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Georg Theunissen, Mieke Sagrauske: Pädagogik bei Autismus

Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 02.01.2020

Cover Georg Theunissen, Mieke Sagrauske: Pädagogik bei Autismus ISBN 978-3-17-036318-2

Georg Theunissen, Mieke Sagrauske: Pädagogik bei Autismus. Eine Einführung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. 267 Seiten. ISBN 978-3-17-036318-2. 29,00 EUR.

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Thema

Es gibt verschiedene Perspektiven der Betrachtung bei Autismus. Dieses Buch beleuchtet Autismus aus der Perspektive der Stärken, blendet aber nicht die Herausforderungen des autistischen Verhaltens gegenüber der Bezugswelt aus. Den Auftakt bildet die Geschichte des Autismus, daran schließen sich „die Konturen des aktuellen Autismusverständnisses“ (Klappentext) an. Im Zentrum steht eine verstehende Problemsicht, sie ist Ausgangspunkt der pädagogischen Praxis. Vorgestellt werden Leitprinzipien zeitgemäßer Heil- und Sonderpädagogik sowie der Behindertenarbeit, daran anschließend werden zentrale Felder pädagogischen Handelns behandelt. Das Buch spannt einen Bogen, der mit den frühen Hilfen und dem Vorschulbereich beginnt, die Schule und den Unterricht bis hin zur Erwachsenenbildung sowie die berufliche Bildung in den Blick nimmt und in der Arbeit und dem Wohnen mündet.

Autorin und Autor

Dr. Georg Theunissen ist Dipl.-Pädagoge und Heilpädagoge. Er war Universitätsprofessor für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Mieke Sagrauske studiert dort Förderpädagogik und ist Mitarbeiterin am Institut für Rehabilitationspädagogik.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist im DIN A5-Softcover-Format erschienen und hat einen Umfang von 267 Seiten. Es ist in zwei große Teile und neun Kapitel und zahlreiche Unterkapitel gegliedert. Der Fließtext ist durch Überschriften gegliedert. Das Buch enthält mehrere Fallvignetten, manche sind in Textboxen hervorgehoben. Jedes Kapitel endet mit einer Schlussbemerkung. Am rechten oberen Seitenrand findet man zur besseren Orientierung den Titel des Kapitels, links den Titel des entsprechenden Teils. Ein Stichwortverzeichnis am Ende des Buches erlaubt die Suche nach einzelnen Schlagworten:

  1. Geschichte
  2. Autismus
  3. Leitprinzipien für die Pädagogische Praxis
  4. Frühe Hilfen und vorschulische Erziehung und Bildung
  5. Schule und Unterricht
  6. Berufliche Bildung und Arbeit
  7. Unterstützes Wohnen
  8. Umgang mit Stress, herausforderndem Verhalten und psychischen Begleitstörungen
  9. Beratung und Psychoedukation im Kontext von Autismus

Literaturverzeichnis und Stichwortverzeichnis

Der erste Teil (Kapitel 1–3) befasst sich mit der „Geschichte, Basiswissen Autismus und Leitprinzipien für die Pädagogik“ und Teil II (Kapitel 4–9) beleuchtet „Pädagogische Praxisfelder, Konzepte und Methoden“. Die Geschichte beschreibt erste Anhaltspunkte für Autismus sowie erste wissenschaftliche Betrachtungen in Bezug auf Autismus. Vorgestellt werden die ersten Elternbewegungen. Es werden verschiedene Ansätze wie die intensive Verhaltenstherapie nach Ivar Lovaas, die Entstehung und Verbreitung des TEACCH-Konzepts sowie Impulse aus Großbritannien und Ausführungen über das Wirken und Einfluss von dem Österreicher Hans Asperger beleuchtet. Nicht unerwähnt bleiben Erläuterungen zur Verbreitung von zwei umstrittenen Methoden: die intensive Verhaltenstherapie inkl. der Festhaltetherapie und die Gestützte Kommunikation (FC). Nach anfänglicher Begeisterung für diese Methoden konnten Forschungsstudien die Unzuverlässigkeit der Methoden beweisen. In Bezug auf FC konnte nachgewiesen werden, dass eine Manipulation der gestützten Person durch den Stützenden nicht auszuschließen ist.

