Mechthild Koreuber, Birte Aßmann (Hrsg.): Das Geschlecht in der Biologie
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 20.06.2019
Mechthild Koreuber, Birte Aßmann (Hrsg.): Das Geschlecht in der Biologie. Aufforderung zu einem Perspektivwechsel.
edition sigma im Nomos-Verlag
(Baden-Baden) 2018.
1. Auflage.
341 Seiten.
ISBN 978-3-8329-7053-6.
64,00 EUR.
Reihe: Schriften zur interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung - Band 12.
Thematischer Hintergrund
Die Biologie wird immer noch gerne als vergewissernde Instanz herangezogen, um Differenzen zwischen den Geschlechtern „Mann und Frau“ zu belegen. Naturalistische Vorstellungen über die Geschlechterdifferenz sind weit verbreitet und werden gerade in jüngster Zeit von rechten Parteien politisch genutzt. In diesem Band versuchen alle Autor_innen, die Fragwürdigkeit einer solchen Begründung aufzuzeigen. Sie verstehen die Biologie als Teil eines kulturellen Systems, und ihre Erkenntnisse eingebettet in soziokulturelle Kontexte. Dazu bieten sie viele Perspektiven: Aus der Philosophie, der Wissenschaftshistorie, der Neurowissenschaft, der Sexualwissenschaft bis zur Humanbiologie bringen sie theoretische Überlegungen und viele empirischen Belege dafür, dass die Biologie nicht „die Wahrheit“ über die Geschlechter bieten kann. Sie laden vielmehr ein zu einem Dialog zwischen der essentialismuskritischen sozial- und kulturwissenschaftlichen Genderforschung und einer empirisch arbeitenden biologischen Sexforschung und einer kritischen Reflexion der biologischen Forschung.
Herausgeberinnen
Dr. Mechthild Koreuber hat Mathematik, Politikwissenschaft und Philosophie studiert und wurde in Mathematik promoviert. Sie arbeitet seit 1999 hauptberuflich als zentrale Frauenbeauftragte der FU Berlin. Dr. Birte Aßmann ist promovierte Humanbiologin und arbeitete viele Jahre in der Forschung, erst in der Epigenetik und dann in der Bewegungs- und Bindungsforschung mit Neugeborenen und Kleinkindern. Nun ist sie freiberufliche Dozentin im Bereich Frühpädagogik Kinderschutz und Geburtshilfe. Beide haben im Rahmen des Programms „Offener Hörsaal“ der FU Berlin eine Vorlesungsreihe, ein Seminar und eine Lehrveranstaltungen durchgeführt und daraus diesen Sammelband zusammengestellt.
Aufbau und Inhalt
Der Band umfasst zwölf Beiträge von elf Autor_innen und drei Autoren. Nach einer Einleitung und einem Überblick von Mechthild Koreuber nimmt die Philosophin Susanne Lettow das Wechselverhältnis von Biologie und Biopolitik in den Blick: An zwei Beispielen zeigt sie auf, wie zu verschiedenen Zeiten – im 18. Jahrhundert in der Naturphilosophie und im späten 20. Jahrhundert in der poststrukturalistischen Debatte – jeweils mit dem Bezug auf die vermeintlich moralische Autorität der Biologie geradezu gegensätzliche Positionen zu den Geschlechterregimen begründet wurden. Aufgrund dieser Widersprüche plädiert sie für eine systematische Verbindung von Wissenschaftskritik, Philosophiekritik und der Kritik der Biopolitik, um genau die Prozesse greifbar zu machen, die die moralische Autorität der Biologie hervorbringen.
