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Sacha Kagan, Volker Kirchberg u.a. (Hrsg.): Stadt als Möglichkeitsraum

Rezensiert von Prof. Dr. Detlef Baum, 10.07.2019

Cover Sacha Kagan, Volker Kirchberg u.a. (Hrsg.): Stadt als Möglichkeitsraum ISBN 978-3-8376-4585-9

Sacha Kagan, Volker Kirchberg, Ursula Weisenfeld (Hrsg.): Stadt als Möglichkeitsraum. Experimentierfelder einer urbanen Nachhaltigkeit. transcript (Bielefeld) 2019. 394 Seiten. ISBN 978-3-8376-4585-9. D: 39,99 EUR, A: 39,99 EUR, CH: 48,70 sFr.
Reihe: Urban studies.

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Thema

Nachhaltigkeit in der Stadt bezieht sich schon längst nicht mehr nur auf die Fragen der ökologischen Nachhaltigkeit. Inzwischen hat das Thema auch die Stadtentwicklung erreicht; es geht zunehmend um Fragen der kulturellen und sozialen Entwicklung, um Fragen des gedeihlichen Zusammenlebens unter den Bedingungen von Urbanität, von kultureller Diversität und Vielfalt und deren städtebauliche Gestaltung. Wie soll man also in einer Stadt leben, deren ökonomische, kulturelle und soziale Dynamik Spannungen erzeugt, Widersprüche produziert, Kontingenzen schafft? Wie soll man in einer Stadt leben, in der sich soziale Ungleichheiten in den Wohngebieten räumlich abbilden und im öffentlichen Raum immer sichtbarer werden?

Und wie kann Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung dazu beitragen, dass das Leben in der Stadt unter diesen Bedingungen gelingen kann?

Herausgeber und Herausgeberin

Dr. Sacha Kagan war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Fakultät Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg.

Dr. Volker Kirchberg ist Professor für Soziologie der Künste am Institut für Soziologie und Kulturorganisation der Fakultät für Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg.

Dr. Ursula Weisenfeld ist Professorin für Innovation Management am Institut für Management und Organisation der Leuphana Universität Lüneburg.

Die weiteren Autorinnen und Autoren kommen aus den Bereichen der Politik- und Kulturwissenschaften, der Soziologie und der Sprachwissenschaften. Sie alle kommen hauptsächlich aus einem universitären Umfeld und beschäftigen sich mit Fragen einer Nachhaltigkeitswissenschaft.

Aufbau

Nach einem kurzen Vorwort des Herausgeberkreises, in dem u.a. das Projekt vorgestellt wird, das Grundlage dieses Buches ist, gliedert sich das Buch in sieben Kapitel, die

  • einer Einführung,
  • zwei Teilen – Teil 1: Institutionen, Teil 2 Imaginationen – und
  • einem Abschluss zugeordnet sind.

Die einzelnen Kapitel wiederum sind unterteilt in einen Beitrag, der das Kapitelthema umreißt und zwei weiteren Beiträgen, sogenannten Zwischenspielen, in denen Projekte vorgestellt werden, die sich mit praktischen und konzeptionellen Fragen beschäftigen. Der Hintergrund dieser Aufteilung ist ein Projekt, in dem sich interdisziplinär Forscherinnen und Forscher zusammen gefunden haben, um auszuloten, welche Beiträge kulturell, künstlerisch, sozial und alternativ wirtschaftend engagierte Akteure zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung leisten können (15). Der Bezugsraum des Projekts ist dabei die Stadt Hannover.

Bei allen Beiträgen findet man am Schluss jeweils eine ausführliche Literaturliste.

Inhalt

Einführung

Kapitel 1: Stadt als Möglichkeitsraum – Möglichkeitsräume in der Stadt (Sacha Kagan, Volker Kirchberg, Ursula Weisenfeld)

Möglichkeitsräume sind physische, mentale und soziale Ermöglichungsräume, in denen gestalterische Prozesse bereits angelegt sind, in denen die kreativ-experimentelle und imaginative Ausgestaltung potentiell ermöglicht werden kann. Nach der Begründung einer Notwendigkeit nachhaltiger Stadtentwicklung fragt die Autorengruppe, warum Möglichkeitsräume für eine nachhaltige Stadtentwicklung wichtig sind. Dabei ist die Frage von Bedeutung, inwieweit sich Akteure und Akteurinnen in der Reproduktion ihres Alltags von Zufällen leiten lassen können oder inwieweit sie eher in Routinen verhaftet sind, die sich in lokalen Lebenszusammenhängen herausgebildet und institutionalisiert haben.