Eine besondere Bedeutung bei der Betrachtung der Geschichte des Autismus liegt bei Selbstvertretungsgruppen, die Autismus nicht als eine Störung ansehen. Diese Gruppierungen zählen zur Neurodiversitätsbewegung. Die Neurodiversitätsbewegung ist eine globale soziale Bewegung. Sie setzt sich für die Menschenrechte von Neuro-Minderheiten im Sinne der Neurodiversität ein. Diese Bewegung begann in den 1990er-Jahren als Antwort auf defizitorientierte pathologische Betrachtungsweisen in den USA und in Europa. In Deutschland hat sich 2004 der Verein Aspies e.V. formiert, der ein Umdenken in der Gesellschaft in Bezug auf Autismus erreichen will. Zudem gibt es regional organisierte Selbsthilfegruppen, hier sind z.B. die autWorker e.G. aus Hamburg zu nennen.

2005 gründeten die Großeltern Suzanne und Bob Wright in den USA Autism Speaks, die sich als wichtigstes Sprachrohr von Menschen mit Autismus in Szene setzten. Autism Speaks ist nicht unumstritten, denn der Organisation geht es um Heilung und Genesung von Autismus. Das Netzwerk Autistic Self Advocacy Network (ASAN) gründete sich 2006 und ist mittlerweile ein international anerkanntes Netzwerk. Im Sinne des Slogans der Behindertenrechtsbewegung „Nichts-über-uns-ohne-uns“ setzt sich ASAN gegen Antidiskriminierung ein, für die „Akzeptanz eines „Leben mit Autismus“, Verbesserungen der Lebensbedingungen, für Peer Consulting (Betroffene beraten Betroffene), Partizipation am öffentlichen Leben und Inklusion im Sinne sozialer und gesellschaftlicher Zugehörigkeit“ (S. 31). Der Gründer von ASAN wurde Ende 2009 unter Barack Obama in das National Council of disability berufen und auch die amerikanische Psychiatriegesellschaft (APA) berief zwei Mitglieder von ASAN in die Überarbeitung des DSM IV in die Autismus-Arbeitsgruppe.

Kapitel zwei „Autismus“ beginnt mit der Klassifikation von Autismus aus klinischer Sicht und erläutert dann das Konzept „Autismus-Spektrum“, welches 2012 erstmalig von ASAN beschrieben wurde und dann durch Georg Theunissen zu einem Autismus-Konzept weiterentwickelt wurde. ASAN beschrieb sieben typische Merkmale, die durch ein achtes ergänzt wurden (S. 39–65). Dabei geht es nicht um Defizite, sondern Stärken, besondere Begabungen und Fähigkeiten. Diese Merkmale treten in unterschiedlicher Ausprägung auf, sie können sich gegenseitig bedingen und überlappen. Theunissen ist der Ansicht, dass jedes autistische Verhalten im Zusammenhang mit einer Situation funktional betrachtet werden sollte, das führt zu einer verstehenden Sicht. Dieser Ansatz ermöglicht eine Abkehr von einer einseitigen Symptombeschreibung hin zu Kontexten, in denen autistisches Verhalten einen Sinn erfährt.

