Christine le Coutre: Focusing zum Ausprobieren
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 10.05.2019

Christine le Coutre: Focusing zum Ausprobieren. Eine Einführung für psychosoziale Berufe : mit Demo-Videos, Audioanleitungen und Arbeitsblättern als Online-Zusatzmaterial.
Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2016.
156 Seiten.
ISBN 978-3-497-02627-2.
D: 24,90 EUR,
A: 25,60 EUR.
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 13.
Die Lücke zwischen Fühlen und Denken
Rationalismus und Emotionalität sind ethische Wertmaßstäbe, die für anthropologisches Denken und Handeln konstitutiv sind. In der Geschichte der Philosophie vollzieht sich – bis heute – die Kontrovers, ob die Ration, das auf Verstand aufgebaute und ausgerichtete Dasein bedeutsamer und wichtiger sei als das am Affekt ausgerichtete. Es gab und gibt immer wieder Versuche, die beiden verfeindeten, zumindest aber distanzierten Geschwister zusammen zu führen, nicht zuletzt in den Bereichen, in denen die existentiellen Auseinandersetzungen um synonymes und antonymes Denken und Tun der Menschen bedeutsam ist und eingeübt werden soll, in der Pädagogik, Psychologie, Philosophie und Soziologie (Gabriele Jähnert, Hrsg., Kollektivität nach der Subjektkritik. Geschlechtertheoretische Positionierungen, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15958.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Es sind Funktionen, Konzepte und Methoden, die Eigenschaften und Verhaltensweisen vermitteln, wie durch Coaching (Jonathan Briefs, Ich habe keine Lösung, aber ich bewundere das Problem. Provokatives Coaching für den Berufsalltag, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15357.php), Crossing (Antje Dresen / Florian Freitag, Hrsg., Crossing. Über Inszenierungen kultureller Differenzen und Identitäten, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21222.php) und Lebenslehren (E. Noni Höfner, Glauben Sie ja nicht, wer Sie sind! Grundlagen und Fallbeispiele des Provokativen Stils, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/10765.php). Mit dem in der US-amerikanischen, psychotherapeutischen Praxis entwickeltem Konzept des Focusing wird die Erfahrung aufgenommen, dass Strategien zur Problembewältigung nur im Einklang und Zusammenwirken von Educador und Educandus, von Therapeut und Patient… möglich werden. Es ist das Zusammenspiel von Denken und Fühlen, von Wollen und Sollen, von Wünschen und Hoffen, von Sympathie und Distanz, von Zustimmung und Ablehnung, das im Focusing wirksam wird.
Die in Köln ansässige Gesellschaft für Personzentrierte Psychotherapie e.V. (GwG, www.gwg-ev.org ) vertritt und propagiert das Konzept Focusing in Theorie und Praxis. Der Münchner Reinhardt-Verlag gibt Literatur und Medien als „Wege der Psychotherapie“ heraus. Die Gesprächspsychotherapeutin Christine le Coutre geht davon aus, dass schwieriges, abweichendes Verhalten sich in vagen oder bestimmten Körpergefühlen ausdrücken; es also hilfreich ist, diesen Empfindungen nachzugehen, sie zu identifizieren und im dialogischen Prozess zu bearbeiten.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin legt dazu eine Einführung für psychosoziale Berufe vor und zeigt mit angewandtem Focusing Konzepte und Methoden auf, wie eine Verbindung von Denken und Fühlen zustande kommen kann. Mit der Definition, was unter Focusing zu verstehen ist, leitet sie in der „Einführung und Gebrauchsanweisung“ den ersten praxisorientierten Zugang ein, nämlich: „Focusing ist ein Prozess, in dem das Denken mit dem körperlichen Erleben in Interaktion ist“. Der Verlag bietet zum Buch Videos, Arbeitsblätter und Übungsanleitungen als PDF-Dokumente an; und es wird auf eine virtuelle Diskussions- und Partnerbörse verwiesen. Auch wenn die Informationen und Praxisbeispiele den Anschein vermitteln, es handele sich um eine ToDo- und Abhakliste, legt die Autorin das Buch nicht im Stil eines Ratgebers oder gar Rezeptes an; Focusing-Prozesse können zwar auch als Selbst-Focusing-Verfahren angewandt werden, doch effektiver und wirksamer vollziehen sie sich bei Partner-, Team- und Gruppen-Aktivitäten.
Die Autorin gliedert das Buch in vier Teile: Im ersten Teil stellt sie „Wissenswertes über Focusing“ vor; im zweiten werden Beispiele genannt zum „Focusing auszuprobieren“; im dritten werden „weitere Focusing-Formate und ihre Anwendungen“ angeboten; und im vierten Teil werden Hinweise gegeben, „Wo Sie noch mehr über Focusing erfahren können“.