Gleichzeitig wird der Begriff der Nachhaltigkeit geschärft. Es geht um die Diskussion einer erwünschten Zukunft, die durch die unterschiedlichen Konsequenzen verschiedener Handlungsalternativen beleuchtet werden.

Dabei wird den Akteurinnen und Akteuren in ihren jeweiligen sozialräumlichen Kontexten und Lebenszusammenhängen eine besondere Bedeutung beigemessen, deren Wissen, Erfahrungen und Ideen in die Gestaltung dieser sozialräumlichen Kontexte miteinbezogen werden müssen.

Weiter wird die Frage beantwortet, warum Hannover als Bezugsrahmen ausgesucht wurde und es werden die Forschungsfragen vorgestellt, die dieses Projekt tragen.

Es geht einmal um die Frage, was eine nachhaltige Stadtentwicklung eigentlich ist, dann geht um den Komplex der städtischen Möglichkeitsräume, um die politischen Strategien der Umsetzung und um die potenziellen Wirkungen nachhaltiger Stadtentwicklung.

Des Weiteren wird ausführlich die Gliederung des Buches vorgestellt.

Zwischenspiel 1: Bothfeld und List.Vom Norden Hannovers ins Stadtzentrum (Julia Barthel)

J. Barthel beschreibt, wie sie vom Rand der Stadt (Straßenbahnstation Isernhagen-Süd) ins Stadtzentrum kommt, und welches Umfeld sie dabei jeweils begleitet. Die damit verbundenen Eindrücke des ökologischen und physischen Raums, den die Gruppe durchschreitet, werden ausführlich und detailliert beschrieben und reflektiert. Vor dem Hintergrund bestehender Routinen und der Wunsch, diese zu verlassen, werden bestimmte Areale neu interpretiert und in den Raum eingeordnet.

 Zwischenspiel 2: Sahlkamp. Stadtforschung als künstlerische Praxis (Julia Barthel)

Wie eignen sich Menschen Räume an? Vor dem Hintergrund ist jeder Raum auch schon besetzt, hat eine besondere Geschichte und auch eine besondere Bedeutung für die dort jeweils Handelnden. Die Autorin stellt sich vor, wie sie mit künstlerischen Aktionen sich einem Raum nähert, der auch zunächst auch abweisend war – bis jemand ihr den Weg wies, der mit dem Raum vertraut war, jemand, der seine Heimat verlassen musste und eine neue Heimat suchte. Auch das verändert den Blick auf den Raum und seine Menschen. Dies wird sehr empathisch beschrieben und reflektiert.

Teil 1: Institutionen

Kapitel 2: Schlüsselfiguren, Innovationen und Mechanismen des Wandels (Antoniya Hauerwaas, Ursula Weisenfeld in Zusammenarbeit mit einigen anderen Autorinnen und Autoren sowie Studierenden)

Wie funktioniert das Zusammenspiel von Institutionen, Akteure des Wandels und die von ihnen erzeugten Innovationen? Dazu betrachten die Autorinnen Akteure, die in Institutionen eingebettet sind, sowie die Mechanismen für Systeminnovationen und Transformationen. Dafür entwickeln sie einen Theorierahmen und erläutern die damit zusammenhängenden Begrifflichkeiten. Auf der Grundlage von Studien und theoretischen Ansätzen begründen die Autorinnen dann weiter die theoretische Fundierung ihrer Forschung und gehen ausführlich auf die Akteure ein, auf Change Agents, Stakeholder, auf institutionelle Entrepreneure und Social Entrepreneurship. Dann begründen sie den institutionellen Rahmen, gehen auf formelle und informelle Institutionen ein, diskutieren institutionelle Logiken und erörtern die Pfadabhängigkeit, die durch vergangene, gegenwärtige und zukünftige Entscheidungen vorgegeben ist.

Weiter diskutieren die Autorinnen Mechanismen des Wandels und das Systemdenken, fragen nach Mechanismen der Erklärung des Wandels und nach sozialen Mechanismen und erörtern dann das Zusammenwirken von sozialen, kulturellen und politischen Innovationen als institutionelle Innovationen mit ökonomischen Innovationen wie Service Innovationen, materielle Innovationen, organisationelle Innovationen und Marketing Innovationen.

