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Enzo Traverso: Linke Melancholie

Rezensiert von Arnold Schmieder, 21.05.2019

Cover Enzo Traverso: Linke Melancholie ISBN 978-3-89771-265-2

Enzo Traverso: Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Unrast Verlag (Münster) 2019. 296 Seiten. ISBN 978-3-89771-265-2. D: 19,80 EUR, A: 20,40 EUR.

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Autor

Enzo Traverso war Professor für Politikwissenschaften an der Université Paris und lehrt seit 2013 an der Cornell University in Ithaca Ideengeschichte. In Paris war er in der radikalen Linken aktiv. Er veröffentlichte zahlreichen Beiträge zur jüdischen und linken Geschichte und zur Kritischen Theorie. Das Buch wurde aus dem Französischen von Elfriede Müller übersetzt.

Thema

Was er unter linker Melancholie versteht und in außerordentlich umfangreichem Maße über Quellen dokumentiert und interpretiert, bezeichnet er als eine „‚verborgene Tradition‘“: „Die linke Melancholie hat schon immer existiert, diskret, schamhaft, oft unterirdisch, in den meisten Fällen aus den offiziellen Diskursen verbannt, zensiert von der Propaganda und immer ohne sich preiszugeben.“ (S. 11) Sie sei eine „Kultur, die nicht die Opfer bemitleidet, sondern versucht, sie zu erlösen, die die Sklav*innen als revoltierende Subjekte sieht, nicht als Opfer des Mitleids.“ Traverso unterscheidet sie von jener öffentlich zelebrierten Trauer um die Opfer von Aufständen, Revolutionen und Genoziden. Die Melancholie, die daraus entstehe, sei „entpolitisiert, paralysiert, konformistisch; sie entfaltet sich durch eine öffentliche Liturgie der Gedenkfeiern, die, weit davon entfernt zur Revolte anzuregen, darauf zielen, sie zu ersticken.“ Doch auch zur Seite der Linken wäre eine „Selbstzensur, die einer verdrängten, überholten Melancholie“ auszumachen, „dann zu unserer Zeit der ‚postideologischen‘ Restauration stigmatisiert“. Der Autor betont, „die rebellische Melancholie“, die nicht zur Gänze abzuschatten sei, bleibe „zu entdecken und verlangt nach Anerkennung.“ (S. 287)

Kommunistische, sozialistische und anarchistische Bewegungen waren über etwa zwei Jahrhunderte von Kampferfahrungen und Niederlagen geprägt, die als solche mobilisierenden Charakter hatten, d.h. sie wurden als Vergangenes für eine weitere, aktive Gestaltung von Zukunft genutzt. Mit dem Ende des Realsozialismus vor ca. dreißig Jahren habe es einen Riss zwischen Vergangenheit als Bezugspunkt und Quelle für in Zukunft gerichtete Erwartungen gegeben, was auch ‚konkrete Utopien‘ habe absinken lassen. Sie seien in einem Zustand des „‚Präsentismus‘: eine ausgedehnte Gegenwart, die sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft absorbiert und in sich auflöst.“ (S. 17) In linker Melancholie, einer verborgenen Tradition der Linken, ist die Geschichte der Besiegten bewahrt (was der Autor anders als bei Horkheimer und Adorno prominent bei Benjamin zeigt, aber auch bei u.a. Blanqui, Rosa Luxemburg bis zu Bensaïd). Dieser melancholischen Sicht auf Geschichte, die es gegen die der Gegenwart eingeschriebene, musealisierende Vereinnahmung zu bewahren gilt, gegen theoretische Abgesänge und Rückzüge von Kritik auf Reformreklamationen, spürt der Autor nicht nur in kritischen und linken Theorien nach, sondern sehr breit auch in ästhetischen Dokumenten, in Filmen, in der bildenden Kunst, in der Literatur. An all dem zeigt er, dass und wie gesellschaftlicher Wirklichkeit im Verlauf der Geschichte von sozialen Auseinandersetzungen (auch „Klassenkämpfen“, so man sich auf diesen Terminus einigen kann) nicht nur Resignation oder gar passiver Rückzug entwachsen kann und muss. Linke Melancholie ist insofern das, was man als aktive, im günstigen Fall aktivierende ‚Trauerarbeit‘ bezeichnen darf – „Trauer und Aktivismus“ (Crimp, zit. S. 24); Inspirationsquelle ist sie für auf Marxens Analysen fußendes kritisches Denken. Dass Erfahrungen von Niederlagen und Verlust und erneuter Ermutigung und Hoffnung nahe beieinander stehen, dessen ist sich zu vergewissern, auf neuen Wegen zu neuen Ufern zu erinnern.

Inhalt

Das Buch ist nebst Einführung und Danksagungen in sieben Hauptkapitel gegliedert. Einige Kapitel bzw. Unterkapitel sind bereits in verschiedenen Zeitschriften in kürzerer Form publiziert. Zwei Kapitel wurden eigens für das Buch verfasst, alle anderen vollständig überarbeitet. Zudem findet man zahlreiche Bilddokumente.

