Anna-Christin Ransiek: Rassismus in Deutschland
Rezensiert von Dr. Carina Großer-Kaya, 12.09.2019

Anna-Christin Ransiek: Rassismus in Deutschland. Eine macht-reflexive, biographietheoretische und diskursanalytische Studie.
Springer VS
(Wiesbaden) 2019.
343 Seiten.
ISBN 978-3-658-24055-4.
D: 49,99 EUR,
A: 51,39 EUR,
CH: 55,50 sFr.
Reihe: Theorie und Praxis der Diskursforschung.
Thema
Die Studie untersucht Rassismuserfahrungen Schwarzer Menschen in Deutschland aus der Perspektive ihrer biographischen Erfahrungen und den damit in Zusammenhang stehenden Diskursen über Rassismus. Die Autorin arbeitet in ihrer Untersuchung einerseits mit den dominanten Diskurssträngen über Rassismus wie sie in Gesellschaft und Medien in Vergangenheit und Gegenwart relevant sind. Auf der anderen Seite beschäftigt sie sich mit individuellen Erfahrungen von Rassismus aus der Perspektive Schwarzer Menschen in Deutschland. Als dritte Ebene bezieht sie die Interaktionen zwischen (Weißer) Forscherin und den (Schwarzen) Interviewpartner*innen als reflexiven Bestandteil in die Untersuchung ein. Auf allen diesen Ebenen werden die Analysen entlang von diskursiv und biographisch relevanten Erfahrungen mit Rassismus zueinander ins Verhältnis gesetzt und eine Typologie der Bearbeitungsmuster von Rassismus als individuelle Positionierungen Schwarzer Menschen in Deutschland entwickelt.
Autorin und Entstehungshintergrund
Die Autorin Anna-Christin Ransiek ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum Technik und Gesellschaft an der TU Berlin und hat die vorliegende Untersuchung an der Universität Göttingen als Dissertation eingereicht.
Aufbau und Inhalt
Der erste Teil (Kapitel 1 und 2) der Untersuchung besteht aus einer Einführung in das Thema und einer kritischen Reflexion auch der eigenen Position als Weiße Forscherin. Es erfolgt eine Beschreibung des Forschungsgegenstands und des die Untersuchung leitenden Erkenntnisinteresses. Zentrale Fragestellung ist der individuelle Umgang mit Rassismus und welcher „familialer, sozialer und milieuspezifischer Ressourcen (…) sich die Biograph*innen bei der Bearbeitung bedienen.“ Dies erfolgt durch eine „machtkritische Interaktionsperspektive“, durch die „die situative Aktualisierung von Bearbeitungsmustern und Position(ierung)en vor dem Hintergrund spezifischer Machtverhältnisse“ in den Mittelpunkt gestellt werden kann.
Im zweiten Teil (Kapitel 3 und 4) folgt eine ausführliche Beschäftigung mit den Begriffen Diskurs und Biographie, wie sie für den empirischen Teil der Studie relevant und wissenschaftstheoretisch einzuordnen sind. Darauf aufbauend wird die konkrete Umsetzung von biographischer Forschung und Diskursanalyse mit den jeweils aufeinander aufbauenden Arbeitsschritten erläutert und das „Verhältnis von Biographie, Diskurs & Interaktion“ dargelegt. Interaktion bedeutet für die Autorin im Kontext der Untersuchung, dass ein biographisch-narratives Interview ein „interaktives Setting“ ist, das mit dem Moment der Kontaktaufnahme der Beteiligten ins Leben gerufen wird. Dies bedeutet für die Forschungspraxis eine „reflexiv angelegte Forschungsweise“, in der Macht, Dominanzverhältnisse und Privilegien als gesellschaftliche Realitäten mitgedacht und strukturiert reflektiert werden müssen.