Systeminnovationen und Transformationen werden aus einer Multi-Level-Perspektive betrachtet, was einen interdisziplinären Ansatz erforderlich macht und der Stadt als komplexes System gerecht wird.

Vor dem Hintergrund dieses Ansatzes werden dann ausführlich die Forschungsergebnisse vorgestellt und diskutiert; dabei werden auch konkret einzelne Akteure als Schlüsselfiguren eingeführt. Des Weiteren werden neue Arbeits- und Organisationsformen in der Stadt Hannover vorgestellt und diskutiert; danach geht es um nachhaltiges Wirtschaften und Gemeinwohl-Ökonomie in der Praxis; Hürden und alternative Möglichkeiten werden ausgelotet.

Mit Mechanismen des Wandels und institutionellen Innovationen im wissenschaftlichen Diskurs sind zum einen kulturpolitische Innovationen und Möglichkeitsräume gemeint. Damit verbunden ist auch eine Praxis der Veränderung zu einer neuen institutionellen Logik. Weiter geht es um Mechanismen und Wirkungshebel städtischer Entwicklung, die als Nischen-Mechanismen, Regime- Mechanismen, Landscape-Mechanismen und soziale Mechanismen beschrieben werden.

Zwischenspiel 3:Tierfriedhof Lahe. Die Toten am Rande der Stadt (Ursula Weisenfeld)

Ein Tierfriedhof ist Anlass, über Ruhe, Stille und Tod nachzudenken. Angesichts der Hektik der Stadt fühlt sich die Autorin „wie auf dem Land“ und gleichzeitig reflektiert die Autorin, wie wir in Deutschland mit dem Tod umgehen und welche Bedeutung Haustiere für die Lebenden haben.

Zwischenspiel 4:Eilenriede und Zooviertel. Schnittstellen von Natur und Kultur an und in wohlhabenden Stadtvierteln (Volker Kirchberg)

Man gelangt in eines der wohlhabenderen Wohngebiete in der Nähe der Stadtmitte, wenn man durch die Eilenriede geht, einem stadtparkähnlichen Waldstück. Der Autor beschreibt dann eine bestimmte Straße, die auf der einen Seite mit ihrer Blockrandbebauung noch nicht auf die Wohlhabenheit des Stadtteils verweist, dann aber im südlichen Teil diese Wohlhabenheit des Wohngebietes durch die Einzelhausbebauung und durch eine gewisse urbane Gestaltung des öffentlichen Raums mit Restaurants, Geschäften und Plätzen auf seinen Wohlstand verweist.

Kapitel 3: Macht und Potenzial. Eine explorative Netzwerkanalyse der Akteur*innen nachhaltiger Stadtentwicklung (Volker Kirchberg, Robert Peper)

Zu Beginn stellen die Autoren die Prämissen und Ziele einer Netzwerkstudie vor. Die Regulierung des Zusammenlebens in einer Stadtgesellschaft zwischen unterschiedlichen Akteuren bedarf eines regulierten Aushandlungsprozesses. Wenn staatliche, wirtschaftliche und zivilgesellschaftliche Akteure auf Augenhöhe etwas aushandeln, ist dies eine besondere Herausforderung nicht nur an die Moderation eines solchen Prozesses; diese Art der Vernetzung gelingt auch nur unter spezifischen strukturellen Voraussetzungen wie etwa der Größe der Stadt oder eines Stadtteils. Diese Überlegungen werden zunächst entfaltet und die Methoden und die grundsätzlichen Ziele einer quantitativen Netzwerkanalyse vorgestellt.

Anschließend werden die Methodik der Datenerhebung und die Stichprobe erläutert. Weiter werden charakteristische Merkmale der beteiligten Akteure wie etwa die Organisationsstruktur, ihre Wertorientierung, das Alter der Organisation oder der Aktionsradius (Stadtteil oder Gesamtstadt) etc. diskutiert und die Zielgruppen der einzelnen Akteure vorgestellt. Dann geht es auch um die Themen einer nachhaltigen Stadtentwicklung bei den Akteuren, ihre Wertorientierung, ihr Verständnis von „Stadt“ und um die Einschätzung ihrer eigenen Wirkung auf Stadtbilder der nachhaltigen Stadtentwicklung.