„Im Match des Jahrhunderts zwischen Sozialismus und Barbarei, hat die Barbarei etwas Vorsprung gewonnen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir weniger Hoffnung, als unsere Ahnen zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten.“ Diesen Satz von Daniel Bensaïd aus dem Jahr 1991 setzt Traverso seiner Einführung als Motto voran und macht deutlich, dass der Kampf gegen Barbarei so recht keine sportive Veranstaltung ist und es eben auch um Hoffnung als Handlungsimpuls geht. Erinnern wir uns an ein „Ensemble an Theorie und Erfahrungen (…), an Ideen und Gefühle, an Leidenschaften und Utopien“ (S. 17), weil es tunlich ist für eine radikale Linke, nachdem der Kommunismus die Weltbühne als ein „Symbol der Entfremdung und Unterdrückung“ verlassen hat (S. 13), die insofern nach 1989 „ohne ‚geistigen Schutzraum‘ dastand“, und zwar halt nach Zusammenbruch realsozialistischer Systeme in einer „Welt ohne sichtbare, denkbare oder vorstellbare Zukunft. Sie konnten nicht, im Unterschied zu anderen Waisengenerationen, die ihnen vorausgingen, ‚eine Tradition erfinden‘.“ (S. 8) Das scheint umso schwieriger, als sich eine „Hoffnung in das menschliche Werden (…) in einer unendlichen Gegenwart“ zusammenzieht. (S. 18) Dagegen ist an linke Melancholie zu erinnern und daran festzuhalten, weil sie nicht die „Aufgabe der sozialistischen Idee oder der Hoffnung auf eine bessere Welt“ bedeutet; „sie impliziert jedoch, den Sozialismus neu zu denken in einer Epoche, in der seine Erinnerung verloren ist, verdeckt, still, und danach fragt, erlöst zu werden. Diese Melancholie darf sich nicht darauf beschränken, über eine verlorene Utopie zu weinen; sie muss sich daranmachen, sie neu zu konstruieren.“ (S. 23)

Im nächsten Kapitel Die Melancholie der Besiegten stellt er auch mit Bezug auf Blanqui die immerhin, wenn auch unter Schwierigkeiten befreundeten (vgl. Kap. 6) Denker Benjamin und Adorno gegenüber, wobei Adorno nicht mehr an eine Revolution geglaubt habe. Da reiht er auch Hobsbawm ein, der seine „gesamte teleologische Vision der Geschichte aufgegeben“ habe, da er nicht mehr an ihre „sozialistische Vollendung“ glaubte. (S. 34) Dagegen ist zu halten, dass nicht auszuschließen ist, dass die „Utopie“ des „Kommunismus“ sich nicht doch „in Zukunft realisiert“, da „(l)angfristig (…) die menschlichen Gesellschaften nicht ohne Utopie existieren“ können. (S. 36) Als Referenz zieht er auch Marx heran: „Die soziale Revolution des neunzehnten Jahrhunderts kann ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schöpfen, sondern nur aus der Zukunft.“ (zit. S. 38) Und mit Rückgriff auf die Geschichte der Commune und Thematisierung im künstlerischen Schaffen (wesentlich Courbet) pointiert er Niederlagen und zitiert Rosa Luxemburg (die sich in anderen Schriften auch pessimistischer gezeigt habe): „Wo wären wir heute ohne jene ‚Niederlagen‘, aus denen wir historische Erfahrung, Erkenntnis, Macht, Idealismus geschöpft haben!“ (zit. S. 45) Wiederum an Werken der bildenden Kunst und Literatur macht der Autor deutlich, dass „Trauer und Resignation (…) gleichwohl die wichtigsten Charakteristiken der Melancholie“ bleiben, auch „Ohnmacht“ (S. 49), wobei jedoch die Melancholie als ein Prozess gesehen werden könnte, welcher „multiple Möglichkeiten eröffnet“, ein Prozess, in dem laut Judith Butler „das Subjekt die Erfahrung eines für sein Überleben notwendigen Rückzugs mache.“ (S. 57) Welche Optik es zu favorisieren gilt, macht Traverso an den Antinomien Walter Benjamins deutlich, der die Melancholie nicht an sich abgelehnt habe, sondern nur ihre ästhetische Bearbeitung als „Stimmung“, die sie um ihr kritisches Potenzial entleere, und er dagegen eine andere Melancholie verteidigt, „verbunden mit der Kontemplation der Ruinen der Vergangenheit“, dem „Schmerz der Geschichte, die immer auf Erlösung wartet“ (S. 60 f.) – gerade nach großen Niederlagen, die (vormals) in der Linken „keinen Defätismus“ hervorriefen, vielmehr von der „Hoffnung überwunden“ wurden, „die in die revolutionäre Utopie eingeschrieben war.“ (S. 64) Doch mit Zusammenbruch des Kommunismus war dieser aus ‚Utopie‘ kommende „prometheische(.) Impuls“ abgesunken und somit die „spirituellen Ressourcen“ erschöpft. Diese Leere zu füllen, sei dann die „neoliberale Welle – individualistisch und zynisch -“, angetreten. (S. 66) Niederlagen bedrohen die Linke ständig und die Gefahr des Scheiterns kann nicht ausgeblendet werden. Auch wissenschaftlich (marxologisch) könne man nicht vorhersagen, wobei der Autor an Gramsci erinnert, der in seinen ‚Gefängnisheften‘ geschrieben habe, „dass die einzige ‚wissenschaftliche‘ Voraussage, die man machen könne, die Notwendigkeit zu kämpfen sei.“ (S. 68)