Auch Helga Satzinger zeigt aus wissenschaftshistorischer Sicht an verschiedenen Beispielen, warum der Raum der politischen Aushandlung sozialer Geschlechterordnungen nicht von den Naturwissenschaften determiniert werden sollte. An drei Schauplätzen zeigt sie auf, wie Geschlechterordnungen verhandelt werden: in der Produktion biologischen Wissens, in der Nutzung der in der Biologie vertretenen Geschlechterkonzepte in zeitgenössischen politischen Auseinandersetzungen und in der geschlechtsspezifischen Zuweisung von Positionen in wissenschaftlichen Arbeitsstrukturen und Organisationsformen. So konnte die Geschlechterdifferenz durch die Genetik und Hormonforschung als komplexer Prozess verstanden werden, mit der Entdeckung der Chromosomen wurde aber eine Geschlechterhierarchie zuungunsten des weiblichen Parts in das Verhältnis von Zytoplasma( weiblich gedacht) und Chromosomen innerhalb einer Zelle eingeschrieben. Sie zeigt aber auch, dass und wie in der politischen Auseinandersetzung um die Geschlechterordnung diese Konzepte jeweils genutzt wurden. Zum einen wurden die Emanzipationsbestrebungen der Frauen durch eine Infragestellung der binären, heterosexuellen Ordnung unterstützt, gerade die Chromosomentheorie sollte die Gleichheit von Männern und Frauen begründen. Insbesondere im Nationalsozialismus aber wurden alle Ansätze zu einem Geschlechterkonzept, das statt einer binären Differenz einen kontinuierlichen Übergang zwischen männlichen und weiblichen Organismen konzeptualisierte, zerstört. Nicht zuletzt wurde durch disziplinarische Methoden, mit denen Frauen aus den wissenschaftlichen Feldern wie z.B. der Genetik heraus gedrängt wurden, eine geschlechtshierarchische Ordnung wissenschaftlicher Arbeit (wieder)hergestellt.
Die Physikerin, Soziologin und Wissenschaftshistorikerin Elvira Scheich skizziert mit der Biographie von Elisabeth Schiemann ( 1881 – 1972) einer „Patriotin im Zwiespalt “, wie ihr beruflicher Werdegang an vielen Stellen auf eine geschlechtsspezifische Diskriminierung verweist. Wie vielen Frauen war auch Elisabeth Schiemann gerade mal der Zugang zu neuen Disziplinen und zu weniger prestigeträchtigen Institutionen, und auch hier nicht an deren Spitze, geöffnet. In der NS Zeit setzte sie genau wie viele Männer, ihre Forschungen an den Kulturpflanzensorten fort. Allerdings wandte sie sich als Mitglied der bekennenden Kirche gegen die Anwendung der Ariergesetze und half vielen Verfolgten, aus Deutschland zu fliehen. Besonders der (Brief)Kontakt zu ihrer langjährigen Freundin Liesl Meitner bis in deren Exil nach Stockholm beleuchtet das Verhältnis von emigrierten und in der Heimat gebliebenen Wissenschaftlerinnen und die Probleme, die diese unterschiedlichen Wege aufwerfen.
Malin Ah-King, Evolutionsbiologin und Associate Professorin an der Universität Stockholm kritisiert den heteronormativen Blick in der Biologie. Sie belegt, dass die biologischen Erkenntnisse eine sehr große Vielfalt und Variation in dem, was als weiblich und männlich benannt wird, hervorgebracht haben, dass aber in den Interpretationen stets von einer Norm und Abweichungen von dieser Norm gesprochen wird. Die Diversität weist sie an Beispielen in den Geschlechterrollen, in Interaktionsformen und Reproduktionsstrategien nach. Sie plädiert dafür, dass dieses Wissen über den Variantenreichtum auch in der Biologie breiter kommuniziert werden sollte, um den „cultural boomerang“ zu durchbrechen, den Zirkelschluss, in dem sich Gesellschaften bewegen, wenn sie biologisches Wissen heranziehen, um gesellschaftliche Ungleichheiten zu legitimieren und gleichzeitig die Vorstellungen von den so legitimierten Geschlechterverhältnissen das biologische Wissen formen.