Im Folgenden wird die Strukturanalyse der Netzwerke ausführlich beschrieben und durch graphische Darstellung sehr anschaulich gemacht.

Welchen Einfluss Organisationsmerkmale auf die Vernetzung haben, welchen Einfluss etwa die inhaltlich-organisationale Ausrichtung oder das Thema „Gebaute Stadt“, die Entlohnung und die Herkunft der Förderung auf die Vernetzung hat, wird ausführlich erörtert. Welche Bedeutung die Kooperation im Netzwerk für die Akteure hat und die Impulse und Beweggründe der Kooperation werden ebenfalls ausführlich diskutiert.

Zwischenspiel 5: Expo-Plaza (Messe Ost). Ein Changieren zwischen einer „Toten Zone“ und den Erinnerungen an einen visionären, lebendigen Ort (Annette Grigoleit)

Die Autorin schildert Erfahrungen und Wahrnehmungen auf dem Expo-Plaza als einer „Toten Zone“. Vereinzelt tauchen auch Menschen auf. Die architektonische Gestaltung drum herum wird dann eher als lebendig beschrieben. Das „menschenseelenleere Gesamtensemble“ des Platzes wirkt trostlos und beklemmend, was durch die monotone bauliche Gestaltung des Platzes noch verstärkt wird.

Zwischenspiel 6: Wülfel und Döhren. Ineinanderfließen des Urbanen mit dem Suburbanen (Annette Grigoleit)

Lässt sich der Weg vom Suburbanen ins Urbane als ein Weg von einem dörflich geprägten Stadtteil in die urbane Dynamik einer Großstadt beschreiben, zumal hier auch auf Wirth’s Definition von Urbanität zurückgegriffen wird? Oder ist der suburbane Raum ein von der Industrialisierung überformtes Dorf, das sich wie viele ländliche Siedlungen im Zuge der Industrialisierung entwickelte und seine dörfliche Struktur erhalten konnte? Das Urbane kündigt sich in der Regel durch die andere Bebauung (Geschosswohnungsbau, Hochhäuser) und die Wohn- und Verkehrsdichte und durch öffentliche Plätze mit einem besonderen typischen Charakter und einer bestimmten Aufenthaltsbestimmung und -qualität an.

So liest sich dieses Zwischenspiel von Wülfel nach Döhren.

Teil 2: Imagination

Kapitel 4: Kreativ-kulturelle und künstlerische Praktiken für städtische Möglichkeitsräume (Sacha Kagan)

S. Kagan stellt zunächst drei Hypothesen vor, die seine Forschung geleitet haben:

  1. Kulturelle Organisationen haben von vornherein das Potenzial, offene Lebensräume zu werden. Dank der Künstlerschaft, die auf Grund ihrer Bildung offen sind für Innovatives und Kreatives, sind kulturelle Organisationen mehr als nur lernende Organisationen.
  2. Um offene Lebensräume zu entwickeln müssen kulturelle Organisationen ermöglichen, dass sich ihre Besucher an den kreativen Gestaltungsprozessen beteiligen und für sie Räume für Imaginäres und Experimentierens eröffnen.
  3. Die Schaffung von Netzwerken ermöglicht auch die Verbindung unterschiedlicher künstlerischer und gestalterischer Perspektiven und deren Diskussion, was das Veränderungspotenzial stärkt.

Diese Hypothesen werden kurz erläutert, um dann das Material und die Methoden einer qualitativen und kunstbasierten Forschung zu beschreiben.

Zunächst werden die Organisationen vorgestellt, die auf ihre Nutzung des Imaginären von Nachhaltigkeit untersucht werden. Dabei wird Imagination als kreativer Prozess der individuellen und sozialen (De-/Re-)Konstruktion der Realität verstanden(185). Die untersuchten Organisationen werden ausführlich reflektiert. Im Ergebnis ist das nachhaltige urbane Imaginäre auf mehreren Ebenen angesiedelt. Dies wird ausführlich erörtert.