Wo der Marxismus seiner „utopischen Dimension“ beraubt war, war er auch kein „Mittel mehr zur Transmission der Klassenerinnerung, der emanzipatorischen Kämpfe und Revolutionen“ (S. 72 f.), resümiert der Autor in seinem Kapitel Marxismus und Erinnerung. Vergangen ist, dass „Erinnerung (…) auf die Zukunft (zielte)“, dass sie eine „Erinnerung für die Zukunft“ war, „die von kommenden Kämpfen kündete.“ (S. 74) Somit verebbte, dass man (das Proletariat), so Engels, „in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen muss“. (zit. S. 76) Wieder auf dem Hintergrund von Beispielen aus der bildenden Kunst skizziert der Autor zwei Positionen: für Bloch war der Marxismus ein „in einem anthropologischen Optimismus verankertes gesellschaftliches Projekt, geerbt von der Aufklärung“; Marcuse, auf den Begriff des Unbewussten zurückgreifend, habe vergleichbar die „dialektische Verbindung zwischen Erinnerung und der sozialistischen Utopie“ thematisiert. Aufzusatteln wäre auf der „repressive(n) Zivilisation“, die aus „Disziplin und Unterwerfung“ gemacht sei und daher den „Zweifel“ säe, „statt den Genuss zu ernten.“ (S. 85 f.) Wenn es insofern um den Weg von der „Wissenschaft zur Utopie“ (Marcuse) geht, bleibt doch realiter, dass revolutionäre Bewegungen sich am „‚Bild der geknechteten Vorfahren‘“ nähren, „‚nicht am Bild der befreiten Enkel‘“, (Benjamin, zit. S. 90), was der Autor an Zeugnissen vergangener Revolutionen ausweist und darauf verweist, der Marxismus bekomme dadurch eine „melancholische Färbung. Amputiert von seinem Prinzip Hoffnung – zumindest in der konkreten Form, die es im 20. Jahrhundert angenommen hat, als Utopie einer befreiten Gesellschaft sich im Kommunismus verkörperte – verinnerlicht er eine historische Niederlage. Wenn er eine strategische Dimension besitzt, besteht diese nicht darin, den Kapitalismus zu stürzen, sondern das Trauma des erlittenen Rückschlags zu überwinden. Seine Kunst besteht in der Organisation des Pessimismus: ein Scheitern zu ertragen, ohne vor dem Feind zu kapitulieren“. (S. 96 f.)

Um künstlerische Be- und Verarbeitung von Aufständen, Revolten, Revolutionen und eben auch ihr Scheitern hauptsächlich in Filmen geht es im Kapitel Melancholische Bilder. Das Kino der besiegten Revolutionen. Traverso hebt dabei hervor, dass zum Ausdruck kommendes „Begehren“ lebendig werden resp. erhalten bleiben kann, das „Mysterium des Genusses“, was nicht zu töten sei und nicht verziehen werde. (Carmen Castillo, zit. S. 134) Emotionen sind von Belang, die sich gegen die heute vorherrschende Tendenz stemmen, „die Erinnerungsorte in tote, neutrale, aseptische Gegenstände zu verwandeln.“ (ebd.) Gleichsam als Archive sind sie zu nutzen, das auf den Weg zu bringen, was laut Traverso überfällig ist: „Die Utopien des 21. Jahrhunderts sind noch zu erfinden.“ (S. 139)

Laut Geiger repräsentiert der Bohemien den „‚Zigeuner im Geiste‘“, einen „Landstreicher der Moderne, eine Figur der Instabilität, Verschiebung, Unordnung“. (S. 142) Unter dem Titel Die Boheme: Zwischen Melancholie und Revolution spürt der Autor der „antibürgerlichen Haltung“ der Boheme nach, die einen „typisch romantischen Aspekt“ offenbare. (S. 144) Denken und Lebenspraxis des Dandys, des Flaneurs und auch bspw. des anarchistischen Dichters Mühsam spart er nicht aus, verweist auf die antikapitalistischen Elemente in ihrem Antikonformismus, thematisiert aber auch, wie sie spontan von ‚Barrikadenkämpfen‘ angezogen und nach Scheitern der Revolution zum „Objekt der Verführung durch die reaktionären Kreise“ wurden. (S. 149) In Marxens Schriften sei beides zu finden, die Betonung ihrer nicht zu unter-, aber gewiss nicht zu überschätzenden Rolle im Zuge der Klassenauseinandersetzungen. Am Beispiel des Malers Courbet diskutiert der Autor (im Anschluss an den Historiker Clark), dass dessen „Zugehörigkeit zur Boheme kein Ausdruck sozialer Marginalisierung, sondern vielmehr eine bewusste Wahl des Selbstausschlusses aus der bürgerlichen Welt“ war. (S. 157) Anders als malende Zeitgenossen hätten Künstler wie er ein „Werk der Trauer“ und damit eine „melancholische Kultur“ geschaffen, „die das Gedenken an die Besiegten repräsentierte und weitergab.“ (S. 160) Ausführlicher wird danach Benjamin diskutiert, der im Kielwasser von Marx „die Möglichkeit einer reaktionären Tendenz in der Boheme“ unterstrichen habe, gleichwohl den Surrealismus im Hinblick auf die Notwendigkeit inspizierte, „Kunst und Kultur im Angesicht der Ästhetisierung der faschistischen Politik zu politisieren“ (S. 163), gleichwohl darin die auch dem Flaneur anhaftende Gefahr nicht zu übersehen, dass alles „sicher etwas mit der Ablehnung bürgerlicher Werte zu tun“ hat, „ohne allerdings ihre Ordnung oder ihre Grundlagen anzufechten.“ (S. 164) Auch Trotzki habe an der Boheme den Mangel klarer politischer Ausrichtung kritisiert und in den Bohemiens keine wahren Revolutionäre gesehen. Diesem Thema ‚Boheme und Revolution‘ geht Traverso (ebenso sensibel und ohne vorschnelle Urteile) weiter nach und summiert in dem „gelegentliche(n) Gefühl, von der realen Welt abgeschnitten zu leben – aber auch die ästhetische, psychologische und intellektuelle Freiheit, die der Mangel an Bindungen erlaubt. Eine solche Situation war nicht oft (…) das Ergebnis einer bewussten Entscheidung.“ (S. 175) Aber in revolutionären Situationen konnte die Boheme aus ihrer Marginalität heraustreten. Für den Aufbau einer neuen Ordnung waren sie wohl nicht zu gebrauchen (im postrevolutionären Russland). Sie finden sich als Teil befreiender Antriebe in der Revolution zusammen. Aber, so Traverso: „Die Boheme kann jedoch auch zu jenem melancholischen Ort hinter der Fassade der restaurierten Ordnung werden, an den sich die Besiegten zurückziehen und über ihre Niederlage meditieren.“ (S. 177)