„Leitprinzipien für die pädagogische Praxis“ stehen im dritten Kapitel des ersten Teils im Mittelpunkt. Den Auftakt bildet die Geschichte von Kayla Takeuchi, die 1991 geboren wurde und aufgrund ihres Verhaltens und ihrer Sprachlosigkeit die Zuschreibung „geistig behindert“ erhielt. Ein Trugschluss! Mittlerweile hat Kayla ihren Schulabschluss gemacht und studiert Mathematik und Naturwissenschaften. Sie selber bezeichnet ihren Zustand als „zurückgezogen“. Sie versteht sich selber als Anwältin für „zurückgezogene Leute“. Sie will als „selbstermächtigte Person“ anderen Mut machen. Die Geschichte von Kayla dient als Modell der Annahme und Wertschätzung von Menschen im Autismus-Spektrum. Sie zeigt, wie Selbstbemächtigung (Empowerment) und eine Stärken-Perspektive wirksam werden. Hier schließen sich Erläuterungen für Konsequenzen für die Praxis an und diese werden mit einem Ausblick auf die fünf Dimensionen von Inklusion (S. 85 ff.) kritisch reflektiert, diese Dimensionen wurden gemeinsam mit weiteren Selbstvertretungsorganisationen wie z.B. People First formuliert.

Der zweite Teil (Kapitel 4–9) beinhaltet „Pädagogische Praxisfelder, Konzepte und Methoden“. Den Anfang bilden die Frühen Hilfen und die vorschulische Erziehung und Bildung (Kap.4), einleitend wird der Junge Jeff aus Kalifornien vorgestellt und es wird beschrieben, welche Unterstützung Jeff und seine Familie bekommen.

An der Frage „behandeln oder unterstützen“ scheiden sich die Geister. Die Präventions- und Behandlungsperspektive geht davon aus, dass man eine Störung heilen kann, die Unterstützerperspektive sieht Autismus nicht als behandlungsbedürftige hirnorganische Störung an, sondern als Ausdruck menschlichen Seins oder anders ausgedrückt als neurobiologische Variante. Die Unterstützerperspektive legt Wert auf ein buttom-up-Modell (statt dem top-down-Modell). Bei einem top-down- Modell erstellen (klinische) Professionelle von oben herab (top-down) einen Behandlungsplan für das „behandlungsbedürftige“ Kind.

Anders verlaufen die Planungen aus der Unterstützerperspektive, sie ist buttom-up, also kind-, familienzentriert und niedrigschwellig. Sie vermittelt dem Kind, dass es respektiert wird und kompetent handeln kann. Daran schließt sich die Vorstellung der Methode „Unterstützerkreis“ an, die auch dem BTHG entspricht, weil alle relevanten Personen, die eine wichtige Rolle im Leben spielen (neben Familienangehörigen auch Fachmenschen) einbezogen werden. Ausführungen zur Inklusion im vorschulischen Bereich sowie einer Schlussbemerkung zur Bevorzugung der Unterstützerperspektive beenden das Kapitel.

Im fünften Kapitel stehen Erläuterungen zur „Schule und Unterricht“ im Mittelpunkt. Auch in diesem Kapitel wird darauf verwiesen, dass es hilfreich ist, die Behandlungsperspektive zu verlassen und eine Unterstützerperspektive einzunehmen. Es gilt, Vertrauen zu entwickeln z.B. in die Lernfähigkeit des autistischen Kindes. Die Stärken-Perspektive nimmt Stärken und Ressourcen in den Blick. Interessen des Kindes werden aufgenommen, um darüber Dinge zu lernen, z.B. wie es gelang, einen autistischen Schüler das Lesen beizubringen, indem Anleitungen von technischen Geräten gelesen wurden. Menschen aus dem autistischen Spektrum sind visuelle Lerner, Bilder-Denker und Muster-Lerner, wird der Lernstoff und Lernprozess entsprechend angepasst, gelingt das Lernen. Auf den folgenden 20 Seiten führen die Autor*innen zentrale Elemente der Planung und Gestaltung eines inklusiven Unterrichts aus wie z.B. präventive vorausgehende Unterstützungsangebote, Strategien zur Anbahnung und Erhöhung selbstständigeren Handelns oder die Kontextgestaltung.

Die Berufliche Bildung und Arbeit sind Gegenstand des sechsten Kapitels. Einleitend beginnen Sagrauske und Theunissen mit Bemerkungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Beschrieben werden sog. Übergangsschulen und Systeme der beruflichen Bildung und Rehabilitation. Daran knüpfen sich Ausführungen zur sog. „Unterstützte Beschäftigung“ an. In diesem Feld finden sich Integrationsfirmen und Integrationsprojekte sowie Soziale Unternehmen. Das Kapitel endet mit der sog. „Unterstützten Hochschulausbildung“, die in den USA schon verbreitet, hier in Deutschland nur punktuell zu finden ist.

