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Bettina Grimmer: Folgsamkeit herstellen

Rezensiert von Dr. Klemens Ketelhut, 26.07.2019

Cover Bettina Grimmer: Folgsamkeit herstellen ISBN 978-3-8376-4610-8

Bettina Grimmer: Folgsamkeit herstellen. Eine Ethnographie der Arbeitsvermittlung im Jobcenter. transcript (Bielefeld) 2018. 278 Seiten. ISBN 978-3-8376-4610-8. D: 39,99 EUR, A: 41,20 EUR, CH: 48,70 sFr.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - Band 50.

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Thema

Spätestens seit der Einführung des Arbeitslosengeld II im Rahmen der „Agenda 2010“ sollen Arbeitslose „aktiviert“ werden. Der Ort, an dem Aktivierung vollzogen werden soll sind die so genannten Jobcenter, in denen sich Agent*innen und Leistungsempfänger*innen des wohlfahrtstaatlichen Systems in Gesprächen begegnen. Die vorliegende Studie nimmt sich der Begegnungssituation aus einer ethnographischen Perspektive an und kommt zu dem Ergebnis, dass durch die interaktiven Prozesse im Jobcenter weniger „Aktivierung“ sondern vielmehr Folgsamkeit hergestellt werden soll.

Autorin

Bettina Grimmer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Siegen, Lehrstuhl für Soziologie, vergleichende Kultursoziologie und politische Soziologie Europas.

Entstehungshintergrund

Bei der Publikation handelt es sich um die im Jahr 2015 verteidigte Dissertation von Bettina Grimmer.

Aufbau

Der Text ist in fünf Teile gegliedert, die sich um den zentralen Beobachtungsgegenstand – die Gespräche im Jobcenter – anordnen.

  • Im ersten Schritt werden Erkenntnisinteresse, Forschungsperspektive und Methode vorgestellt.
  • Die drei Kapitel, die den materialen Zugang zur ethnographischen Forschung darstellen, sind nach einer temporalen Logik – vor, während, nach den Gesprächen – geordnet.
  • Im letzten Kapitel werden die Ergebnisse der Arbeit komprimiert und hinsichtlich der zentralen Erkenntnisse theoretisiert. Hier kommen vor allem Auseinandersetzungen mit Anwendungen symbolischer Gewalt zum Tragen. Es wird die These diskutiert, dass das Jobcenter ein unvollendetes neoliberales Projekt sei.

Inhalt

Kern der Studie sind die teilnehmenden Beobachtungen der Forscherin bei neun Arbeitsvermittler*innen in einem ländlich gelegenen kleinen Jobcenter. Dieser Zugang wurde gewählt, um die Sicht des arbeitsvermittelnden Personals zu erforschen: welche Perspektiven entwickeln die in einem Jobcenter als Arbeitsvermittler*innen Tätigen auf ihre Tätigkeit und auf die als Kund*innen oder Klient*innen bezeichneten Leistungsempfänger*innen? Welche Praktiken lassen sich aus der Beobachtung der Interaktionssituationen und der (sozial)räumlichen Verfasstheit der Behörde rekonstruieren?

Der gewählte Zugang vermittelt einen umfassenden Einblick in Interaktionssituationen, die vor allem von Distanz und Hierarchie geprägt sind. Diese Distanz wird bereits in den von Bettina Grimmer penibel beschriebenen räumlichen Arrangements und Handlungsvollzügen aller tatsächlichen Interaktion vorangestellt: separierte Wartebereiche und Toiletten, minimierte Kontakte auf den Fluren und die Anordnung des Mobiliars in den Büros, die eine Trennung von Arbeitsvermittler*innen und Klient*innen erzwingt spielen hier genauso eine Rolle wie die Beobachtung der Herstellung von körperlicher Distanz, indem beispielsweise das Schütteln der Hände zur Begrüßung häufig vermieden wird.

Bettina Grimmer begreift dabei die räumliche Verfassung und die Raumnutzung als Teil der Organisationsordnung des Jobcenters, die im Zusammenspiel mit Wissens- und Interaktionsordnungen hergestellt wird. Die Hauptaufgabe der räumlichen Ordnung – das Herstellen und Aufrechterhalten von Distanz – ist ihr eingeschrieben, aber es bleibt unsichtbar.