Gespenst des Kolonialismus: Bei diesem – in seiner Fortsetzung mit anderen Mitteln anhaltenden – Thema kommt der Autor zu dem Schluss: „Die Geschichte besteht immer aus nicht stattgefundenen Treffen, verpassten Gelegenheiten, über denen der bittere Geschmack der Melancholie schwebt.“ (S. 205) Er spricht von den autoritären Regimes, den Militärdiktaturen, von korrupten Cliquen, die auf Unabhängigkeitskriege und Revolutionen gefolgt sind. Dabei erinnert er an Marx und seine Sicht und testiert ihm, er hätte eine Verbindung zwischen dem, was wir heute als humanitäre Katastrophe benennen und der „Akkumulation des Kapitals begriffen, aber er konnte sie nicht erklären außerhalb eines so dialektischen wie teleologischen Historismus.“ Kolonialismus illustriere die brutale Art kapitalistischen Fortschritts wesentlich durch Unterdrückung und „Blutzoll“, was „Mitgefühl“ hervorrufe, doch könnten die Kolonisierten „nicht beanspruchen, historische Subjekte zu werden.“ (S. 192 f.) Das will der Autor Marx nicht ankreiden, vielmehr versucht er seine Position zu erklären, um anzumerken, der Marxismus habe auf das 20. Jahrhundert warten müssen, um zu lernen, „die kolonisierten Bevölkerungen als politische Akteur*innen anzuerkennen und ihnen die dialektische Aufgabe anzuvertrauen, den Imperialismus zu ‚verneinen‘“, was „damals“ nicht Marxens Perspektive gewesen sei (S. 187), er aber „gegen Ende seines Lebens in problematischeren und komplexeren Begriffen über das Verhältnis Orient/Okzident dachte.“ (S. 195) Festzuhalten bleibt, dass Marx und der Marxismus „den theoretischen und intellektuellen Rahmen der Entkolonialisierung geliefert“ hat. Anhaltenden Diskussionen bescheinigt Traverso: „Der Mythos eines unbefleckten Marx, ohne eurozentristischen Fleck, ist genauso falsch und naiv wie die spekulative Vision eines kolonialistischen Marx.“ (S. 199) Der Autor regt an, zusätzlich zum ‚klassischen‘ und dem ‚westlichen‘ Marxismus den noch marginalen ‚Black Marxism‘ in die Diskussion aufzunehmen; aus dieser Sicht ist „die Rasse ebenso wichtig wie die Klasse und der Kolonialismus hätte eine genauso entscheidende Rolle gespielt wie die industrielle Revolution in der Geschichte des Kapitalismus.“ (S. 203) Aber die erste Generation der Kritischen Theorie und Vertreter des „schwarzen Marxismus“ wären nicht aufeinander getroffen; das aber hätte die Kultur der radikalen Linken über die „‚Dritte-Welt-Solidarität‘“ hinaus verändern können. (S. 204.)

