Lena Sterzer: Wohnen und Mobilität im Kontext von Fremdbestimmung und Exklusion
Rezensiert von Dr. Rainer Neef, 17.06.2019

Lena Sterzer: Wohnen und Mobilität im Kontext von Fremdbestimmung und Exklusion. Der Einfluss angespannter Wohnungsmärkte auf einkommensschwache Haushalte.
Springer VS
(Wiesbaden) 2019.
312 Seiten.
ISBN 978-3-658-24621-1.
D: 49,99 EUR,
A: 51,39 EUR,
CH: 55,50 sFr.
Reihe: Studien zur Mobilitäts- und Verkehrsforschung. Research.
Thema
Im Rahmen einer Dissertation untersucht die Autorin Umzugsverhalten, Wohnansprüche und ‑möglichkeiten und das Mobilitätsverhalten von Haushalten mit niedrigem Einkommen im Raum München mit seinen sehr hohen Mieten, starker Nachfrage und schwachem Angebot an Wohnungen. Damit im Zusammenhang werden Mobilitätsverhalten und -möglichkeiten analysiert. Es geht um die Frage, welche Handlungsspielräume Einkommensschwache in einem solchen ‚angespannten Wohnungsmarkt‘ in ihrer Wohnungssuche und ihrem Verkehrsverhalten überhaupt noch haben – warum zogen sie um, wie arrangierten sie sich danach?
Autorin
Lena Sterzer hat mit dieser Arbeit an der Fakultät Bau Geo Umwelt der TU München promoviert. Sie ist in der Münchener Kommunalpolitik als SPD-Mitglied aktiv.
Aufbau des Buchs
- Das Buch beginnt mit einer kurzen Einleitung zum Aufbau, Hintergrund und den Zielen der Arbeit.
- Anschließend (Kap. 2) wird ein Überblick gegeben zu Forschungseinsichten über Mobilität (im Vergleich zu Verkehrsverhalten), zu Wohnstandortwahl (und Arbeitsplatzwahl) als Determinante, und zum Einfluss angespannter Wohnungsmärkte auf das Grundbedürfnis Wohnen.
- Es folgen in Kap. 3 Angaben über den Wachstumsraum München mit seinen hohen Lebenshaltungs- und Wohnkosten, welche einkommensschwache Personen bzw. Haushalte unter Druck bringen, hinzu kommt ein Überblick über Anrechte auf Sozialleistungen.
- Umfragedaten aus dem Raum München informieren über Umzugsgründe, Wohngebietsausstattung und Verkehrsmittelwahl (Kap. 4).
- In Kap. 5 werden die qualitativen Erhebungen der Autorin erläutert.
- Kap. 6 enthält die Ergebnisse von Interviews unter 17 Befragten: Wohnungssuche unter Handlungsdruck und Zielvorstellungen eines Umzugs. seine Folgen für Wohnsituation, Mobilität, Alltagsorganisation und soziale Einbettung.
- Es folgen Expertenvorschläge zu Förderungsmaßnahmen (Kap. 7) und
- ein kurzes Fazit (Kap. 8).
Inhalt
Zur Diskussion über Wohnungsnöte in Ballungsräumen kommt das Buch gerade recht, da es die Lage der Gruppe mit den größten Wohnproblemen behandelt, nämlich die der Einkommensschwachen. Die Autorin kommt aus der Mobilitätsforschung und behandelt daher auch die Frage, wieweit die Betroffenen über die Nutzung von Verkehrsmitteln in einem Wachstumsraum wie München Verschlechterungen des Wohnens kompensieren können.