Die Psychologin und Neurowissenschaftlerin Anelis Kaiser beschäftigt sich mit der Neurowissenschaft, deren Ergebnisse ja begeistert von populärwissenschaftlichen Medien aufgenommen wurde, weil sie angeblich den Nachweis einer klaren Geschlechterdifferenz erbracht habe. Dabei analysiert sie sowohl die Geschlechterverhältnisse in der in den Neurowissenschaften als naturwissenschaftlicher Disziplin als auch deren wissenschaftliche Praxis. Sie stößt dabei auf eine „expansive Männlichkeit“, wenn hoch positionierte und fachlich anerkannte Neurobiologen glauben, mit ihren Erkenntnissen auch auf gesellschaftliche Fragen antworten zu können. Diese blenden die Studien aus, die zeigen, dass die Differenz im Vergleich von männlichen und weiblichen Gehirnen keinesfalls als natürlich, unveränderbar und verhaltensbestimmend betrachtet werden muss. In der Forschungspraxis kann sie zeigen, wie verschiedene Faktoren zu der letztlich binären und natürlichen Interpretation von Befunden führt: eine unklare Definition von Geschlecht, eine „Jagd“ nach Differenzen, das häufige Verschweigen der Herkunft von Erkenntnissen aus Tierstudien, die dann einfach auf den Menschen übertragen werden, die statistischen Methoden, die immer auch einen breiten Raum der Entscheidung für die Experimentator_innen lassen. Demgegenüber verweist sie zum Schluss darauf, dass es in der neurowissenschaftlichen Forschung durchaus auch Grundlagen für eine Aufweichung binärer Geschlechtervorstellungen gibt: Geschlecht erscheint dann als mulitmorph statt dimorph und gleicht eher einem heterogenen Mosaik auf einem Kontinuum anstatt auf einer binären kategorialen Achse.
Der Biologe und Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voss geht auf die denkgeschichtlichen Entwicklungslinien zur Geschlechtsdetermination ein. Historisch gab es schon immer andere als bipolare Modelle von Geschlecht. Die Präformation (alle Geschlechtsinformationen sind bereits im frühesten Stadium des Embryo enthalten) und die Epigenese (die Formung des Geschlechts ist ein Prozess im Zeitverlauf und erfolgt unter Einschluss äußerer Faktoren) standen sich als biologische Konzepte der Geschlechtsentwicklung immer wieder gegenüber. Auch Voss verweist auf die gesellschaftlichen Kontexte, in denen sich Forschungen befindet: erst die Nationalsozialisten haben die Richtung in der genetischen Forschung, die lange Zeit von einem Kontinuum zwischen „männlich“ und „weiblich“ ausging, gestoppt und das Modell einer bipolaren, diskontinuierlichen Geschlechterdifferenz favorisiert. So entstand die Fokussierung auf die Chromosomen X und Y. Heute ist die Orientierung auf diese beiden Chromosomen überholt, weil erkannt wird, dass Gen und DNA nicht die alleinigen Träger von Informationen zur Entwicklung des Genitaltraktes sind sondern Teil eines komplexen Zusammenspiels unterschiedlicher Faktoren.
Die Epigenetik als Wissenschaft, ihre Entwicklung von einer Randerscheinung zur anerkannten Wissenschaft sowie ihre Prägung durch feministische und Frauenrechtsbewegungen thematisiert die Biologin und Wissenschaftshistorikerin Bettina Bock von Wülfingen. Möglicherweise war es der relativ große Frauenanteil, der zu Zeiten des Beginns der Entwicklung der Epigenetik in dieser Wissenschaft zu beobachten war, der dazu führte, dass zunächst dem mütterlichen Anteil in der Vererbung eine größere Aufmerksamkeit beigemessen wurde. Die Autorin geht dann auf die Metaphorik in der Geschichte der Epigenetik ein: da findet sich eine „Geschlechterkonflikttheorie“ ein „selfish gene Theorie“, ein „elterliches Tauziehen“ und sogar ein „elterliches Wettrüsten“. Diese Metaphern sollen mikrobiologische Prozesse beschreiben, die sich zwischen den mütterlichen und väterlichen Genen abspielen, sie spiegeln aber allzu deutlich die historischen Verflechtungen der Deutungen mit den jeweiligen Auseinandersetzungen im Geschlechterverhältnis. Heute halten Modelle Einzug, die mehr auf die Kooperation der Gene setzen und nicht auf den „Geschlechterkampf“.