Unter dem Titel „Eine Freundschaft im Exil. Der Briefwechsel zwischen Adorno und Benjamin“ wurde das Kapitel Adorno und Benjamin. Ein Briefwechsel, als es Mitternacht schlug im letzten Jahrhundert bereits auf Deutsch veröffentlicht und hier vom Autor nur geringfügig verändert. Adorno bezeichnete Benjamin stets als seinen Freund. Traverso fragt da eher nach dem „dialektische(n) Geheimnis einer derart ungleichen Beziehung, in der die intellektuelle Überlegenheit Benjamins untrennbar mit seiner materiellen Unterlegenheit einherging, mit all den Konsequenzen, die das unweigerlich beinhaltete“ (S. 215), die der Autor darlegt und auch die Rolle Horkheimers in der Koppelung wissenschaftlicher Kritik und Verwehrung einer Pfründe spielte. Adorno spricht der Autor Melancholie nicht ab, aber es war „die Melancholie eines kritischen Geistes gegenüber einer von Gewalt unheilbar verletzten Welt.“ (S. 208) Benjamin, was auch an seiner Beschäftigung mit Kunst und Literatur deutlich wird, besteht auf „Wiedererinnerung“, die einen „Auslöser, eine Zündschnur“ braucht. (S. 232) In Benjamins Denken hätten „Marxismus und jüdischer Messianismus“ koexistiert, „ohne sich jemals voneinander zu lösen“, ein Hintergrund, warum er im Unterschied zu Marx die Revolutionen nicht als „‚Lokomotive der Geschichte‘“, sondern als „‚Notbremse‘“ bezeichnet habe, „die den Weg des Zuges in die Katastrophe, eine sich ewig erneuernde Katastrophe, anhalten kann.“ (S. 238 f.) Trotz der theoretischen Differenzen zwischen Adorno und Benjamin,kommt Traverso in diesem Essay/Kapitel zu dem Schluss, die „Geschichte ihrer Beziehung“ sei „die Chronik einer wachsenden Abhängikeit des einen dem anderen gegenüber“ gewesen. (S. 217) Dieser eigenständige (bemerkenswerte) Essay fügt sich als Kapitel gleichwohl in die Argumentationsfigur Traversos ein und im Zuge seiner Bearbeitung wundert es nicht, dass er eine größere – theoretische – Nähe zu Benjamin als zu Adorno hat, als es Benjamin darum ging, „‚sich einer Erinnerung (zu) bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt.“ (zit. S. 267) Seine Geschichtskonzeption sei dabei gewesen, im „Inneren der Widersprüche der Gegenwart“ zu arbeiten, eine Bedingung, „um die Vergangenheit wiederzubeleben.“ Diese Reaktivierung, das Erinnern, habe eine „rettende Funktion“ und bedeute nicht, „zu modifizieren, was geschehen ist; das will heißen, ganz einfach die Gegenwart zu verändern. Die Transformation der Gegenwart impliziert die Möglichkeit einer ‚Erlösung‘ der Vergangenheit“ (S. 266), bemerkt er im Folgekapitel. Am Ende dieses Kapitels nimmt er Kritik an Adorno auf und sieht in dem „Ursprung seiner Differenzen mit Benjamin“ dasselbe, was ihn „in den Sechzigerjahren gegen die deutsche Studentenbewegung einnimmt. Herbert Marcuse, dem wir eine wesentlich radikalere Lesart der ‚Geschichtsphilosophischen Thesen‘ von Benjamin verdanken, zögerte nicht, Adorno seine konformistische und konservative Haltung vorzuwerfen.“ (S. 241)

Benjamins Schicksal, das erschütternde Schicksal vieler Emigranten, nimmt der Autor im abschließenden Kapitel Die Zeitenfolge auf und leitet zu den Schriften von Bensaïd und greift zunächst dessen Kritik auf: „‚Die Linke hat Probleme mit ihrer Erinnerung. Allgemeine Amnesie. (…) Keine Gründungsereignisse mehr. Keine Geburt mehr. Keine Orientierung mehr.‘“ (zit. S. 250) Für Bensaïd Anlass, den klassischen Marxismus zu überschreiten (über Kontakte mit u.a. Derrida, Badiou, Negri), was darauf zielte, „ihn zu retten, indem er in eine neue Realität eingeschrieben wurde und in Kontakt kam mit politischen Kulturen, die er immer gleichgültig oder feindlich betrachtet hatte“ (S. 251), womit er auch „Sicherheiten (und Vorurteile) einer Linken“ erschütterte, „die Gefangene ihrer jeweils nationalen Erfahrung war.“ (S. 253) Bensaïd dachte Geschichte ausgehend von Marx, Blanqui, Trotzki und Benjamin als „Domaine des Unsicheren und des Möglichen“ unter dem Gedanken: „Fortschritt und Regression marschieren gemeinsam, alle beide in den teuflischen Tanz des Warenuniversums verstrickt. Ihr Verhältnis lässt sich nicht durch eine lineare Konzeption von Zeit begreifen, denn ihr Rhythmus ist kairotisch, unstimmig, immer offen für die Unterbrechung durch das Ereignis.“ Nur so auch sei der Begriff der Klasse bei Marx zu verstehen, eben nicht soziologisch, sondern nur „als lebendige historische Subjekte. Die Klassen leben und definieren sich nur in ihrem Konfliktverhältnis mit anderen Klassen“. (S. 258) Unter Rückgriff auf Beispiele aus der (jüngeren) Revolutionsgeschichte hebt Traverso die Affinität zwischen Bensaïds und Benjamins Konzeption von Geschichte hervor: Dass der „‚Feind (…) zu siegen nicht aufgehört (hat)‘“ (Benjamin) ist nicht von der Hand zu weisen und Bensaïd ergänzt, dass „‚in der Waagschale der Möglichkeiten, die Barbarei nicht weniger Chancen hat als der Sozialismus‘“. So gesehen sei laut Traverso die „Transformation der Welt (…) eine melancholische Wette, weder gewagt noch verrückt, voller Erinnerungen, auf jeden Fall voluntaristisch, aber vernünftig (…). Ernst Bloch hätte sie mit einem Begriff definiert, der Bensaïd nicht gefiel: ‚eine konkrete (und mögliche) Utopie‘.“ (S. 282 f.)