Stellen diese Raumpraxen eine vorgelagerte Form der Ordnung der Gegebenheiten dar, werden in den eigentlichen Gesprächen asymmetrische Verhältnisse in anderen Weisen aufgeführt. Durch den informatorischen Vorsprung und die Hoheit über schriftliches und digital gespeichertes Wissen, aber auch vermittels des Bestimmens der Abläufe der Gespräche stellt sich ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Arbeitsvermittler*innen und den Klient*innen immer wieder neu her. Hier rekonstruiert Bettina Grimmer eine Fiktion der Freiwilligkeit, die in dem Moment gebrochen wird, wenn sich Klient*innen nicht als arbeitswillige und folgsame Subjekte vorstellen. Die Interaktionen finden damit auf verschiedenen Ebenen statt, von denen nicht alle sofort sichtbar sind, sondern dies erst werden, wenn die Klient*innen die von ihnen geforderte Haltung der Arbeits- und Kooperationswilligkeit verlassen wird.

Nach den Gesprächen bleiben die Klient*innen weiterhin Teil der Bearbeitungsprozesse des Jobcenters. Neben postalischer Kommunikation über etwaige Leistungen oder deren Verlust, Vorschlägen für potentielle Arbeitsstellen sowie erneuten Einladungsschreiben geht es vor allem um die Kontrolle der offenen Verfahren. Aus Klient*innen werden so erneut Fälle, deren Bearbeitung aggregierten administrativen Prozessen unterliegt. Gleichzeitig zeigt sich auch hier ein hierarchisches Verhältnis, da die Klient*innen nicht über das gleiche Wissen über sich selbst verfügen, das von der Institution zumindest potentiell nutzbar wird. Gleichzeitig müssen sie die asymmetrischen Verhältnisse anerkennen, wollen sie nicht als problematisch gesehen werden. Hier zeigt sich dann auch, dass neben einer von Misstrauen geprägten Perspektive auf die Leistungsempfänger*innen ein patriarchal-pädagogisches Moment in der Interaktion entsteht. Wissen über die jeweiligen Lebenssituationen der Klient*innen kann auch zu einer Einschätzung deren Unvermögen führen, das anders bearbeitet werden muss als eine sich als verweigernd präsentierende Haltung.

In der Diskussion ihrer Ergebnisse zeigt Bettina Grimmer unterschiedliche Implikationen ihrer Studie auf, von denen hier zwei aufgerufen werden sollen. Zum einen wird deutlich, dass nicht Aktivierung das zentrale Thema der Interaktion in den Jobcentern ist, sondern dass (institutionelle) Folgsamkeit hergestellt werden soll. Dies geschieht nicht über harte, sondern weiche (situative und subjektive) Interaktionen. Zum anderen wird darüber deutlich, dass in der neoliberalen Perspektive Arbeitslosigkeit nicht als strukturelles, sondern als individuelles Problem markiert wird. Um dieses bearbeitbar zu machen, nutzen die Protagonist*innen der untersuchten Szenerien unterschiedliche Formen der Durchsetzung, bedienen sich also verschieden strukturierter Machtformen um die Klient*innen dazu zu bringen, das ungleiche Spiel mitzuspielen – kurz: um dafür zu sorgen, dass sie folgsam werden. 

Diskussion

Die vorliegende Studie ist eine im besten Sinne soziologische Auseinandersetzung, deren Ergebnisse anschlussfähiges Wissen für Auseinandersetzungen mit dem Problem der staatlichen Herstellung sozialer Ungleichheit zur Verfügung stellt. Eine zentrale Erkenntnis dabei ist, dass die Durchsetzung von organisationalen und institutionellen Anforderungen nicht primär auf die an sich behauptete Aktivierung sondern auf den Abbau von Mündigkeit – so könnte man Folgsamkeit als implizites Ziel interpretieren – zielen. Dies arbeitet die Studie empirisch und theoretisch gesättigt heraus, ohne jemals überladen zu sein. Im Gegenteil: der Text ist zugänglich und wird dabei der Komplexität des Themas jederzeit gerecht. 

Fazit

Die vorliegende Studie befasst sich mit der Rekonstruktion von Interaktionsverhältnissen in Jobcentern, deren materiale Datenbasis vor allem durch teilnehmende Beobachtungen ethnografisch gewonnen wurde. Im Ergebnis wird deutlich, dass von den Klient*innen in diesen Interaktionsgefügen eine möglichst hohe Anpassung an die vorgefundene symbolische Ordnung der Institution des Jobcenters erwartet wird, die als Folgsamkeit verstanden werden kann.

Rezension von
Dr. Klemens Ketelhut
taatlich anerkannter Heilerziehungspfleger und studierte Rehabilitationspädagogik, Soziologie und Volkswirtschaftslehre. Seit 2022 leitet er bei Mosaik Deutschland e.V. das Forschungsprojekt „Konversionsbehandlungen: Kontexte. Praktiken. Biografien“.
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Es gibt 7 Rezensionen von Klemens Ketelhut.

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ISSN 2190-9245