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Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger et al. (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie

Rezensiert von Dr. Alexander Tewes, 07.02.2020

Cover Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger et al. (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie ISBN 978-3-608-96258-1

Günter H. Seidler, Harald J. Freyberger, Heide Glaesmer, Silke Brigitta Gahleitner (Hrsg.): Handbuch der Psychotraumatologie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2019. 3., vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 1053 Seiten. ISBN 978-3-608-96258-1. D: 120,00 EUR, A: 123,30 EUR.

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Thema

Der Begriff Psychotraumatologie umschreibt die Lehre psychischer Traumafolgen. Hierbei geht es nicht nur um die sogenannte Posttraumatische Belastungsstörung, welche nach den gängigen Diagnosesystemen ICD-10 und DSM-5 diagnostiziert werden kann, sondern um sämtliche psychischen Reaktionen, die ein Mensch nach entsprechenden belastenden Erlebnissen zeigen und erleben kann. Dies ist ein erwartbar weites Spektrum. Wenn dann der Anspruch besteht, hier dem aktuellen wissenschaftlichen Stand im Hinblick auf Grundlagen, Folgen, Verläufe, kulturelle und gesellschaftliche Kontexte, Interventionen und rechtliche Implikationen gerecht zu werden, dann wird schnell klar, dass aus einem „Handbuch“ ein echter Wälzer werden muss.

Herausgebende

Prof. Dr. med. Harald J. Freyberger war ein deutscher Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Ab 1997 war er Professor für Psychiatrie, psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte waren Klassifikation, Diagnostik und Epidemiologie psychischer Störungen, dissoziative und posttraumatische Belastungsstörungen, psychiatrische und psychotherapeutische Interventionsforschung sowie Versorgungs- und Therapieforschung. Als Mitherausgeber diverser Zeitschriften (u.a. „Trauma & Gewalt“) und Mitglied im Editorial Board der Zeitschriften Psychotherapy and Psychosomatics, European Addition Research und Suchttherapie verfasste er mehr als 500 wissenschaftliche Veröffentlichungen in Zeitschriften und 19 Büchern. Er verstarb im Dezember 2018.

Prof. Dr. Silke Birgitta Gahleitner studierte Soziale Arbeit, promovierte in Klinischer Psychologie und habilitierte in Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt „Psychosoziale Arbeit“. Sie arbeitete langjährig als Psychotherapeutin in eigener Praxis sowie in einer sozialtherapeutischen Einrichtung für traumatisierte Mädchen. Seit 2006 ist sie als Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit mit dem Schwerpunktbereich „Psychosoziale Diagnostik und Intervention“ an der Alice Salomon Hochschule Berlin tätig, die letzten vier Jahre hat sie an der Donau-Universität Krems im Department für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit bei einem Forschungsaufenthalt verbracht.

Prof. Dr. Heide Glaesmer ist Diplompsychologin und Psychologische Psychotherapeutin mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie. Sie leitet die Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie an der Universität Leipzig. Sie habilitierte zum Thema „Traumatische Erfahrungen und posttraumatische Belastungsstörungen in der Altenbevölkerung – Zusammenhänge mit psychischen und körperlichen Erkrankungen sowie mit medizinischer Inanspruchnahme“.

Prof. Dr. Günter H. Seidler ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie sowie für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Lehranalytiker, Gruppenlehranalytiker, Balintgruppenleiter, Teamsupervisor und Organisationsberater, EMDR-Supervisor und Psychotraumatologe (Spezielle Psychotraumatherapie – DeGPT). Nach Jahrzehnten klinischer Arbeit und Forschung an den Universitäten Göttingen und Heidelberg ist er mittlerweile freiberuflich als Autor, Coach, Supervisor, Selbsterfahrungsleiter, Berater und Gutachter tätig. Seinen beruflichen Schwerpunkt der letzten Jahrzehnte bildet die Psychotraumatologie. Dieses noch relativ junge Fach habe er laut eigenen Angaben „(…) in Deutschland mit aufgebaut und mitgestaltet“ (https://www.guenter-seidler.de/).