Zu beidem bringt die bisherige Forschung wenig (Kap. 2). Das Wohnen ist ein Grundbedürfnis; Mobilität wäre es nach der diskutierten Forschung ebenfalls (zur Erfüllung von Grundbedürfnissen gibt es wohl eher einen Zwang zu Mobilität, in Städten wie auf dem Land). Die Mobilitätschancen Einkommensschwacher sind kaum erforscht. Im Stadtraum gibt es immerhin das öffentliche Verkehrsangebot, auf dem Land erscheint der Pkw unverzichtbar. In einer Wachstumsregion wie München ist der grundsätzlich „träge“ Wohnungsmarkt (S. 37) aus den Fugen geraten, den hohen Mieten und Mieterhöhungen in privaten Wohnungsbeständen könnten Einkommensschwache allenfalls durch Umzüge aus dem Weg gehen. Neben vielen „hochpreisigen“ Wohnungen gibt es wenige und meist kleine etwas mietgünstigere private (in Altbauten), sonst bietet die Stadt nur das sehr knappe Angebot öffentlicher oder auch genossenschaftlicher Wohnungen. Im Umland finden sich (nach Quadratmetern) kostengünstigere, aber meist größere Wohnungen, Umzüge dorthin werden wenig Entlastung bringen, zumal höhere Verkehrskosten anfallen. Die Umland-Forschung hat nicht geklärt, wie sich dadurch die Lebenslage Einkommensschwacher ändert, sie ist auf Mittelschichten und Wirtschaftsentwicklungen bezogen (und die Autorin ignoriert sie wohl mit Recht). In einer solchen Wachstumsregion, so die abschließende These, können die Betroffenen ihre Wohnungsnöte nur mit großem Aufwand kompensieren, ihr Einkommen gibt zu wenig her, sie sind in einer Zwangslage.
Kap. 3 charakterisiert mit gut gewählten Daten die Kernstadt München, Haupt-Wohnort der von ihr untersuchten Einkommensschwachen. Sie wuchs und wächst schnell, ist vom öffentlichen Verkehr flächendeckend gut erschlossen, ergänzt durch ein zentral ausgerichtetes (lückenhafteres) S-Bahn- und Bus-System ins und im Umland – und hatte zwischen 2005 und 2015 Mietsteigerungen von fast 50 %, getragen von den vielen zahlungskräftigen BewohnerInnen; es gibt in der Stadt eine breite Einkommensstreuung und eine (noch) recht geringe sozialräumliche Segregation. Vielen i.A. „hochpreisigen“ privaten Mietwohnungen stehen nur 8 % kommunale und 5 % genossenschaftliche Wohnungen entgegen. GeringverdienerInnen stehen gerade in den von ihnen (noch) bewohnten Quartieren unter starkem Druck (die schöne Grafik S. 53 zu Mietentwicklungen nach Quartieren hätte mehr Kommentar verdient!). Die – unsystematisch ausgewählten – öffentlichen Hilfen zu Lebensunterhalt und Miete bringen nur wenige Erleichterungen.
Nach einer nicht-repräsentativen Online-Erhebung der Uni München (Kap. 4) haben die 1187 Einkommensschwachen gegenüber allen 7302 Befragten eine deutlich geringere Wohnfläche, weniger Pkw-Besitz, nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel – und es gibt bei ihnen mehr Zuzügler in die Stadt und weniger Wegzügler, das ist wohl Folge der Überrepräsentation von Befragten in Ausbildung oder am Berufsanfang. Nach einem Umzug nutzen sie mehr öffentliche Verkehrsmittel oder Fahrräder oder gehen zu Fuß als die Anderen: Sie müssen Mobilitätskosten sparen.
Als „Einkommensschwache“ untersucht die Autorin im Folgenden nicht die Ärmsten, sondern möglichst verschiedene Personen bzw. Haushaltsformen der untersten Einkommensklassen. Sie führte offene gesprächshafte Interviews und hielt Aktivitäten räumlich durch Karten fest. Nicht die Auswertung nach (einfacheren) Standards der qualitativen Sozialforschung war ein Problem, sondern der lang dauernde Zugang zu den schließlich 17 Befragten (Kap. 5).
In Kap. 6 werden auf 120 Seiten die Einsichten dieser Erhebung erläutert. Die Autorin veranschaulicht durch viele Zitate, Aktivitätskarten und Piktogramme und fasst jeden Abschnitt zusammen. Ihre sehr konkreten Antworten auf diese zentrale gesellschaftliche Frage – Wohnungsknappheit und Einkommensschwäche – wird ausgesprochen übersichtlich präsentiert. Geldmangel, Wohnungsnot, die Überlast der Alltagsbewältigung, Umzugsstress und die Schwierigkeiten der Umorientierung werden betont, jedoch nicht recht lebendig, aber das zu vermitteln gelingt auch gelernten SoziologInnen zu selten.