Seit 2006 mit der Behindertenrechtskonvention gilt der Grundsatz, dass auch erwachsene Menschen mit Beeinträchtigungen das Recht darauf haben, wo, in welcher Form und mit wem sie wohnen wollen. Darauf geht das Kapitel sieben „Unterstützes Wohnen“ näher ein. Voraussetzung ist eine Personenzentrierte Planung. In dieser kommen verschiedene Perspektiven zusammen, ein Unterkapitel widmet sich dem Wohnen aus der Betroffenen-Sicht. Es wird reflektiert, welche pädagogischen Unterstützungsmöglichkeiten sinnvoll sind. Benannt werden acht Formen der Assistenz im Alltag, die personen- und situativbezogen zum Tragen kommen. An dieser Stelle wird auch knapp das Modell der „Aktiven Unterstützung“ angerissen. Es hat zum Ziel, die Lebensqualität und die soziale und gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen zu verbessern.

Sehr bedeutsam in der Pädagogik bei Autisten ist das Wissen um das Thema Stress (Kapitel acht). Es bedarf eines guten Umgangs mit Stress, herausforderndem Verhalten und psychischen Begleitstörungen. Verschiedene pädagogische Handlungsmöglichkeiten werden vorgestellt: a) bei Vulnerabilität und Stress, b) bei herausforderndem Verhalten und c) bei psychischen Begleitstörungen.

Das Buch schließt mit dem neunten Kapitel „Beratung und Psychoedukation im Kontext von Autismus“. Darin werden Grundzüge einer modernen Beratung und Psychoedukation im Allgemeinen betrachtet: a) in Bezug auf autistische Personen und b) in Bezug auf das Angebot für Eltern und Familien mit einem autistischen Kind. Neben der Erklärung, was konkret gemeint ist, wird ausgeführt, welche Besonderheiten jeweils zu beachten sind.

Als wirksam haben sich die klientenzentrierte Beratung und die systemische Beratung erwiesen, beide Ansätze wirken in das Peer-Counseling (Betroffene beraten Betroffene) hinein. Letzteres hat durch das BTHG eine Aufwertung und politische Wertschätzung erfahren.

Diskussion

Der Einfluss von Selbstvertretungsorganisationen ist bedeutsam. Theunissens Autismus-Konzept fußt auf den sieben typischen Merkmalen, die erstmalig von ASAN benannt wurden. Eine Möglichkeit, Autismus zu betrachten sind medizinisch geprägte klinische Klassifikationssysteme, eine andere Möglichkeit ist das Konzept von ASAN. Letzteres verwende ich vornehmlich in Fortbildungen, auch um zu unterstreichen, dass Menschen aus dem autistischen Spektrum Stärken, besondere Begabungen und Fähigkeiten besitzen. Genannt werden sieben typische Merkmale:

  1. Unterschiedliche sensorische Erfahrungen,
  2. unübliches Lernverhalten und Problemlösungsverhalten,
  3. fokussiertes Denken und Spezialinteressen,
  4. atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster,
  5. Bedürfnis für Beständigkeit, Routine und Ordnung,
  6. Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird,
  7. Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren.

Diese Merkmale treten in unterschiedlicher Ausprägung auf, sie können sich gegenseitig bedingen und überlappen. Wichtig ist das Wissen, dass jedes (autistische) Verhalten in Zusammenhang mit einer Situation steht, d.h. es ist funktional einzuordnen. Diese Betrachtungsweise mündet in einer verstehenden Sicht und ermöglicht eine Abkehr von einer einseitigen Symptombeschreibung hin zu Kontexten, in denen autistisches Verhalten einen Sinn erfährt.