In seinem knappen Schlusswort wiederholt Traverso seine Kritik an Adorno, bescheinigt ihm, sein Marxismus sei „tief melancholisch“ gewesen, aber „resigniert. Sie war vor allem kontemplativ und ihre Funktion nur tröstlich: in seinen Augen existierte keine Alternative zur Herrschaft.“ Demgegenüber sei Melancholie „untrennbar mit Kämpfen und Hoffnungen, Utopien und Revolutionen“ verbunden und „Teil der ‚Struktur der Gefühle‘ der Linken“, kritisches Denken inspirierend und gleichermaßen „strategische Reflexion“. Zu gewärtigen sei, dass „Affekte (…) das Denken und die Aktion“ begleiten: „Im Grunde ist die Melancholie ein Affekt der revolutionären Aktion.“ (S. 285 f.)

Diskussion

„Zahlreiche Veröffentlichungen zur linken und jüdischen Geschichte und zur Kritischen Theorie“, so wird Enzo Traverso vorgestellt; zwar muss Quantität nicht imponieren, aber sein Buch dokumentiert nicht nur eine ganz offenkundig höchst intensive Beschäftigung mit den genannten Gegenständen, sondern auch seine Beschäftigung mit der Rolle und Wirkung von Bohemiens, Flaneurs, Dandys, seine (materialistischen) Interpretationen von Filmen, Literatur, von Werken der bildenden Kunst lassen eine bewundernswerte Souveränität erkennen, wobei er immer zu seinem Thema „Linke Melancholie“ Verbindungen herstellt. Nur bei seiner Aufnahme und Kritik von Adorno mag man bisweilen stutzten: Er sei „stoisch resigniert gegenüber der unausweichlichen Thronbesteigung des Totalitarismus“ gewesen (S. 32), völlig dagegen verschlossen, „seiner Kritischen Theorie eine politische Übersetzung zu verleihen“, und mit Marcuse (was in dieser Vereinfachung von Marcuses Einreden problematisch ist) wäre ihm eine „konformistische und konservative Haltung“ vorzuwerfen. (S. 241) Solche wohlfeile Kritik wird dadurch nicht richtiger, dass sie altbekannt ist und sich trotz belegbarer Gegenargumente zäh erhält. Sie sind auch nicht nötig, wenn man – wie der Autor für sein Thema sinnreich – einen Dissens zwischen Benjamin und Adorno aufmacht. Beide bezeichneten sich gegenseitig als ‚Freund‘ (Benjamin sogar noch in seinen letzten wenigen Zeilen vor seiner Selbstentleibung, die Henny Gurland an Adorno übermitteln sollte, aber auf Grund der Situation vernichten musste, sich jedoch merkte). Traversos Deutung dieser Freundschaft zwischen ‚Ungleichen‘ hat cum grano salis Plausibilität, doch mag eine Differenz anders gelagert gewesen sein: Gershom Scholem kolportiert in seiner „Geschichte einer Freundschaft“ mit Benjamin, dass Adorno „selbst (…) eigentlich ein theologisches Interesse“ fernlag und im Kreis von Marxisten es einzig Fritz Lieb war (Theologe und Marxist), „für den die theologische Dimension des späten Benjamin unmittelbar verständlich und ohne Verlegenheit bedeutsam war.“ Die „Kommentierung“ der „Texte des jüdischen Schrifttums“, erinnert sich Scholem, hätten für ihn „eine Art utopischen Fluchtpunkt“ dargestellt. Insofern dürfte einerseits wegen des ‚Utopischen‘ Traverso eine größere theoretische Nähe zu Benjamin als zu Adorno haben, anderseits scheint hier ein eben theoretisches und nicht in den sehr unterschiedlichen Lebenslagen begründetes Ungleichgewicht dieser Freundschaft auf.

Überhaupt möchte man Traverso eine intensivere Lektüre der Briefwechsel nahelegen. Die Denker lebten in einer außerordentlich schwierigen Zeit, auch was das materielle Überleben betraf (Horkheimer sollte später bedauern, dass er sich, vor die Wahl gestellt, gegen Adornos Bitte gesperrt hatte, Benjamin die finanzielle Möglichkeit zur Ausreise nach Amerika zukommen zu lassen). Auch später waren die Fronten etwa zwischen Adorno und Marcuse weder so angespannt noch verhärtet, wie es bei Traverso den Anschein erweckt. So antwortete Adorno in einem Brief an Marcuse, der am Todestag Adornos auf die Post gegeben wurde, wo er sich auch auf die „Hetze“ gegen Marcuse bezieht: „Mir hat man ja in der genauso aus der Luft gegriffenen Angelegenheit der Benjamin-Ausgabe genauso mitgespielt, ebenfalls von rechts (Hannah Arendt!) und von den Apo-Aktivisten her. (…) Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der letzte zu unterschätzen: sie hat den glatten Übergang zur total verwalteten Welt unterbrochen. Aber es ist ihr ein Quentchen Wahn beigemengt, dem das Totalitäre technologisch innewohnt, gar nicht erst – obwohl dies auch – als Reperkussion.“ – Es irritiert, dass Traverso bei seiner ansonsten ganz offenkundig gründlichen Lektüre seine Adorno-Kritik nicht zumindest moderater gehalten hat, zumal ihm auch nicht entgangen sein dürfte, dass Adorno an zahlreichen Stellen seiner Schriften an ‚Hoffnung‘ auf eine ‚freie Gesellschaft‘ festgehalten hat, ohne allerdings ein Muster des Weges in sie ‚vorwegzunehmen‘.