Alle Befragten suchten aus Notwendigkeit – wegen unerträglicher Wohnverhältnisse, Kündigungen u.ä. – eine neue Wohnung, die Hälfte der Fälle war sehr dringlich. Als Einkommensschwache mit geringen Chancen im privaten Mietwohnungsmarkt und langen Wartezeiten bei öffentlichen oder genossenschaftlichen Wohnungen mussten sie hohe Aktivität und Findigkeit entwickeln – nach häufig schwierigen Lebensverläufen oft eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Eigene Wünsche und Präferenzen waren kaum durchsetzbar; der meist geäußerte Wunsch, im Stadtgebiet zu bleiben, realisierte sich fast nur für die, die eine öffentliche Wohnung (oft zweifelhafter Qualität) ergatterten. „Am Schluss hatte ich eigentlich keine Ansprüche mehr“ (so eine Befragte, S. 128). Im Ergebnis wurden meist schlechtere oder schlechter gelegene Wohnungen bezogen schwer zu akzeptieren vor allem, wenn Wohnung oder Wohngebäude nach sozialem Abstieg aussehen. Familien mit Kindern kamen oft ins Umland. Dennoch äußerten die meisten hinterher Zufriedenheit. Dies erklärt Sterzer (mit Verweis auf die Theorie kognitiver Dissonanz) aus der Erleichterung, nach einer Drucksituation überhaupt eine Lösung gefunden zu haben. Sie differenziert z.B. bei der Analyse von Aktivitätsgraden oder sozialer Einbettung nach dem Umzug Gemeinsamkeiten bis herunter zu drei Fällen, da hätte man sich eine Bestätigung aus dem Datenmaterial in Kap. 3 gewünscht.
Entscheidend für die Bewältigung der neuen Wohnsituation war die Nutzung des gut ausgebauten Personennahverkehrs im Münchener Stadtgebiet, spürbare Lücken im Umland wurden als deutlicher Nachteil benannt. Auf öffentliche Verkehrsmittel waren alle angewiesen, das Fahrrad wurde nur als zusätzliche Option gesehen, nur drei besaßen überhaupt ein Auto. Der Zeitaufwand hatte sich nach dem Umzug deutlich erhöht, vor allem für fixe Ziele wie Arbeitsplatz, Behörden und einige notwendige Dienstleistungen. Recht lange Anfahrt musste häufig in Kauf genommen werden für preisgünstigen Einkauf und Freizeit. Viele suchten alte Beziehungen besonders im vorherigen Stadtviertel zu retten, auch um den Preis langer Anfahrtszeiten; für viele andere bedeutete der Umzug einen Bruch mit bisherigen Sozial- und Hilfebeziehungen.
Gibt es unter diesen Umständen noch Handlungsfähigkeit? Die Autorin unterscheidet zwischen Aktiven und eher routinemäßig Handelnden bzw. Passiven. Die Aktiven konnten objektiv nicht viel mehr erreichen als die anderen, sie blieben nach dem Umzug dennoch aktiver als die Anderen, suchten also ihren geringen Handlungsspielraum weiter zu nutzen. Sterzer fasst die Situation zusammen einerseits als „Exklusion“, als Vorwegnahme des Scheiterns, sozialem Rückzug oder Abgrenzung von anderen Gruppen in ähnlicher Situation; andererseits als „Fremdbestimmung“: Wohnungssuche und ihr Ergebnis sind von äußeren Zwängen bestimmt, besonders beengt ist die Situation von Arbeitslosen, SozialhilfeempfängerInnen und Alleinerziehenden. Die Unterscheidung ist seltsam. Fremdbestimmung hat eben nicht nur eine ‚objektive‘ Dimension, sondern enthält das Element des Handelns seitens Mächtigerer, z.B. Diskriminierung. Aus „Exklusion“ werden die systemischen Elemente ausgeblendet, untersucht wird nur die subjektive Seite; eine umfangreiche Forschung, hier nicht erwähnt, hat die objektive und subjektive Dimension von Exklusion im Zusammenhang analysiert. Sterzers wichtige Unterscheidung zwischen Aktiven und eher Passiven trägt jedoch empirisch: Am neuen Wohnort suchen die Ersteren rasch neue Kontakte, die „Einbettung“ gelingt meist, während die Letzteren ihrem alten Stadtviertel verhaftet bleiben oder sich ganz zurückziehen.