Birte Assmann nimmt in ihrem Artikel die sozialen Prozesse in der frühkindlichen Entwicklung in den Blick, in denen Geschlecht als sozial folgenreiche Unterscheidung hervorgebracht und reproduziert wird. Anhand von zwei verhaltensbiologischen Studien zeigt sie exemplarisch, wie Forschungsprozesse von bewussten und unbewussten Auffassungen beeinflusst sind und sowohl Ergebnis von Geschlechtskonstruktionen darstellen als auch an ihrer Erzeugung beteiligt sind. Sie plädiert aus diesen Erfahrungen heraus für eine erhöhte Reflexion der eigenen Sichtweisen und die Infragestellung von Vorannahmen auch in dieser naturwissenschaftlichen Forschung. Einen ebenso kritischen Blick auf die verhaltensbiologische Forschung werfen der Biologe Heribert Hofer und die Biologin Marion L. East. Während über lange Zeit angenommen wurde, dass das Dominanzverhalten von Tieren mit ihrer Körpergröße und ihrem Testosteronspiegel zusammenhängen, haben ihre eigenen Forschungen an Tüpfelhyänen diese Annahme widerlegt: die in diesen Clans dominierenden Weibchen hatten weder größere Körper noch einen erhöhten Testosteronwert als die weniger dominanten Männchen. Erst als die stereotypen Vorannahmen abgelegt wurden, konnten die relevanten Beziehungsgeflechte der Individuen in den Clans sichtbar gemacht werden. Die weibliche Dominanz entstand nämlich nicht durch aggressive Dominanz sondern durch männliche Unterwerfung, die durch die spezielle Anatomie des weiblichen Geschlechtsorgans, das die Paarung für die Männchen extrem erschwert, befördert wurde. Die Autoren schlagen vor, die Möglichkeit, dass Hormonspiegel nicht die Ursache sondern eher die Folge aggressiver Verhaltensweisen sein könnte, weiter zu erforschen und damit die Spur zu verfolgen, dass soziale Verhaltensweisen und Organisationsformen weniger von biologischen Gegebenheiten determiniert werden als bisher gedacht.
Der Biologe Wolfgang Goymann untersucht die geschlechtliche Reproduktion und verweist zunächst generell auf die Vielfalt der Formenauch im Fortpflanzungsverhalten und in den Paarungstypen. Zweigeschlechtliche Fortpflanzung setzt nicht unbedingt voraus, dass es Männchen und Weibchen gibt, männliche und weibliche Funktionen können in einem einzigen Individuum vorhanden sein, es gibt Polygynie( mehrere Weibchen paaren sich mit einem Männchen) und Polyandrie (ein Weibchen paart sich mit mehreren Männchen) und die Brutfürsorge liegt nicht immer bei den Weibchen. Seine Untersuchungen am Grillkuckuck zeigen fürsorgliche Männchen und konkurrierende Weibchen. Damit sind nicht nur die Geschlechter sondern auch die Geschlechterrollen komplex und vielfältig und entstehen aus einer komplexen Interaktion von Organismus, Umwelt und Kultur. Der Autor stellt fest, dass es in der modernen Biologie einen Abschied von monokausalen Sichtweisen gibt und damit auch von der Vorstellung einer einseitigen Determinationen. Das führt ihn zu dem Schluss, dass sich biologische Sachverhalte nicht zur Wertung von Geschlecht oder Geschlechterrollen eignen und sich die menschlichen Individuen schon selbst entscheiden müssen, wie sie sich sehen wollen.
Die letzten beiden Beiträge konzentrieren sich auf die Pädagogik und Didaktik, also die Frage, welches biologische Wissen wie weitergegeben wird. Helene Göschel, Physikerin und Wissenschaftshistorikerin und der Pädagoge Florian Cristobal Klenk sehen in der kritischen Wissensvermittlung biologischen Wissens einen wichtigen Beitrag zur Veränderung von Alltagsvorstellungen über Geschlecht, den aber die angehenden Lehrer_innen zunächst selbst vollziehen müssen. Eine Durchsicht der gängigen Curricula lässt aber zu wünschen übrig und transportiert eher Stereotype als die reale Vielfalt in den biologischen Erkenntnissen. Mit dem Ziel der Vermittlung neuer biologischer Erkenntnisse zur Vielfalt von Geschlechtern, Sexualitäten und Fortpflanzungsstrategien aber auch der Vermittlung von Kritikfähigkeit gegenüber naturalistischen Differenzansätzen zu Geschlecht entwickelten sie eine Lehrveranstaltung mit dem Titel „ Biologisches Wissen im Geschlechterdiskurs“ für Studierende des Lehramts und der Pädagogik. Dabei ging es ihnen auch darum, die im Anschluss an Doing Gender Konzepte formulierte Forderung nach Dethematisierung und Entdramatisierung von Geschlecht zu ergänzen und um die Irritation der essentialistischen Geschlechtervorstellungen durch Erkenntnisse aus der Biologie zu erweitern. Der Biologin Sarah Huch beschäftigt sich mit der Biologiedidaktik und der Frage, wieweit die in vielen staatlichen Empfehlungen und Curriculavorgaben enthaltenen Vorgaben, geschlechtliche und sexuelle Vielfalt als Normalität und Stärke zu behandeln, bereits umgesetzt sind. Sie muss feststellen, dass in Standardwerken, Fachzeitschriften und Tagungsbänden der Biologiedidaktik geschlechtliche Vielfalt inhaltlich und konzeptionell wenig berücksichtigt wird. Einstellungsuntersuchungen zu Geschlechterrollen von Jugendlichen haben gezeigt, dass fast bei der Hälfte der Proband_innen biologistische, traditionelle und religiöse Einstellungsmuster vorlagen und damit ein konventionell-normorientiertes Geschlechtsrollenverständnis dominierte. Entsprechend werden Normabweichungen im Schulalltag von der Peergroup geahndet. Das zeigt, wie notwendig eine Umsetzung der Zielvorstellung von der Anerkennung und Förderung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ist und welche Bedeutung eine entsprechende Änderung im Fachverständnis der Biologiedidaktik hat. Darüber hinaus plädiert sie für diversitätssensible Ansätze, die auch andere soziale Kategorien wie sexuelle Orientierung, Ethnizität oder sozialen Status berücksichtigen.