Im Hinblick insbesondere auf das Theorie-Praxis-Problem hatte Adorno gute Gründe gegen konkretisierende Praxisanweisungen und seine ständigen Hinweise einer Bezugnahme „aufs Ganze“ in jedweder Kritik einzelner Phänomene ist – zumal heute – wichtige Mahnung für oppositionelle Soziale Bewegungen. (Marx würde da nicht widersprechen.) Vorstellbar ist, dass Traverso eine Nähe zu Horkheimer, Mitautor der „Dialektik der Aufklärung“, gefunden hätte, der in seinem Essay „Der neueste Angriff auf die Metaphysik“ kritisch aufnimmt, die „Aufgabe des Gelehrten“ sei „es doch festzustellen und nicht Prophetie zu treiben“, um fortzufahren: „Die aktiven Gruppen und Individuen jedoch, die jenen Umschwung herbeiführten, standen anders zur Theorie, sie haben sich nicht in ununterbrochener Reihenfolge von Gelehrten in Praktiker und von Praktikern in wieder in Gelehrte zurückverwandelt. (…) Weil sie eine bessere Wirklichkeit im Sinn hatten, haben sie die gegebenen zu durchschauen vermocht. In der Art ihres Wahrnehmens steckte ihr spezifisches Tun, wie in der geprellten Wissenschaft die Praxis der schlechten Gesellschaft. Sie blieben auch in der ‚Sinnlichkeit‘ bewußt und aktiv.“

Traverso argumentiert gegen das geläufige ‚wider das Vergessen‘, wie es in der ‚Kultur der Sieger‘ gerade für ein Vergessen im Sinne eines Bestandserhalts gesellschaftlicher Ordnung pervertiert wird – wie er zeigt. Insofern ist jene „Hoffnung auf eine bessere Welt“ nicht als „verlorene Utopie“ zu beweinen und „neu zu konstruieren“ (S. 23), und die Horkheimersche „bessere Wirklichkeit“ ist nicht aus Reminiszenz an Kämpfe und Revolutionen und auch Niederlagen zu haben, die aber im Sinne einer „linken Melancholie“ doch zur Fortführung scheint‘s utopischen Denkens im Sinne einer „Wiedererinnerung“ als „Auslöser“ und „Zündschnur“ braucht (s.o.). Die gegebene Wirklichkeit „zu durchschauen“ (Horkheimer, s.o.) zu vermögen kann theoretisch in Gang gesetzt werden; trotz des Drucks aus naturalisierten Systemzwängen, noch unter der Eingemeindung durch Ideologie und auskleidenden Narrativen, sind alltägliche Widerspruchserfahrungen gleichsam Nährboden für ‚konkrete‘, insofern „neu zu konstruierende“ (s.o.) Utopien, die aber nicht und auch nicht erst von einer ‚radikalen Linken‘ (im Verständnis Traversos) für das 21. Jahrhundert „noch neu zu erfinden“ (S. 139) sind, sondern sich aus einer Kritik des ‚realen‘ Kapitalismus mit seinen weltweiten Folgen und da über Widerspruchserfahrungen ergeben, in die, so sie als Initialzündungen zu nehmen sind und sich ‚praktisch‘ wenden, der Bezug „aufs Ganze“ in dem Sinne zu implementieren ist, als er aus ihnen zu entwickeln ist. Dann geht es darum, im Sinne Benjamins tatsächliche „Grundlagen anzufechten“. (S. 164) Dass man nicht „dulden will“, so Adorno in „Negative Dialektik“, „dass das Grauen weitergehe“, dieser Widerspruch allein sei „angesichts der realen Ohnmacht aller Einzelnen, der Schauplatz von Moral heute“; und als „Impuls“ macht er „die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den (…) quälbaren Körpern“ aus, ein Impuls, „der dem moralischen Verhalten immanent ist.“ (Und dies eben noch unter dem „Widerspruch“, worauf Traverso eher peripher eingeht, dass jenes „Grauen“ nach und in subjektiver Be- und Verarbeitung nicht weitergehen soll, aber zugleich erkannt wird, dass es beständig weitergeht, man ‚ausgeliefert‘ ist.)

Ob es sich durchhält, dass der „Marxismus“, „(a)mputiert von seinem Prinzip Hoffnung“, der „Utopie“ einer „befreiten Gesellschaft“, die sich „im Kommunismus verkörperte“ (S. 96), lebendig bleibt, hängt von der Praxis der „aktiven Gruppen und Individuen“ ab, der „Art ihres Wahrnehmens“ (wie sie aus „linker Melancholie“ als Erinnerung an ‚unterdrückte Zukunft‘ gespeist werden kann), ihrem „spezifische(n) Tun“, von Menschen, die auch „in der ‚Sinnlichkeit‘ bewußt und aktiv“ sind. (Horkheimer, s.o.). – Die Lanze, die Traverso da für die Boheme bricht, sie könne „zu jenem melancholischen Ort hinter der Fassade der restaurierten Ordnung werden, an den sich die Besiegten zurückziehen und über ihre Niederlage meditieren“ (S. 177), kann dann, wenn es bei Meditation bleibt, in „ihrer Funktion nur tröstlich“ sein (wie es Traverso der Adorno als „kontemplativ“ vorhält) und „strategische Reflexion“ in Bezug auf Praxis stillstellen. (S. 285) Praxis ist ohne Affekte kaum zu haben: Wenn die „Dialektik des revolutionären Prozesses ‚das Volk in Tränen‘ in ein ‚Volk in Waffen‘“ (S. 285) transformieren soll (wie Traverso die Analyse Didi-Hubermanns von Eisensteins Film „Panzerkreuzer Potemkin“ heranzieht), dann ist Solidarität (weit jenseits „ihres Eigennutzes, ihres Sondervorteils, ihrer Privatinteressen“ [Marx]), ist Empathie, sind „Leidenschaft“ und „Passion“ (Marx, s.u.) präsupponiert – was in ‚Nahwelten‘ eher gelingen mag.