Entstehungshintergrund

Das Handbuch der Traumatologie liegt mittlerweile in der dritten Auflage vor. Diese wurde erstmals vollständig überarbeitet und erweitert, da laut Klappentext „der Wissenszuwachs in der Psychotraumatologie (…) den der meisten anderen Fächer um ein Vielfaches“ übersteige. Dem ist zuzustimmen. Die Entwicklung ist umso bemerkenswerter, wenn berücksichtigt wird, dass vor allem die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) immer wieder auch kritisch diskutiert wurde (vgl. z.B. https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39834872.html). Obwohl der Begriff „Trauma“ bereits von Sigmund Freud 1895 verwendet wurde, erfolgte die Aufnahme der Diagnose ins DSM-III erst 1980. Grund für die Skepsis war unter anderem die Haltung, dass hier ätiologische Überlegungen in die Diagnose mit einfließen, statt lediglich Symptome zu beschreiben (wie bei anderen Diagnosen üblich).

Die erste Auflage des Handbuchs erschien in 2011. Bereits die Umschlaggestaltung macht deutlich, dass in diesem „Standardwerk“ (Klappentext) das gesammelte Wissen aus der Fachzeitschrift „Trauma & Gewalt“ aus dem Verlag Klett-Cotta zusammengefasst wurde. Sie „(…) ist die führende Zeitschrift für Psychotraumatologie im deutschsprachigen Raum und verbindet die klinische Sicht mit gesellschaftlichen Perspektiven“ (https://www.klett-cotta.de/zeitschrift/Trauma_&_Gewalt/7821). Besonders hervorzuheben ist, dass hier therapieschulenübergreifend Artikel veröffentlicht werden. Dies erfolgt auch im vorliegenden Buch. Als Autoren und Autorinnen konnten die qualifiziertesten Fachkräfte gewonnen werden, die der deutsche Markt derzeit zu bieten hat.

Aufbau

Auf insgesamt über 1000 Seiten wird alles bearbeitet, was zum Thema Psychotraumatologie zu schreiben ist. Dies erfolgt in folgenden Abschnitten:

  • Psychologische und biologische Grundlagen der Psychotraumatologie
  • Die Traumatheorie in den Hauptschulen der Psychotherapie – historische Entwicklung
  • Krankheitsbilder und Komorbiditäten
  • Spezifische Ereignisfolgen
  • Traumata in der Lebensspanne
  • Trauma in gesellschaftlichen, kulturellen und medizinischen Kontexten
  • Interventionen
  • Schnittstellen von Psychotraumatologie und Justiz

Zu diesen Themenblöcken wurden nicht weniger als 73 Kapitel verfasst. Diese hier alle darzustellen, würde den Rahmen der Rezension sprengen. Daher werden die Inhalte der Abschnitte unter Nennung exemplarischer Kapitel erläutert, ohne damit diese in Qualität den anderen gegenüber hervorheben zu wollen.

Inhalt

Psychologische und biologische Grundlagen der Psychotraumatologie

Im einleitenden Abschnitt werden die Grundlagen für Traumafolgestörungen umfassend erläutert. Hier werden Auswirkungen auf Gedächtnis, funktionelle Neuroanatomie, genetische Aspekte, Dissoziation, endokrinologische Grundlagen, Risiko- und Resilienzfaktoren, geschlechtsspezifische Aspekte der PTBS und transgenerationale Traumatransmission (am Beispiel der Holocaustüberlebenden) dargestellt.

Die Traumatheorie in den Hauptschulen der Psychotherapie – historische Entwicklung

Hier werden der konzeptionelle und der therapeutische Umgang der Richtlinienpsychotherapieverfahren (Psychoanalyse, Verhaltenstherapie, Gesprächspsychotherapie & Systemische Therapie) vorgestellt. Es werden sowohl aktuelle Herangehensweisen als auch die jeweilige historische Entwicklung der jeweiligen Therapieschule verdeutlicht.