Als dritter Teil der Untersuchung wird in Kapitel 5 der Diskurs um und über Rassismus in Deutschland aus einer historischen Perspektive und fokussiert auf die Erfahrungsebenen des biographischen Materials als Rahmung der gesamten Untersuchung analysiert. Dabei konzentriert sich die Autorin auf historische und wissenschaftstheoretische Schwerpunkte, wie sie für die Analyse der Biographien lebensgeschichtlich relevant sind und unterteilt in zwei Unterkapitel:
- „1. die Entstehung der Vorstellung von ’Rasse’, in dem zentrale Vorstellungen skizziert werden, die den rassistischen Wissensbestand, so wie er in diesem Buch verstanden wird, konstituieren;
- 2. die Geschichte des Rassismus und die Geschichte der Situation Schwarzer (Deutscher) Menschen vom Deutschen Kolonialismus bis in die Gegenwart.“
Der vierte Teil besteht aus einer umfangreichen „diskursanalytischen Betrachtung von Rassismus in der Gegenwart“ (Kapitel 6) und der biographieanalytischen Untersuchung mit dem Titel „Biographische Bearbeitungsmuster“ in Kapitel 7. Die Gegenüberstellung diskursiver Praxis erfolgt entlang der Themenstränge von Diskurs und Gegendiskurs. Die wesentlichen Diskursstränge von Rassismus der Gegenwart werden in den folgenden Kategorien verortet:
- der rechte Rand
- der gestörte Einzeltäter
- der gefährliche Osten
- die Gesamtgesellschaft
Diese Einordnung erläutert die Autorin wie folgt: „Der rechte Rand, der gestörte Einzeltäter und der gefährliche Osten sind (…) funktional eher als gesamtgesellschaftliche Deutungen der Entlastung zu betrachten, da hier Rassismus als Randphänomen etabliert wird, während Rassismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen eine Art Gegendiskurs darstellt.“ Dieser Gegendiskurs zeigt sich als empowernde Bewegung, die durch die Aktivitäten Schwarzer Menschen in Deutschland maßgeblich mitgestaltet werden. Dazu gehört die „Aneignung“ von Geschichte ebenso wie die Beanspruchung der „Definitionsmacht“ über Begriffe, den Einsatz des Stilmittels der „Autobiographie“ und aufklärende Strategien gegen Rassismus. In der Biographieanalyse werden fünf Lebensgeschichten von Schwarzen Menschen in Deutschland ausführlich analysiert. Während zwei der Biographinnen in Deutschland (DDR bzw. BRD) geboren und aufgewachsen sind, werden drei weitere Biograph*innen mit Geburtsort außerhalb Deutschlands präsentiert. Gemeinsamer Analysehintergrund sind Bearbeitungen von Rassismuserfahrungen und die individuellen Auseinandersetzungen mit dominanten Diskursen.
Im Anschluss daran widmet sich die Autorin in Kapitel 8 einer reflektierenden Analyse unter „postkolonialen“ und „postnationalsozialistischen“ Vorzeichen. Hierbei werden die spezifisch deutschen historischen Zusammenhänge im Hinblick auf die Einnahme einer „historisch-kritischen Forschungsperspektive“ konzeptionell geschärft. In Kapitel 9 werden die Untersuchungsstränge von Diskurs- und Biographieanalyse mit allen Erkenntnissen und Ergebnissen der empirischen Untersuchungen zusammengeführt. Die Autorin stellt eine Typologie von Bearbeitungsmustern vor, wie sie in den Biographien Schwarzer Menschen in Deutschland herausgearbeitet werden konnten. Diese werden mit den Bezeichnungen „Selbstgewähltes Auffallen“, „Aufrechterhaltung von Autonomie“, „Distanzierung von (rassistischen) Anderen“ sowie „Vermittlung und Aufklärung“ voneinander abgegrenzt. Die Untersuchung schließt mit einem Fazit und Ausblick auf „Rassismus im Diskurs“.
Diskussion
Die drei Ebenen Diskurs, Biographie und Interaktion bilden eine strukturierende Grundlage für die Auseinandersetzung mit Rassismus in der deutschen Gesellschaft über die Zeiten und politischen Systeme wie auch gesellschaftliche Transformations- und Umbruchsphasen hinweg. Sowohl über die Diskurse als auch über die Biographien werden Verbindungen zwischen Kolonialzeit und Nationalsozialismus mit der Geschichte von DDR und BRD hergestellt und die bis in die Gegenwart biographisch relevanten Zusammenhänge am Beispiel von Diskursverschränkungen herausgearbeitet. Besonders deutlich wird dies, wenn es um die familiäre Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit der Interviewten geht. Wenn die Biographin Sabine Pohl (Hervorhebungen im Original) sagt: „Mein Vorteil an meiner Hautfarbe ist, egal wohin ich fahre ich werde nie mit Hitler in Verbindung ((lachend)) gebracht“, kann dies als globalisierende Zuspitzung ihrer Position in Familie und Gesellschaft verstanden werden, die sowohl Dilemma wie auch Chance bedeutet. Je weniger sichtbar „Deutsch“ eine Person aufgrund ihrer äußeren Erscheinung gelesen werden kann, desto größer wird der Spielraum für die individuelle Auseinandersetzung mit dem Rassismus der Vorgenerationen. Gleichzeitig stellt sich einmal mehr die Frage nach der aktuellen Zugehörigkeit als „Deutsch“.
