 1 WTG NRW) die Achtung der Menschenwürde zum Ziel haben, ist diese Frage selbstverständlich mit einem Ja zu beantworten. Gleichwohl ist die aufgeworfene unter einem anderen Blickwinkel von Bedeutung. Zu fragen ist nämlich, wie es z.B. um die Prüfkompetenz der Heimaufsichten bestellt ist. Diese dürften sich in der Praxis nämlich zumeist auf medizinische und sonstige versorgerische Aspekte bei ihren Prüfungen konzentrieren (S. 27). Daher betont Mahler richtigerweise, dass nicht nur die in den stationären Pflegeeinrichtungen Beschäftigten über Menschenrecht informiert sein müssen, sondern auch die bei den Heimaufsichten tätigen Personen.
Fazit
Der Sammelband vereint zahlreiche anregende, erhellende und weiterführende Beiträge, die das Verständnis und Problembewusstsein für Problemlagen in der Pflege schärfen. Der sehr moderate Preis dürfte sein Übriges dazu beitragen, Interessenten zu einem Kauf des Werkes zu motivieren. Wer auf eine christliche Fundierung der Argumentation Wert legt, ist hier überdies gut aufheben, wobei für den Rezensenten nicht stets deutlich wurde, worin der Mehrwert in der Bezugnahme auf christliche Denkkategorien liegt.
Rezension von
Dr. iur. Marcus Kreutz
LL.M., Rechtsanwalt. Justiziar des Bundesverbandes Arbeiter-Samariter-Bund Deutschland e.V. in Köln
Mailformular
Es gibt 266 Rezensionen von Marcus Kreutz.