Krankheitsbilder und Komorbiditäten

Traumatische Erlebnisse können unterschiedlichste psychische Folgen haben, die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist lediglich eine Form davon. Unter anderem wird auf folgende Störungsbilder eingegangen:

  • Verbitterungsstörungen
  • Erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel & Persönlichkeitsstörungen
  • Anhaltende Trauerstörungen
  • Dissoziative Störungen
  • Sucht
  • Psychose
  • Depression
  • Demenz
  • Schmerz

Zusätzlich wird dargestellt, wie die oben genannten Störungsbilder in den gängigen Diagnosesystemen (ICD-10 & DSM-5) operationalisiert wurden und in welcher Form sie diagnostiziert werden. Einige der hier vorgestellten Störungsbilder (z.B. traumatische Verbitterung & Trauer) sind erst seit Einführung des DSM-5 diagnostizierbar und daher Teil der oben beschriebenen Überarbeitung.

Spezifische Ereignisfolgen

Neben den zuvor beschriebenen Störungsbildern spielt es auch eine nicht unerhebliche Rolle, in welchem Kontext Menschen entsprechenden Erlebnissen ausgesetzt werden. Folgende werden skizziert:

  • Anhaltende und sexuelle und andere Gewalt
  • Arbeitsunfälle und Gewalt am Arbeitsplatz
  • Erwerbslosigkeit (als psychisches Trauma)
  • Militärische Einsätze
  • Verkehrsunfälle
  • Gefährdete Berufsgruppen
  • Häusliche Gewalt
  • Traumatische Nebenwirkungen der Psychotherapie (narzisstischer Missbrauch, Risiken & Nebenwirkungen)
  • Sexualdelikte im interdisziplinären Fokus

Traumata in der Lebensspanne

Hier wird überwiegend auf belastende Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter eingegangen. Dies ist auch sinnvoll, da frühe entsprechende Erlebnisse Auswirkungen auf den gesamten weiteren Lebensweg haben können und diese gerade im Kindesalter häufig noch nicht adäquat verarbeitet werden können. Ein Kapitel von Glaesmer, Böttche und Sierau skizziert dann abschließend die gesamte Lebensspannenperspektive.

Trauma in gesellschaftlichen, kulturellen und medizinischen Kontexten

In diesem umfassenden Abschnitt wird der gesellschaftspolitische Anspruch der Zeitschrift Trauma & Gewalt deutlich. Folgende Themen werden diskutiert:

  • Opferstereotypien
  • Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs als gesellschaftliche Perspektive
  • Großschadenslagen
  • Schwere körperliche Erkrankungen und medizinische Behandlungen
  • Traumatisierung in der Gynäkologie
  • Sexualisierte Gewalt gegen Frauen im Krieg
  • Folter
  • Flucht & Migration
  • Holocaust
  • DDR-Diktatur
  • Deutsche Kriegs- & Nachkriegsgesellschaft (1914-1960)
  • Ethische Aspekte

Interventionen

Die hier vorgestellten Interventionen gehen über die reine Traumatherapie weit hinaus. Im Grunde wird in diesem Abschnitt alles skizziert, was in der Arbeit mit traumatisierten Menschen von Relevanz ist – von Jugendhilfe, über Traumapädagogik, Notfallversorgung, Traumatherapie (im Einzel- und Gruppensetting) hin zu webbasierten Interventionen und Pharmakotherapie – im Grunde also alles von der Primär- bis hin zur Tertiärprävention. Durch die gewählten Themen wird deutlich, dass der Umgang mit diesem Thema einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag darstellt.

Schnittstellen von Psychotraumatologie und Justiz

Im abschließenden Abschnitt wird die Rolle der Justiz im Thema beleuchtet, auf die Begutachtung im Rahmen des Opferentschädigungsgesetzes erläutert und auf Traumafolgestörungen in Maßregelvollzug und Gefängnis eingegangen.