Danach beschäftigt sich der Autor mit einer spezifischen Organisation (KdW). Dabei geht der Autor zunächst auf den Begriff der „Entrepreneurship in Conventions“ ein. Konventionen erleichtern den Individuen zu interagieren, ohne sich rechtfertigen zu müssen. Als gesellschaftliche Referenzrahmen schaffen sie Sicherheiten; ihre Verletzung führt zu Verunsicherungen, können aber auch zu erhöhter Aufmerksamkeit führen, weil ihre Verletzung mit Abweichungen von der Normalität verbunden sind und zu Innovationen führen können. Nach einer ausführlichen Diskussion werden Möglichkeitsräume der Kreativität ausgelotet. Es geht hauptsächlich um soziale Kreativität als eine Verbindung von individueller und kollektiver Kreativität, die durch die Überzeugung entsteht, dass das Individuelle kollektiv akzeptiert werden kann. Dazu sind Interaktions- und Aushandlungsprozesse notwendig. Die Voraussetzung für kollektive Kreativität werden ausführlich vorgestellt und diskutiert, ihre Formen erörtert, bevor dann die Betrachtung der sozialen Kreativität der untersuchten Organisation KdW diskutiert wird.

Weiter diskutiert der Autor Räume für herausfordernde Erfahrungen und für die Unbestimmtheit, in der Situationen offen gelassen werden. Es geht dann auch um Experimentierräume als Möglichkeitsräume für eine präfigurative Politik.

Zwischenspiel 7: Dorf Ricklingen. Ein Spaziergang (Julia Barthel)

Wenn man durch ein Dorf oder Stadtgebiet wandert – einfach so und alleine – hat man Eindrücke und Wahrnehmungen, aber man erfährt wenig über das, was die Identität dieses Dorf, sein kollektives Gedächtnis ausmacht. Deshalb hat sich die Autorin der ethnographischen Methode bedient und einen Bewohner gebeten, mit ihr den Spaziergang zu machen. Seine Geschichten sind die Geschichten des Dorfes, dessen kollektives Gedächtnis über diese Geschichten erzeugt wird. Es blieb ein Dorf trotz seiner Eingemeindung in die Stadt Hannover. All dies wird eindringlich und empathisch beschrieben und reflektiert.

Zwischenspiel 8: Ricklingen, Bornum und Linden-Süd. Urbane Randzonen (Annette Grigoleit und Sacha Kagan)

Die Übergänge zu den urbanen Randzonen sind immer besondere Herausforderungen für eine städtebauliche Gestaltung und die Stadtplanung. Denn räumliche Barrieren und Distanzen sind immer auch Voraussetzungen für soziale Distanzen. Grigoleit und Kagan begegnen zunächst auch eher ländlich geprägten Arealen, Schrebergartensiedlungen, dann auch Mehrfamilienhäusern für den sozialen Wohnungsbau und Einfamilienhäusern, auch Wohngebieten, die tagsüber menschenleer sind und sie kommen dann auch eher in jene urbane Randzone, die bereits Urbanität mit öffentlichen Plätzen und Räumen, mit Geschäften und Dienstleistern ausstrahlt und die Qualität eines Wohngebiets der gehobenen Mittelklasse hat. Urbane Randzonen sind in der Regel reine Wohngebiete mit Einrichtungen für die Grundversorgung; in urbanen Räumen werden die Funktionen vielfältiger und komplexer und die Übergänge sind meist erkennbar durch die Zunahme dieser Funktionen. Dies lässt sich auch durch diese Beschreibung gut herauslesen.

Kapitel 5: Ein Möglichkeitsraum imaginativer nachhaltiger städtischer Zukünfte. Das kreative Beteiligungswerkzeug „Linden Fiction 2050“ (Annette Grigoleit, Verena Holz u. Mitarb. v. Julia Barthel, Lena Greßmann)

Auf der Basis von Kurzgeschichten, zu denen das dortige Kulturzentrum Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils einlud und in denen sie Wünsche und positive Utopien eines zukunftsträchtigen Zusammenlebens im Stadtteil im Jahr 2050 äußern konnten, interessieren sich die Autorinnen für die verschiedenen Bedeutungskontexte, thematischen Orientierungen, Wissensvorräte und institutionellen Mechanismen, sowie für die Erfahrungshorizonte der an dem Projekt Beteiligten. Wie und auf welche Weise überschreiten die Beteiligten in ihren Kurzgeschichten durch visionäre und imaginäre Vorstellungen die bestehende Ordnung und entwickeln alternative Entwürfe zu ihr?