Unterstreichen möchte ich, wie bedeutsam in der Pädagogik bei Menschen, die unter den Bedingungen von Autismus leben, ist das Wissen um das Thema Stress ist (Kapitel acht). Es bedarf eines guten Umgangs mit Stress, herausforderndem Verhalten und psychischen Begleitstörungen. Vorgestellt und besprochen werden verschiedene pädagogische Handlungsmöglichkeiten a) bei Vulnerabilität und Stress, b) bei herausforderndem Verhalten und c) bei psychischen Begleitstörungen, die bei Menschen mit Autismus nicht selten sind Eine Auflistung prozentualer Schätzungen zum Vorkommen von Komorbiditäten finden sich auf Seite 220.

Das Erkennen, dass negativer Stress (Distress) eine große Rolle spielt verändert die Arbeit in diesem Feld. Jeder Mensch kennt negativen Stress und seine Folgen. Das Erleben von negativem Stress und dessen Verarbeitung steht in Zusammenhang mit der Vulnerabilität. Menschen mit Autismus gelten als besonders verwundbar (vulnerabel) und sind hochgradig Stress empfindlich. Die Autoren nennen als Gründe, das Zusammenwirken von biologisch-genetischen und sozialen, umweltbedingten Faktoren (S. 196), die durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse/​Theorien belegt sind. Besonders kritisch und vulnerabilitätsfördernd sind Traumata, leider gibt es dazu wenige Studien, d.h. die Befundlage hierzu ist noch sehr dürftig.

Befragungen haben bemerkenswerte Faktoren des Stresserleben ergeben, fünf werden genannt: 1.Ritualbezogene Stressoren, 2.Wechsel von Situationen, unvorhergesehene und unklare Situationen, 3.Soziale Situationen und Umgebungsfaktoren, 4.Unerfreuliche Ereignisse und 5. Ereignisse, die üblicherweise als positiv gelten (S. 198–199). Dazu kommen noch personenbezogene Stressoren wie z.B. Mobbing, Probleme mit den Eltern, Einsamkeit etc. Beachtenswert ist auch die Tatsache, dass Stresssituationen Reaktionen im Körper hervorrufen, es wird Adrenalin und Noradrenalin ausgeschüttet, was zu einer erhöhten motorischen Aktivität führen kann. Ein erhöhter Cortisol-Spiegel kann eine depressive Symptombildung zur Folge haben.

Untersuchungen haben gezeigt, dass der Cortisol-Spiegel bei Erwachsenen mit schweren kognitiven Beeinträchtigungen und Autismus signifikant höher als bei anderen Personen ist, vor allem dann, wenn sie in institutionellen Zusammenhängen leben. Der dadurch bedingte Stress findet einen körperlichen Ausdruck in stereotypem oder selbstverletzendem Verhalten, um die belastende Situation zu bewältigen und Stress zu verarbeiten. Eine gute Widerstandskraft, Lebensenergie, Stärke (Resilienz) hat sich bei der Bewältigung herausfordernder Situationen oder Ereignisse als hilfreich erwiesen. Dazu zählen die Autoren auch das sog. Stimming, die Beschäftigung mit Spezialinteressen und das Erleben von Selbstwirksamkeit. Positiv ist, dass bei der Einordnung dieses Verhaltens mittlerweile ein Umdenken einsetzt, weg von einer defizitorientierten Perspektive hin zu der Perspektive, dass diese Verhaltensweisen Form einer sinnvollen Selbstregulation sind.