Diskussion
Ob aus der Perspektive der Biolog_innen,. Wissenschaftshistoriker_innen, Genetiker_innen, Verhaltensbiolog_innen, der Pädagog_ innen, der Sexualwissenschaftler_innen, oder der Neurowissenschaftler_innen, ein Standpunkt wird von allen geteilt: Die Biologie ist ein Zweig des politischen Diskurses und kein Nachschlagwerk objektiver Wahrheiten (Donna Haraway). Speziell der Blick auf die historischen Veränderungen im Mainstream der jeweiligen biologischen Diskursen zu den Geschlechtervorstellungen, auf die Machtverhältnisse in den wissenschaftlichen Institutionen und auch auf eine Forschungspraxis, die nur allzu gerne „unpassende“ Ergebnisse vernachlässigt, zeigt, dass und wie auch die Naturwissenschaften durch Sprache, Kultur und Politische Verhältnisse beeinflusst werden. An vielen Beispielen machen die Autor_innen darauf aufmerksam, dass die Natur auch nur in Worten entschlüsselt werden kann und in Bildern und Metaphern gerahmt wird, die nicht aus der Natur selber stammen sondern aus der Kultur der Forscher_innen. Es ist außerordentlich wertvoll, eine solche Fülle von Ansätzen präsentiert zu bekommen, die dasselbe zeigen: Eine Absicherung heteronormativer Geschlechtervorstellung durch biologische Erkenntnisse ist nicht fachgerecht. Eine Kurzfassung dieses Bandes gehört in jedes Biologiebuch und auch in den Kriterienkatalog zur Beurteilung der Qualität von Tierfilmen. Einige der Beiträge, die aus historischer Perspektive geschrieben sind, verweisen auf die radikalen Einschnitte in der biologischen Forschung durch die Nationalsozialisten. Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass es nicht nur um wissenschaftliche Auseinandersetzungen geht, sondern dass die „Wahrheit“ auch durch politische Prozesse und Mehrheiten beeinflusst wird. Das ist gerade heute im europäischen Raum, in dem rechte Kräfte immer stärker werden, eine wichtige Warnung.
Fazit
Dieser Band ist nicht nur Biologiestudierenden, Biolog_innen und Geschlechterforscher_innen zu empfehlen, sondern auch allen, die in Lehre oder Erziehung mit jungen oder älteren Menschen arbeiten. Er bietet geballtes Wissen, Reflexionsangebote und führt zur Irritation eigener Stereotypen. Er stärkt aber auch das Vertrauen in kritische Wissenschftler_innen.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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Es gibt 46 Rezensionen von Barbara Stiegler.
Zitiervorschlag
Barbara Stiegler. Rezension vom 20.06.2019 zu:
Mechthild Koreuber, Birte Aßmann (Hrsg.): Das Geschlecht in der Biologie. Aufforderung zu einem Perspektivwechsel. edition sigma im Nomos-Verlag
(Baden-Baden) 2018. 1. Auflage.
ISBN 978-3-8329-7053-6.
Reihe: Schriften zur interdisziplinären Frauen- und Geschlechterforschung - Band 12.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25541.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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