Eva Büschi, Stefania Calabrese (Hrsg.): Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Jutta Harrer-Amersdorffer, 04.07.2019

Eva Büschi, Stefania Calabrese (Hrsg.): Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2019.
200 Seiten.
ISBN 978-3-17-033816-6.
26,00 EUR.
Reihe: Grundwissen Soziale Arbeit hrsg. von Rudolf Bieker.
Thema
Entsprechend des Titels „Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit“ befassen sich die verschiedenen Autor_innen des Herausgeberwerkes mit abweichenden und auffälligen Verhaltensweisen von Klient_innen in ausgewählten Arbeitsfeldern der Sozialen Arbeit.
Herausgeber_innen
Frau Prof. Dr. Eva Büschi ist Dipl. Sozialpädagogin und Dozentin an der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW). Ihre Arbeitsschwerpunkte in Lehre, Forschung und Weiterbildung umfassen herausfordernde Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen, Gewalt, Trauma und Kooperative Prozessgestaltung sowie Projektmanagement.
Frau Dr. Stefania Calabrese ist Erziehungswissenschaftlerin und Dozentin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Ihre Schwerpunkte in Lehre, Forschung und Weiterbildung liegen auch im Bereich herausfordernder Verhaltensweisen von Erwachsenen mit kognitiven Beeinträchtigungen sowie weiterhin im Feld agogischer Aspekte bei schwerer und mehrfacher Beeinträchtigung sowie die Auswirkungen einer Behinderung auf Lebensqualität und Bildung.
Entstehungshintergrund
Das Herausgeberwerk „Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit“ wurde in der Kohlhammer-Reihe Soziale Arbeit: Grundwissen von Rudolf Bieker veröffentlicht. Wie sich aus dem Vorwort der Reihe ergibt, entstand diese vor dem Hintergrund der veränderten Ansprüche an Studierende der Sozialen Arbeit durch den Bologna-Prozess
Aufbau und Inhalt
In acht Kapiteln nähern sich die Autor_innen der Thematik „Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit“ in den unterschiedlichen Arbeitsfeldern an.
Folgende Zielgruppen werden dabei aufgegriffen:
- Kinder und Jugendliche im Schulsetting (Uri Ziegele & Martina Good)
- Jugendliche in institutionellen Kontexten der Jugendhilfe (Sven Huber & Peter A. Schmid)
- Suchtmittelabhängige Menschen (Heike Güdel)
- Asylsuchende (Luzia Jurt)
- Straffällige (Patrick Zobrist)
- Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung (Stefania Calabrese & Eva Büschi)
- Menschen mit psychischer Beeinträchtigung (Marlis Baumeler & Pablo Philipp)
- Menschen mit Demenz (Nicole Gadient, Ingrid Cretegny, Regina Fischlin & Stefanie Becker)
Jedem Kapitel ist eine Fallvignette für das entsprechende Arbeitsfeld vorangestellt. Diese verdeutlichen „klassische“ Handlungsaufträge mit den jeweiligen Zielgruppen. Je nach individueller Schwerpunktsetzung werden in den einzelnen Kapiteln bestimmte Begrifflichkeiten aufgegriffen und dargestellt, welche nach Sicht der einzelnen Autor_innen im Arbeitsfeld eine besondere Relevanz aufweisen. Des Weiteren werden Handlungsansätze und vorherrschende Konzepte in Theorie und Praxis in der Arbeit mit den einzelnen Zielgruppen herausgestellt. Die theoretischen Ansätze, Begriffserklärungen und Praxiskonzepte werden in den einzelnen Kapiteln in direkten Bezug zu den vorangestellten Fallvignetten gebracht, sodass sich ein schlüssiges Bild für Studierende ergibt.
Am Ende jedes Kapitels steht ein Interview mit einer Praxisfachkraft. Durch diese wird das Bild des Theorie-Praxis-Transfers abgerundet und einzelne Problemstellungen herausgegriffen und vertieft.
Jedem Artikel folgt eine aktuelle, fachspezifische Bibliographie, die den Studierenden die Möglichkeit eröffnet sich vertieft mit einem spezifischen Arbeitsfeld auseinander zu setzen.
Exemplarisch werden folgend zwei Kapitel näher beschrieben:
Das 2. Kapitel befasst sich mit spezifischen Problemstellungen im institutionellen Kontext der Jugendhilfe und wurde von Sven Huber & Peter A. Schmid verfasst. Die gewählte Fallvignette greift den Fall des 1997 geborenen Nino auf, welcher in einer Einrichtung für straffällige Jugendliche und junge Erwachsene in der Schweiz stationär untergebracht ist. Systematisch werden die Problemstellungen des Jungen dargestellt, welche unter folgenden Schlagwörtern zusammengefasst werden kann:
- Außenseiterrolle,
- Gewalt und Aggressionen,
- ADHS-Diagnose,
- institutionelle Vormundschaft durch das Jugendamt,
- Zusammenarbeit mit Eltern nur sehr eingeschränkt möglich,
- mehrere Strafdelikte.
Ein Abbruch der Maßnahme würde zu einer Einweisung des Jungen führen. Der Junge äußert immer wieder, dass er die Maßnahme nicht fortsetzen möchte. Die Autoren greifen zur Fallbearbeitungen eine von ihnen entwickelte Heuristik auf, welche sich auf drei zentrale Fragestellungen zur Koproduktion der Sozialen Arbeit mit den Adressat_innen fokussiert: Herstellung von Öffnungsprozessen auf Seiten aller Beteiligten, Verständnis für herausfordernde Verhaltensweisen in ihrer intersubjektiven und strukturell gerahmten Bewältigungsdynamik sowie Grenzsetzung innerhalb einer vertrauensvollen Beziehung.