In allen Büchern – wie auch in diesem- beschreibt Theunsissen auch den TEACCH Ansatz. Ein Forschungsprojekt in den 1970er Jahren an der Universität von North Carolina/USA ist der Grundstein für die Entwicklung von TEACCH. Eltern wurden schon damals aktiv in die Förderung ihrer autistischen Kinder einbezogen, denn Eltern sind die engsten Bezugspersonen des Kindes. Schon damals wurde erkannt, dass Unterstützungsangebote buttom-up, also kind-, familienzentriert und niedrigschwellig organisiert sein sollten. Diese Perspektive vermittelt dem Kind, dass es respektiert wird und kompetent handeln kann. Bei Frühtherapiemodellen steht die Verbesserung der Imitationsfähigkeit, die als Grundvoraussetzung für die Weiterentwicklung des Kindes und für den Erwerb von aktiver verbaler Sprache gilt, im Mittelpunkt, auch geht es um die Verbesserung des Blickkontakts, Erwerb der Zeigegeste, um die Fähigkeit um Hilfe zu bitten und um individuell mit den Eltern vereinbarte Ziele. Aktivitäten und Materialien sind attraktiv, interessant sowie lustig gestaltet, das erhöht den Anreiz für das Kind mit dem Erwachsenen in Kontakt zu treten. Die Bezugspersonen lernen, wie sie den Alltag mit bedeutungsvollen Interaktionen und Lernerfahrungen füllen können. Statt teures Therapiematerial einzukaufen wurden im TEACCH Ansatz von Beginn an Alltagsmaterialien verwendet und entsprechend angepasst, worauf alle Familien Zugriff haben.

TEACCH wurde über die Jahre weiterentwickelt und kommt in vielen Bereichen zum Einsatz. TEACCH ist keine isolierte Methode, sondern eine Philosophie, die sich in einer Haltung niederschlägt. Ziel ist, ein größtmögliches Maß an Selbstständigkeit, Kompetenz und Selbstwirksamkeit und damit an Lebensqualität zu gewinnen. Stärken werden optimal genutzt, Auswirkungen von Schwächen minimiert, um Verstehen, Lernen und Entwicklung zu ermöglichen.

Fazit

Es gibt verschiedene Perspektiven der Betrachtung bei Autismus. Dieses Buch beleuchtet Autismus aus der Perspektive der Stärken, blendet aber die Herausforderungen des autistischen Verhaltens gegenüber der Bezugswelt nicht aus. Den Auftakt bildet die Geschichte des Autismus, daran schließen sich. „die Konturen des aktuellen Autismusverständnisses“ (Klappentext) an. Im Zentrum steht eine verstehende Problemsicht, sie ist Ausgangspunkt der pädagogischen Praxis. Vorgestellt werden die Leitprinzipien zeitgemäßer Heil- und Sonderpädagogik sowie der Behindertenarbeit, daran anschließend werden zentrale Felder pädagogischen Handelns aufgegriffen: Das Buch spannt einen Bogen, der mit den Frühen Hilfen und dem Vorschulbereich beginnt, die Schule und den Unterricht bis hin zur Erwachsenenbildung sowie die berufliche Bildung in den Blick nimmt und in der Arbeit und dem Wohnen mündet. Dieses Buch ist prall gefüllt mit Inhalt, die Seiten sind eng beschrieben, dabei dennoch gut strukturiert und verständlich geschrieben. Ein Stichwortverzeichnis erlaubt das gezielte Suchen nach Fachbegriffen, eingestreut sind einzelne Fallvignetten, die einen Praxisbezug herstellen. Leser*innen erhalten einen fundierten Überblick über die Pädagogik bei Autismus.

Georg Theunissen hat weitere Bücher zum Thema „Autismus“ veröffentlicht, zu denen auch Rezensionen vorliegen. Im Buch „Autismus und herausforderndes Verhalten“ (2017) stellt er einen Praxisleitfaden für Positive Verhaltensunterstützung vor (www.socialnet.de/rezensionen/&;ZeroWidthSpace;23241.php). 2014 erschien sein Buch „Menschen im Autismus-Spektrum: verstehen, annehmen, unterstützen“ (www.socialnet.de/rezensionen/&;ZeroWidthSpace;16379.php) und 2013 das Buch „Der Umgang mit Autismus in den USA“ (www.socialnet.de/rezensionen/&;ZeroWidthSpace;15993.php).

Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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Zitiervorschlag
Petra Steinborn. Rezension vom 02.01.2020 zu: Georg Theunissen, Mieke Sagrauske: Pädagogik bei Autismus. Eine Einführung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. ISBN 978-3-17-036318-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25560.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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