Nach der Beschreibung des Ablaufs dieser Veranstaltung „Linden Fiction 2050“ als Beteiligungswerkzeug wird der heuristische Rahmen dargestellt, innerhalb dessen die Forschungsfragen formuliert werden, zentrale Begriffe wie Kunst und Partizipation erläutert werden und Themen und Problemstellungen formuliert werden, die auch die Stadtsoziologie und Stadtplanung sowie die Sozialpädagogik diskutieren. Dabei wird auf das Recht auf Stadt (Lefebvre) rekurriert und es werden Dimensionen einer nachhaltigen Stadtentwicklung im 21. Jahrhundert thematisiert und die Transdisziplinarität des Vorhabens betont.

Dann werden Analysedimensionen vorgestellt wie Partizipation und domänenübergreifende Interaktion und Kooperation sowie jene Transdisziplinarität und es werden Indikatoren genannt, an denen diese Dimensionen jeweils gemessen werden sollen.

Die Autorinnen gehen dann auf die Ergebnisse ein, schilden die Einbindung heterogener und unbeteiligter Gruppen von Stadtbewohnerinnen und -bewohnern, ihre Motive und Interessen an der Beteiligung und sie beschreiben anschließend den Grad des Beteiligungswerkzeugs, den sie am Grad einer transparenten und demokratischen Entscheidungsfindung, an der Mitgestaltung des Projektprozesses und an der Wirksamkeit auf individueller, sozialer und kollektiver Ebene festmachen.

Weiter werden Wissensformen und ihre Generierung diskutiert; die Autorinnen stellen fest, dass eine Vielfalt solcher Wissensformen ineinander greift und die Beteiligten auf Grund von Vorerfahrungen und Vorwissen ein spezifisches Gestaltungswissen generieren, was kreative Gestaltungspotenziale freisetzt. Auch dies wird ausführlich beschrieben und analysiert.

Reflexion 1: Linden Fiction Revisited. Nothing ever happens unless there is a dream (Ute Finkeldei)

Da die die Stadt ein Möglichkeitsraum ist – warum sollen nicht auch Träume möglich sein? Welche Bedeutung geben Menschen einem Raum, wie eignen sie sich ihn an und besetzen ihn; wie entstehen Orte der Erinnerung, des Vergewisserns und Vertrauens? Die Autorin reflektiert Linden Fiction 2050 vor dem Hintergrund der Ergebnisse, die diese Beteiligungswerkstatt hervorgebracht hat. Welche Texte wurden eingereicht, wie wurden die Autorinnen und Autoren begleitet, beraten, wie wurde ihnen geholfen? Es geht also auch um Methodenkritik und um die kritische Analyse des Konzepts. Dabei werden die Thementische eines World Cafés angesprochen und der Workshop analysiert, in dem die Ergebnisse präsentiert wurden.

Reflexion 2: Lösungsproduktion für komplexe Probleme. Transdisziplinäre Informationssammlung als Basis einer nachhaltigen Disruption (Constantin Alexander)

Vor dem Hintergrund einer eigenen Forschungsarbeit des Autors reflektiert er Linden Fiction 2050. Es handelt sich um „Das Ihme-Zentrum – ein neues Wahrzeichen für Hannover“. In dieser Arbeit bescheinigt der Autor „Markt- und Staatsversagen mit einer mehrdimensionalen Dysfunktionalität“(314). Die wird an Hand der dortigen Forschungsergebnisse expliziert. Dabei wird auf klassische Arbeiten zurückgegriffen, die sich ebenfalls diesem Thema widmen. Auch in diesem Projekt gab es zahlreiche Innovationsansätze, Verbesserung der Lebensqualität im Quartier und des technologischen Umbaus der Infrastruktur. Auf diese Weise und auf Grund anderer Überlegungen wurde das Ihme-Zentrum zum Forschungslabor für strategische Überlegungen, acht Möglichkeitsräume für die Stadt Hannover zu identifizieren, also Freiräume, Experimentierräume, Intentional Communities oder Heterotopien auszumachen. Dies wird ausführlicher erörtert.