Die drei Fragestellungen werden innerhalb des Kapitels von den beiden Autoren ausführlich bearbeitet. Als Beispiel für die Öffnung wird die Thematik „Ortshandeln“ nach Michael Winkler aufgegriffen. Hierbei geht es um einen korrektiven Neuanfang innerhalb der Erziehung und inwieweit dieser durch einen Ortswechsel und der damit verbundenen Schaffung neuer Möglichkeiten für den Jugendlichen gelingen kann. Jugendhilfeinstitutionen sollen dabei den Klient_innen einen Ort bieten, den diese nutzen können, um Gemeinschaft zu finden und Selbstbestimmung zu erfahren. Unter dem Aspekt „Verstehen“ stellen die Autoren den theoretischen Bezugsrahmen durch die Einbeziehung der Lebensweltorientierung nach Hans Thiersch her. Im Zuge dieser Ausführungen verdeutlichen Huber und Schmid die marginalisierte Rolle des Verstehens und führen die Ursache dieser Entwicklung als eine Spätfolge der Methodenkritik an, was durchaus kritisch zu hinterfragen ist. Im weiteren Verlauf der Ausführungen argumentieren die Autoren stark hermeneutisch-sozialpädagogisch, was sich in der Diskurslinie im Kapitel der „Grenzsetzungen“ weiter verstärkt. Grenzsetzungen werden kritisch hinterfragt, jedoch plädieren die Autoren für eine Überwindung von dogmatischen Positionen in diesem Feld. Abgerundet durch das Interview mit der Fachperson aus der Praxis liefern die Autoren einen ersten Einblick in eine weitgehend sozialpädagogisch geprägte Jugendhilfe und greifen damit häufig diskutierte Fragestellungen, wie Lebensweltorientierung und Grenzsetzungen im Feld der „institutionellen Jugendhilfe“ auf.
In Kapitel 3 „Herausfordernde Verhaltensweisen von suchtmittelabhängigen Menschen“ von Heike Güdel wird als Beispielfall eine 35-jährige Klientin mit immer wieder kehrendem Konsum legaler und illegaler Substanzen in ihrer Entwicklung und eingebettet in ein „soziales“ Netzwerk aus suchtmittelabhängigem Lebenspartner, fremduntergebrachten Kindern und einiges Ärzten sowie Sozialarbeitenden charakterisiert. Im Verlauf der Aufarbeitung mit Hilfe des Theorieansatzes der „Integration und Lebensführung“ werden Gewichtung der sozialen Kontakte – vor allem bestehend aus Drogenszene und Hilfesystem – klar. Auch werden mittels einer grafischen Systemmodellierung die Zusammenhänge verschiedener auftauchender Problemfelder deutlich. Anschaulich und nachvollziehbar werden aus der durch die Borderline-Störung der Klientin und die psychische und physische Zusatzbelastung aufgrund der Beschaffungsprostitution entstehende Komorbidität nicht nur dargestellt. Es werden klare Zielsetzungen getroffen:
- Die Klientin soll in ihrer Autonomie gestärkt sowie im Rahmen einer Schadensminderung und Therapie begleitet werden.
Hieraus leitet Güdel in der Praxis anwendbare Handlungsoptionen im Feld der Sozialen Arbeit ab. Case-Management, strukturierte Gesprächsführung, Aufbau einer niederschwelligen Tagesstruktur sind einige der angeführten Methoden. Akzeptanz, Offenheit und Ambiguitätstoleranz werden unter anderem als notwendige Kompetenzen der Beratenden dargestellt. Durch das abschließende Interview mit einer Fachperson werden die Aspekte praxisnah verdeutlicht, und Sozialarbeitenden am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn die Wichtigkeit von Strukturierung auch der eigenen Arbeitsweise sowie Ehrlichkeit und Akzeptanz gegenüber ihrer Klientel nahegelegt.
Fazit
Durch die differenzierten Fachartikel gelingt es dem nur knapp 200 Seiten dünnen Büchlein einen guten Einstieg in ausgewählte Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit und den damit verbundenen spezifischen Problemstellungen zu bieten. Innerhalb der einzelnen Artikel wird durch sauber recherchierte Begriffsdarstellungen oder knapp dargestellte Theorieansätze in Verbindung mit der Bezugnahme auf die vorangestellte Fallvignette ein Einstieg in den Transfer zwischen Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit geschaffen. Die geführten Interviews mit Praxisfachkräften runden das Bild eines kompakten Theorie-Praxis-Transfers ab. Das Buch ist für Studierende geschrieben und bietet entsprechend einen ersten Einblick in die differenzierten Arbeitsfelder und die Vielfalt an möglichen Zielgruppen sozialarbeiterischer Interventionen.
Gerade für Studierende im Praxissemester kann das Herausgeberwerk „Herausfordernde Verhaltensweisen in der Sozialen Arbeit“ von Eva Büschi und Stefania Calabrese als große Bereicherung gesehen werden. Dem vorangestellten Anspruch von Herrn Prof. Dr. Bieker als Herausgeber der Reihe Soziale Arbeit: Grundwissen im Zuge des Bologna-Prozesses durch die Herausgeberreihe einen Überblick und Einstieg in das facettenreiche Feld der Sozialen Arbeit zu geben, wird mit diesem Buch folgegetragen. Kompakt, informativ und mit der direkten Verbindung von Theorie und Praxis bietet dieses Buch Einblick in das Feld „Herausfordernde Verhaltensweisen“ und ist ein gutes Beispiel für angewandte Theorie in den Praxisfeldern.
Rezension von
Prof. Dr. Jutta Harrer-Amersdorffer
Professorin für Theorie und Handlungslehre der Sozialen Arbeit, Technische Hochschule Nürnberg
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