Konzepte, Programme und Lebenslehren sind von Menschen gemacht. Ein Zugang dazu ist vielfach nur zu finden, wenn Wissen und Auseinandersetzung mit den Kreativs und Apologeten erfolgt. Das Konzept Focusing wurde vom austroamerikanischen Psychotherapeuten Eugene T. Gendlin (1926 – 2017) entwickelt. In seinen Forschungen und seiner Praxis fand er heraus, dass sich Erfolge und Lösungsansätze bei der pädagogischen und psychologischen Zusammenarbeit dann eher einstellten, wenn Menschen Krisensituationen und Probleme an ihren körperlichen Empfindungen und Signalen orientieren konnten. Dadurch zeigten sich andere, intensivere Aufmerksamkeiten. In ausführlichen Informationen, eingängigen Schilderungen und nachvollziehbaren Erzählungen vermittelt die Autorin Anregungen zum Selbstdenken und Ausprobieren von rationalen und emotionalen, alltäglichen und spezifischen Prozessen der Daseinsbewältigung.
„Focusing zum Ausprobieren“, das klingt wie eine Rezeptanwendung. Aber jeder weiß und hat es erstaunend, irritierend oder auch enttäuschend erlebt: Rezepte können auch lügen! Nicht selten dann nämlich, wenn die An- und Verordnung nicht als ganzheitliches Verfahren verstanden wird. Focusing als personzentrierte Intervention tritt ein gegen Ratschläge und per Ordre du Mufti-Anordnungen, sondern weckt die eigenen körperlichen und geistigen Achtsamkeiten. Es sind nicht zuletzt die neueren, neurowissenschaftlichen Forschungen, die der Methode neue Aufmerksamkeit bescheren.
„Partnerschaftliches Focusing ist der Königsweg, um Focusing zu lernen und in den eigenen Alltag zu integrieren“. TAE = „Thinking at the Edge“, ist kreatives Denken als gefühltes Empfinden, wird im pädagogischen, didaktischen Diskurs als „entdeckendes Lernen“ bezeichnet, bei dem die Lernenden eigene Ideen entwickeln und ausprobieren und damit, beim Partnerschafts- und Gruppenlernen, projektorientiert zusammen arbeiten.
Fazit
Es sind Ankerbegriffe, wie Achtsamkeit und Aufmerksamkeit (Jörn Müller / Andreas Nießeler / Andreas Rauh, Hrsg., Aufmerksamkeit. Neue humanwissenschaftliche Perspektiven, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/21112.php), die Focusing für psychosoziale und pädagogische Berufe interessant machen. Die Einführung in das Ausprobierbuch „Focusing“ baut darauf auf, dass Lernende und Lehrende neugierig und daran interessiert sind, beim (helfenden, unterstützenden, fördernden, gleichberechtigten) Dialog neue Wege bei Bildungs-, Erziehungsprozessen und Therapien zu beschreiten, nicht mit dem erhobenen Zeigefinger und mit überkommenen Methoden, sondern mit dem Mut des Experimentierens, Fragens und freien Assoziierens. „Lasst Gefühle sprechen!“ – diese Forderung heißt ja nicht, sich gedankenlos, zwang-, affekthaft und passiv dem Widerfahrnis hinzugeben und auszuliefern, sondern explizites und implizites Denken und Handeln zusammen zu bringen.
Die Autorin und Focusing-Trainerin Christine le Coutre hat die praxisorientierte Einführung in die Methoden des Focusing vor allem für die Aus- und Fortbildung in psychosozialen Berufen, wie PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und PsychoanalytikerInnen geschrieben; doch auch für die pädagogischen Berufen und der Sozialen Arbeit Tätigen bietet das Buch Anregungen und Tipps (vgl. dazu auch: Antonio Damasio, Im Anfang war das Gefühl. Der biologische Ursprung menschlicher Kultur, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23378.php).
Die im Buch ausgewiesenen, verschriftlichten und audiovisuellen Informations- und Arbeitsmaterialien werden auch als PDF-Download zur Verfügung gestellt.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 10.05.2019 zu:
Christine le Coutre: Focusing zum Ausprobieren. Eine Einführung für psychosoziale Berufe : mit Demo-Videos, Audioanleitungen und Arbeitsblättern als Online-Zusatzmaterial. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2016.
ISBN 978-3-497-02627-2.
Reihe: Personzentrierte Beratung & Therapie - Band 13.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25605.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
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