Zu diesen Einsichten sollte in Experten-Workshop Maßnahmen zur Verbesserung der Wohnsituation und Handlungsfähigkeit Einkommensschwacher entwickeln (Kap. 7). Zu Letzterem wussten sie wenig Relevantes mitzuteilen, zu Ersterem wurden einige von der Stadt München entwickelte brauchbare Instrumente aufgeführt, z.B. bezüglich Wohnungs-Zweckentfremdung, Milieuschutz, gefördertem Wohnungsbau – auch mit Anteilsvorgaben für private Bauherren – und kleinen Ansätzen sozial orientierter Wohnungsverwaltung. Sonstige Vorschläge v.a. im Bereich Stadt- und Bauentwicklung erschöpften sich im Allgemeinen, wenn nicht gar in Wunsch-Katalogen. Einflüsse auf Miethöhen gibt es bezüglich Einkommensschwacher nicht. Im Bereich Mobilität gibt es jenseits des gut ausgebauten öffentlichen Systems nur Vorstellungen zu weiterem Ausbau oder zu alternativen Systemen. Kurz: Die Stadt mit ihren zu hohen Mieten bietet ein gut ausgebautes Verkehrs- und Infrastruktursystem, aber für Einkommensschwache trotz guter Ansätze keine kohärente Politik, die ohnehin in kommunale Handlungsgrenzen eingesperrt bliebe.
Fazit
Großstädte mit und hohen rasch steigenden Mieten und Mangel an bezahlbaren Wohnungen sind in der öffentlichen Diskussion. Es gibt es eine wachsende Forschung vor allem über Ursachen und wohnungspolitische Möglichkeiten, und in Untersuchungen von Wohnungs-Problemgruppen wie Obdachlosen oder Geflüchteten wird auch ab und zu mal ein Blick auf die Betroffenen geworfen.
An sozialwissenschaftlichen Untersuchungen wie der von Sterzer zu Lagen, Sichtweisen und Handlungsmöglichkeiten der von Wohnungsmangel und Mietsteigerungen am meisten Betroffenen, nämlich der Menschen und Haushalte mit Niedrigeinkommen, kenne ich nur eine (vgl. Beran, Nuisll 2019). Frau Sterzer ist Bauingenieurin. Ihre Untersuchung weist einige Schwächen auf, z.B. wurde die Lebensrealität der Befragten zu wenig erfasst, das Verhältnis Mieter-Vermieter wird nur gestreift, die Begriffsbildung ist teilweise undeutlich. Sterzer hat insgesamt aber überzeugend untersucht und dargestellt, dass und wie Marktkräfte und Politikschwäche das Wohnen als Grundbedürfnis beeinträchtigen auf eine Weise, dass die Handlungschancen der am meisten Betroffenen fast gänzlich zunichte gemacht werden, jedenfalls im notorisch teuren München. Die Autorin vermutet am Schluss ihres Buchs zu Recht, dies gälte für alle großen wachsenden Städte Deutschlands. Hier könnten die Sozialwissenschaften noch liefern bzw. veröffentlichen. Gerade als Fachfremde konnte die Autorin zudem einen etwas unerwarteten Aspekt hineinbringen, der doch einige Erklärungskraft hat: Das öffentliche Verkehrsangebot und das private Mobilitätsverhalten können die Folgen einer schlechten und verschlechterten Wohnlage wenigstens zum Teil ausgleichen, wenn es darum geht, die für den Alltag wichtige Versorgung und sogar soziale Beziehungen aufrecht zu erhalten – dann, wenn eine Kommune wie München ihr öffentliches Verkehrssystem gut und kostengünstig entwickelt.
Sterzer hat sich mit großem Engagement in eine für große Städte und für unsere sozial immer mehr polarisierte Gesellschaft zentrale Frage eingearbeitet – und sie hat diese Frage geerdet, indem sie sich auf die Menschen konzentrierte, die von der neuen großstädtischen Wohnungsnot am stärksten betroffen sind: Auf Haushalte mit niedrigen Einkommen. Eine in Fragestellung und Herangehensweise engagierte, übersichtlich gebrachte, freilich in manchen Passagen etwas trockene Untersuchung, und ein wichtiges Buch.
Literatur
Beran, Fabian; Nuissl, Henning; u.a.: Verdrängung auf angespannten Wohnungsmärkten: das Beispiel Berlin. Ludwigsburg: Wüstenrot Stiftung 2019
Rezension von
Dr. Rainer Neef
bis 2010 akad. Oberrat für Stadt- und Regionalsoziologie am Institut für Soziologie der Universität Göttingen
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