Die Analysen der Position(ierung)en wie sie die Interviewten in ihren individuellen Auseinandersetzungen mit den dominanten Diskursen vornehmen, beziehen auch die Autorin als „Weiße Deutsche“ in reflektierender Weise mit ein. Diese und andere Differenzkategorien spielen in Forschungsprozessen eine Rolle und sind gerade dann zu berücksichtigen, wenn eine wissenschaftliche fundierte Auseinandersetzung mit Dominanzverhältnissen und Machtstrukturen Gegenstand der Untersuchung ist.
Die biographienanalytischen Untersuchungen zeigen ein großes Spektrum von Lebensentwürfen Schwarzer Menschen in Deutschland. Mit den ausführlichen Fallanalysen von Heide Aboyami und Susanne Pohl werden die Lebenswege in den beiden deutschen Staaten vor und nach der Wiedervereinigung ebenso nachvollzogen wie die Suche nach familiären Wurzeln in Ghana und Nigeria. Darüber werden parallele Entwicklungen in der DDR und der BRD präsentiert, die zeigen, wie sehr Rassismus und die Auseinandersetzung mit der Täterschaft der Vorgenerationen in beiden deutschen Staaten vermieden werden, welche Dimensionen Alltagsrassismus hat und wie er von beiden Biographinnen erlebt wird. Erweitert und kontrastiert wird dieses Bild durch biographische Erzählungen von Schwarzen Menschen in Deutschland, deren Lebenswege sich durch Geburtsort, Migrationserfahrungen sowie familiäre Orientierungen unterscheiden. Parallelen zwischen den präsentierten Fällen finden sich vor allem durch die Beteiligung an Empowermentaktivitäten in Initiativen Schwarzer Menschen in Deutschland und ihre Einbettung in die jeweiligen Lebensgeschichten. Dies ermöglicht einen Einblick in Motivationen, Auseinandersetzungen sowie Begründungszusammenhänge wie auch über die konkrete Gestaltung des Gegendiskurses zu Rassismus in der „Gesamtgesellschaft“ und rundet das Bild mit handlungsbezogenen Ansätzen und Positionierungen im Diskurs ab.
Fazit
Die Untersuchung gibt tiefe Einblicke in die Lebensgeschichten Schwarzer Menschen in Deutschland, ihre individuellen Positionierungen gegenüber rassistischen Zuschreibungen wie auch Diskriminierungen in Alltag, Beruf, Familie und durch gesellschaftliche Institutionen. Es wird eine historische Einordnung von Rassismus entlang dieser Biographien vorgenommen und auf die Kontinuitäten von Tabu, Entlastung und Abwehr als wesentliche Strategien der dominanten Diskurse hingewiesen. Gleichzeitig wird auf der Grundlage der subjektiven Auseinandersetzungen nachvollzogen, wie Menschen in Deutschland Gegendiskurse entwickeln, um die Macht der dominanten Differenzkategorien mit den daraus abgeleiteten Privilegien anzugreifen. Dies ermöglicht es, die Relevanz der stärker werdenden Schwarzen Deutschen Perspektive als wesentlichen Motor für Empowerment benachteiligter Gruppen nachvollziehen zu können. Auch die Verschränkungen von deutscher Geschichte mit globalen Entwicklungen vor und nach dem Ende der Kolonialzeit manifestieren sich in der Untersuchung der Lebensgeschichten der Biograph*innen und bestätigen einmal mehr die unlösbaren Verbindungen des Lebens im Kleinen mit gesellschaftspolitisch im Großen relevanten Transformationen und Brüchen.
Rezension von
Dr. Carina Großer-Kaya
Studium der Arabistik, Islamwissenschaften und Politikwissenschaften in Leipzig; Promotion zu Identitätskonstruktionen türkeistämmiger Männer; Dozentin für Mehrsprachigkeit, transkulturelle Kommunikation und Diversity; Koordination von Projekten der interkulturellen Erwachsenenbildung sowie zur Beratung und Begleitung von Migrant*innen.
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Zitiervorschlag
Carina Großer-Kaya. Rezension vom 12.09.2019 zu:
Anna-Christin Ransiek: Rassismus in Deutschland. Eine macht-reflexive, biographietheoretische und diskursanalytische Studie. Springer VS
(Wiesbaden) 2019.
ISBN 978-3-658-24055-4.
Reihe: Theorie und Praxis der Diskursforschung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25596.php, Datum des Zugriffs 01.10.2023.
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