Kapitel 6: Reale Utopien. Möglichkeitsräume für eine nachhaltige Stadtentwicklung? (Volker Kirchberg)

Möglichkeitsräume als reale Utopien. Volker Kirchberg unternimmt den Versuch, in Anlehnung an die Definition von Utopie von Erik Olin Wright auszuloten, wo im Spannungsbogen zwischen Wunsch und pragmatischen Möglichkeiten solche realen Utopien im Sinne einer nachhaltigen Stadtentwicklung anzusiedeln sind. Dazu bietet er zunächst einen theoretischen Rahmen, der utopische Visionen als Wegweiser begründet. Er greift dabei auf Thomas Morus und A.Touraine zurück, geht auf Ernst Bloch u.a. ein, um dann Wrights Drei-Sektoren-Modell zu diskutieren, das ein Beziehungsgeflecht von Sozialer Macht, Wirtschaftsmacht und Staatsmacht darstellt, also eine Beziehung zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Staat herstellt und das eine Dialektik von Wünschbarem, Machbarem und Umsetzbarem konstruiert. Dies wird anschaulich beschrieben und ausgeführt.

Die empirische Überprüfung findet auf der Basis der acht untersuchten Projekte in Hannover statt; dabei werden die Dimensionen Einzugsgebiet, Bürokratisierungsgrad und inhaltliche Ausrichtung ins Verhältnis zu einander gesetzt. Diese Projekte werden an Hand dieser Dimensionen ausführlich analysiert. Dabei werden vorgegebene Handlungsfelder und Querschnittsaufgaben des Stadtentwicklungskonzepts „Mein Hannover 2030“ (LHH 2016) und Ziele ausgewählter Teil-Handlungsfelder zu diesem Konzept tabellarisch dargestellt und anschaulich gemacht. Weiter werden die Projekte in Blick auf die Häufigkeit des Gesprächsthemen, der Wünschbarkeit und der Umsetzbarkeit verglichen.

Im Anhang des Kapitels befindet sich ein halbstrukturierter Leitfaden für die Experteninterviews und eine Tabelle, die die Häufigkeit der 35 wichtigsten Codes nach Fällen getrennt aufzeigt.

Zwischenspiel 9: Linden-Nord (Sacha Kagan, Annette Grigoleit)

S. Kagan und A. Grigoleit unternehmen eine Synthese der verschiedenen Walks in Linden-Nord. Dabei beschreiben sie konstruierte Eindrücke und Wahrnehmungen und verbinden sie mit realen Erfahrungen und Wahrnehmungen. Der Leser/die Leserin wird dabei im Ungewissen gelassen. Es liest sich alles sehr real.

Zwischenspiel 10: Ein Spaziergang durch Hannover-Mitte (Sacha Kagan)

Wie werden Räume wahrgenommen, wenn man sie nur einmal oder selten besucht; wie, wenn man sie regelmäßig besucht und immerwährende Veränderung feststellt? Wer auf dem Bahnhof ankommt und ihn verlässt, um in die Stadt zu kommen, wird von menschenbeseelten Einkaufsflächen, Plätzen und Fußgängerzonen überwältigt und muss sich erst zurecht finden. Das im differenzierten Wahrnehmen geschulte Auge erkennt viele Möglichkeiten, Räume, in denen etwas geschieht, auch etwas geschehen kann – also Möglichkeitsräume. Dann wird es Orte geben, die sich noch nie verändert haben und auch kein Veränderungspotenzial bieten oder kein Verlangen nach Veränderung ausstrahlen. Es sind Orte der Begegnung wie die Markthalle und auch Bewegungsräume, die eine gewisse Dynamik der Kommunikation ausstrahlen.

Abschluss

Kapitel 7: Perspektiven der nachhaltigen Stadtentwicklung. Übereinstimmungen, Diskoranzen und Empfehlungen (Volker Kirchberg, Sacha Kagan)

Dieses Kapitel ist ein Fazit und zugleich ein Ausblick auf die Möglichkeiten einer nachhaltigen Stadtentwicklung. Der interdisziplinäre Zugang zu diesem Thema zeigt, dass sich Nachhaltigkeit in der Stadt längst nicht mehr auf die ökologischen Aspekte eines gesunden und verträglichen Wohnens und Lebens in der Stadt konzentriert. Vielmehr haben die künstlerisch-kreativen und sozial-ökonomischen Projekte gezeigt, wie vielfältig nachhaltige Stadtentwicklung sein kann.

Unter diesem Gesichtspunkt gehen die Autoren noch einmal auf die in zwei Teilen aufgegliederten Beiträge ein und suchen nach überlagernden Perspektiven der Institutionen und der Imagination.