Wie es unsinnig ist, Kants ‚kategorischen Imperativ‘ und die Aufforderung, die ‚Menschheit in sich‘ zu reflektieren, mit einem Verweis auf dessen in der Tat zu findenden rassistischen Bemerkungen abzutun, so unsinnig ist es, Marx eines ‚Eurozentrismus‘ zu zeihen und einer davon affizierten Bestimmung des revolutionären Subjekts. Es braucht Vernunft, wenngleich Marx spöttelte, sie habe schon immer existiert, „nur nicht immer in der vernünftigen Form“. Um diese vernünftige Form herzustellen, dazu braucht es Kritik: Was widerfährt, ist eben wesentlich ‚Leiden‘, so Marx, das es aufzuheben gilt: „Sinnlich sein ist leidend sein. Der Mensch als ein gegenständliches sinnliches Wesen ist daher ein leidendes und, weil sein Leiden empfindendes Wesen, ein leidenschaftliches Wesen. Die Leidenschaft, die Passion ist die nach seinem Gegenstand energisch strebende Wesenskraft des Menschen“ (so Marx 1844 in den ‚Ökonomisch-philosophischen Manuskripten‘). Sicher ist Traverso in seiner Aufnahme und Abwägung der Eurozentrismus-Kritik (deren Folgen sich für anhaltende Marx-Rezeption als fatal erwiesen haben) und seiner anschließenden, konstruktiven Problematisierung des Klassenbegriffs zu folgen – wobei in diesem Argumentationszusammenhang doch fraglich bleibt, ob eine Ersetzung des Begriffs Klasse durch den der Rasse sinnreicher ein ‚Subjekt der Geschichte‘ perspektivieren lässt oder eine ‚Entfärbung von Klassengeschwistern‘ für Analyse und Optionen praktischen Handelns zielführender wäre. Aber im sogenannten Neoimperialismus und jener historisch nicht neuen, nun aber unübersehbar deutlich ihre Spuren auch sich ausbreitenden Leidens hinterlassenden Globalisierung (was Marx und Engels bereits im ‚Manifest‘ und dem Aufruf zur internationalen Vereinigung der Arbeiterklasse vorhergesehen hatten) ist Solidarität in umfassenden Sinne mit ‚Fernwelten‘ erheischt, was auch bedeutet zu erkennen, zum einen wie die „Melancholie“ anderer, ehedem Kolonisierter ausschaut und zum anderen, dass (z.B. aber ganz wesentlich) eine reformistisch einzufädelnde ‚Verteilungsgerechtigkeit‘ einem bürgerlichen Begriff von Gerechtigkeit aufsitzt und gewiss unter kapitalistischen Vorzeichen keine Schleuse in eine ‚freie (Welt-)Gesellschaft‘ ist. – Darüber nachzudenken und zu diskutieren, dazu regt das Buch von Traverso an. Was er als Perspektive aus „linker Melancholie“ inhaltsreich vor Augen führt, hat Benjamin in einem Brief an Scholem annähernd in eine Metapher gekleidet: „Ein Schiffbrüchiger, der auf einem Wrack treibt, indem er auf die Spitze des Mastbaums klettert, der schon zermürbt ist. Aber er hat die Chance, von dort zu seiner Rettung ein Signal zu geben.“

Fazit

„Linke Melancholie“ reklamiert eine linke Erinnerungskultur, wo sie weitgehend verloren scheint, um die „Stärke“ aus einer „verborgenen Tradition“ zu revitalisieren. Insofern geht es um Erinnerung an eine oder die Zukunft, wofür Enzo Traverso eindrucksvoll argumentiert. Das Buch gehört in jeden linken auch radikaldemokratischen Diskussionszusammenhang, um die Inhalte aufzunehmen, abzuwägen, zu kritisieren, fruchtbar zu machen – auch um zu aktivieren, und zwar gegen bleiern erscheinende Verhältnisse, gegen den auflastenden Druck aus nicht nur historischen, sondern weltweit aktuellen ‚Niederlagen‘, um daraus, so Traverso nicht nur im Subtext und nicht nur kreisend um Hoffnung und Utopie, zu lernen, strategisch und taktisch, auf „dass der Bann der Gesellschaft einmal doch sich löse.“ (Adorno)

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 21.05.2019 zu: Enzo Traverso: Linke Melancholie. Über die Stärke einer verborgenen Tradition. Unrast Verlag (Münster) 2019. ISBN 978-3-89771-265-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25546.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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