Diskussion

Dieses „Handbuch“ ist so umfassend verfasst, dass es auch im besten Wortsinne als „erschöpfend“ bezeichnet werden kann. Die Artikel wurden allesamt von herausragenden Autoren und Autorinnen verfasst; im Ergebnis liegt ein Buch vor, das in Gänze den aktuellen Stand des Wissens darstellt. Insofern ist der Begriff „Standardwerk“, mit dem auf dem Buchdeckel geworben wird, durchaus korrekt gewählt. Der Begriff „Handbuch“ führt dagegen vollkommen in die Irre. Bei einem derartigen Umfang ist es nur folgerichtig, dass einige Redundanzen auftreten. So werden beispielsweise im Kapitel von Birgit Kleim (Posttraumatische Belastungsstörung und Verhaltenstherapie) die Erklärungsmodelle nochmals alle aufgeführt, die bereits im ersten Abschnitt vorgestellt wurden. Derartige Wiederholungen sind bei so vielen Artikeln zu erwarten, stellen allerdings auch kein wirkliches Problem dar. Eventuell ist dies sogar gewünscht gewesen, da hierdurch angesichts des Umfangs des Buches immer wieder Bezug zu Vorangegangenem geschaffen werden kann. Im Detail ließen sich sicherlich auch kritische Anmerkungen finden. So könnte beispielsweise hinterfragt werden, ob Erwerbslosigkeit – wie im entsprechenden Kapitel von Rosmarie Barwinski beschrieben – als „psychisches Trauma“ bezeichnet werden kann. Das so genannte A-Kriterium einer PTBS erfüllt ein derartiges Ereignis sicher nicht, andererseits ist unbestritten, dass der Verlust des Arbeitsplatzes starke Auswirkungen auf die psychische Verfassung eines Menschen haben kann. Derartige Themen machen somit auch eine Qualität des Buches deutlich, nämlich über den Tellerrand hinauszuschauen.

Auf den ersten Blick könnte noch kritisiert werden, dass die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit einem gerade mal zehnseitigen Kapitel von Rita Rosner und Rebekka Eilers doch sehr kurz abgearbeitet wurde und hier auch nur auf die (zugegebenermaßen am besten evidenzgesicherte Trauma-fokussierte Kognitive Verhaltenstherapie nach Cohen & Mannarino) eingegangen wird. Nimmt man jedoch den oben beschriebenen Abschnitt „Trauma in der Lebensspanne“ mit in den Blick, so relativiert sich dieser Kritikpunkt.

Normalerweise liest man ein solanges Fachbuch zu einem Thema nicht in der Gänze, sondern vielmehr einzelne Artikel zu ausgewählten Themen, mit denen man sich gerade beschäftigt. Das ist hier auf jeden Fall möglich und sinnvoll; dennoch ist die Lektüre in Gänze absolut zu empfehlen, da sowohl Aufbau als auch Inhalt des Buches in sich schlüssig sind. Was ein wenig fehlt, sind zu allen Abschnitten eventuell einleitende oder zusammenfassende Kommentare der Herausgebenden, die alle Texte in einen Gesamtkontext bringen.

Fazit

Die Herausgebenden bezeichnen dieses Buch als „Handbuch“. Hierbei handelt es sich wohl um die charmanteste Untertreibung seit Langem. Dieser Begriff lässt ein kleines Westentaschenheft assoziieren, stattdessen handelt es sich um das Standardwerk zum Thema. Ob es wirklich, wie auf dem Klappentext vermerkt, ein „(…) MUSS für alle, die sich mit traumatisierten Menschen beschäftigen“ ist, bleibt mal dahingestellt. Dafür ist es im Grunde zu lang und zu teuer. Für alle, die beruflich mit diesem Thema konfrontiert sind, trifft dies auf jeden Fall zu. Da sind Zeit und Geld dann hervorragend angelegt.

Rezension von
Dr. Alexander Tewes
Instituts- und Ausbildungsleiter LAKIJU-VT (Lüneburger Ausbildungsinstitut für Kinder- und Jugendlichen-Verhaltenstherapie), Psychiatrische Klinik Lüneburg gemeinnützige GmbH im Verbund der Gesundheitsholding Lüneburg
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ISSN 2190-9245