Weiter reflektieren die beiden Autoren noch einmal das Konzept „Mein Hannover 2030“ als ein gutes Beispiel für die Transformation der Stadtentwicklung im Kontext der Beteiligungskultur und der Schaffung geeigneter Netzwerkstrukturen. Und es werden Empfehlungen ausgesprochen, die sich auf die Beteiligungswerkstätten als Möglichkeitsräume beziehen und auf reale Utopien, die sich im Spannungsbogen von Wünschenswertem und Machbarem bewegen.

Diskussion

Urbane Nachhaltigkeit als die Nachhaltigkeit in der Stadtentwicklung hat auch etwas damit zu tun, wie wir Städte als Lebensräume zukünftig verstehen wollen, in denen man gut leben kann. Das heißt auch, den Begriff der Urbanität als eine für die Stadt typische städtische Lebensweise zu überdenken. Schließlich ist die Stadt schon immer mit dem Anspruch angetreten, eine spezifische politische Kultur hervorzubringen, die Heterogenität, Vielfalt menschlicher Lebensweisen, kultureller Lebensstile und die daraus entstehenden Spannungen, Widersprüchlichkeiten, Kontingenzen aushalten kann, ohne daran zu zerbrechen.

Gerade eingedenk dieser Überlegungen ist es geboten, die Stadt als einen Raum ständiger Veränderungen zu betrachten. Deshalb sind auch immer Möglichkeiten denkbar, die in die mögliche zukünftige Gestaltung einer Stadt, auch in die Stadtentwicklung und der städtebaulichen Gestaltung der Stadt einbezogen werden, die über das hinausgehen, was die Realität, die reale Ordnung schon vorgibt. Damit wird Stadtentwicklung zur Philosophie der realen Stadtplanung. Städte sind nie fertig; auch wenn man als Kind in einen vorgefertigten städtischen Raum hineinwächst, lernt man, dass dieser Raum veränderbar ist, vor allem von einem selbst mitgestaltet werden kann.

Dieses Buch ist in seinem Facettenreichtum von Projekten und disziplinären Zugängen zu der Frage ein wichtiger Impulsgeber, wie Stadt gestaltbar ist und wer sie gestalten kann und auch soll und wie vor allem das Zusammenleben in der Stadt durch Kooperation der unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteure gestaltet werden kann.

Zwar geht es in den Beiträgen um Nachhaltigkeit, aber es geht insgesamt um die Frage, welche Zukunft die Stadt in ihren unterschiedlichen Ausprägungen als europäische, amerikanische, asiatische oder afrikanische Stadt hat, welche sie als Metropole, Groß- oder Kleinstadt, Megacity, als Global City zukünftig hat.

Nachhaltigkeit hat somit eine andere, umfassendere Qualität angenommen.

Fazit

Das Buch ist einerseits eine Bereicherung der Nachhaltigkeitsdebatte in Blick auf die Frage, wie sich Städte zukünftig aufstellen müssen, um als Lebensräume ein gutes Leben zu garantieren. Es ist andererseits ein wichtiger analytischer Beitrag zur Debatte um die Urbanität einer Stadt und um ein urbanes Leben im Unterschied zu anderen Lebens- und Siedlungsformen wie z.B. dem Dorf. Die Beiträge zeigen den Facettenreichtum auf, der möglich ist, um ein Leben in der Stadt unter den Bedingungen kultureller Vielfalt, unterschiedlichster Lebensweisen und Lebensstile und damit unter den Bedingungen der damit verbundenen Spannungen und Widersprüchlichkeiten zu gestalten und unter den Bedingungen von Fremdheit, Individualität und Kontingenz zu leben.

Rezension von
Prof. Dr. Detlef Baum
Professor em. Arbeits- u. Praxisschwerpunkte: Gemeinwesenarbeit, stadtteilorientierte Sozialarbeit, Soziale Stadt, Armut in der Stadt Forschungsgebiete: Stadtsoziologie, Stadt- und Gemeindeforschung, soziale Probleme und soziale Ungleichheit in der Stadt
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Zitiervorschlag
Detlef Baum. Rezension vom 10.07.2019 zu: Sacha Kagan, Volker Kirchberg, Ursula Weisenfeld (Hrsg.): Stadt als Möglichkeitsraum. Experimentierfelder einer urbanen Nachhaltigkeit. transcript (Bielefeld) 2019. ISBN 978-3-8376-4585-9. Reihe: Urban studies. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25530.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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