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Mart Busche, Jutta Hartmann et al.: Heteronormativitätskritische Jugendbildung

Rezensiert von Prof. Dr. Anne-Christin Schondelmayer, 27.08.2019

Cover Mart Busche, Jutta Hartmann et al.: Heteronormativitätskritische Jugendbildung ISBN 978-3-8376-4241-4

Mart Busche, Jutta Hartmann, Tobias Nettke, Uli Streib-Brzic: Heteronormativitätskritische Jugendbildung. Reflexionen am Beispiel eines museumspädagogischen Modellprojekts. transcript (Bielefeld) 2018. 215 Seiten. ISBN 978-3-8376-4241-4. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR, CH: 36,80 sFr.
Reihe: Pädagogik.

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Thema

Das Buch stellt die Ergebnisse einer Praxisforschung zu einem museumspädagogischen Modellprojekt queerer Lebensweisen vor. Dabei werden pädagogische Ansätze, Ansprüche und Handlungen ebenso reflektiert wie das Museum als Bildungsort und Artefakte als Lernanlässe.

Autor_innen

Autor_innen sind die Forscher_innen des Praxisforschungsprojekt »VieL*Bar: Vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen in der Bildungsarbeit – Didaktische Potenziale und Herausforderungen museumspädagogischer Zugänge«:

  • Mart Busche forscht und lehrt an der Alice Salomon Hochschule Berlin und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Gewaltforschung, Intersektionalität, Gender und Queer Studies.
  • Jutta Hartmann ist Professorin für Allgemeine Pädagogik und Soziale Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin und arbeitet seit den 1990er Jahren zu Gender & Queer Studies in den Erziehungswissenschaften.
  • Tobias Nettke ist Professor für Bildung und Vermittlung in Museen an der Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin und setzt sich mit Theorie und Praxis der Museumspädagogik, Methoden der Vermittlung sowie kommunikativer Prozesse in Museen auseinander.
  • Uli Streib-Brzic ist Systemische Therapeutin und Beraterin und arbeitet im Bereich der genderreflektierenden Gewaltprävention.
  • Ellen Roters hat die Pädagogische Leitung des Jugend Museums Schöneberg und setze das Projekt »All Included. Museum und Schule gemeinsam für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt« um. Im Buch hat sie das letzte Wort.

Entstehungshintergrund

Das Forschungsprojekt VieL*Bar startete 2016 nach der Eröffnung der Werkschau „All Included“ des Jugend Museums Schöneberg und wurde im Jahr 2018 abgeschlossen. Ziel des Projektes ist es, auf einer empirischen Basis pädagogisches Handeln im Zusammenhang mit der Vielfalt geschlechtlicher und sexueller Lebensweisen zu reflektieren und damit eine Lücke zu schließen, die zwischen bildungspolitischen Forderungen und Erfahrungen der Praxis klafft. Dafür wurden in enger Zusammenarbeit mit dem Museum Inhalte der Ausstellung sowie die Art und Weise der Vermittlung erhoben.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in acht Kapitel, die jeweils von verschiedenen Autor*innen geschrieben wurden.

In den einführenden Überlegungen wird als Ausgangspunkt der Studie festgestellt, dass die Thematisierung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im schulischen und außerschulischen Bereich keine Selbstverständlichkeit sei weshalb auch handlungspraktisches Wissen fehle. Die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts wird somit als Chance begriffen, aus der Praxis Erkenntnisse für gelingende Bildungsarbeit zum Themenkomplex zu gewinnen. Dabei misst sich das Gelingen am Hintergrund der „Pädagogik vielfältiger Lebensweisen“ (Hartmann 2017) und einer partizipativen Museumspädagogik (Nettke 2018).

Im zweiten Kapitel wird auf heteronormativitätskritische Pädagogik eingegangen. Rahmen der Auseinandersetzung sind alltägliche Erfahrungen von Vielfalt, aber auch diskursive Ereignisse, in denen ‚geschlechtliche und sexuelle Vielfalt’ zu einem umkämpften Aspekt einer ‚moderne Gesellschaft’ wird und dabei vor allem das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft hervorgehoben wird. Daraus schlussfolgern die Autor_innen, dass „die Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt mit einer kritischen Reflexion von Normalitätserwartungen“ (S. 25) zu verknüpfen sei. Für die Wahrnehmung und Bewertung des Modellprojektes ergibt sich somit, dass es nicht nur um die Anerkennung verschiedener Lebensweisen geht, sondern auch darum, ob es gelingt, die normativen Grundlagen einer heteronormativen Ordnung infrage zu stellen. Weitere Ausgangspunkte für die Analyse werden aus Studien und theoretischen Ansätzen zusammengetragen, wie etwa eine kritisch zu sehende Problematisierung von LSBTIQ+-Lebensweisen, Zwänge der Vereindeutigung, Abwehrhaltungen und Ohnmachtserfahrungen. Für die Pädagogik heiße dies, so die Autor_innen, für „gesellschaftliche Verhältnisse zu sensibilisieren, die eigene Verstrickung in diese zu reflektieren und gemeinsam Schritte zu entwickeln, um verändernd tätig werden zu können“ (S. 34). Pädagogische Professionalität zeige sich einerseits in der theoretischen Fundierung der zugrundeliegenden Ansätze von Geschlecht und Sexualität, andererseits in der aktiven Auseinandersetzung mit Paradoxien und damit einer Reflexivität des eigenen Handelns.

Das dritte Kapitel geht auf Museen als Bildungsorte und die Frage ein, wie vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen Eingang in die Museumsarbeit finden. Museen werde als Orte gesellschaftlicher Verantwortung und Bildung verstanden. Aus diesem Verständnis leitet sich eine notwendige Auseinandersetzung auch mit LSBTIQ+-Lebensweisen ab, welche sich jedoch noch nicht in der Museumspädagogik widerspiegelt. Die Autor_innen konstatieren, dass diesbezügliche Ausstellungen zumeist temporär sind und bislang keine systematische Überarbeitung der Museen hinsichtlich ihrer Exponate auf LSBTIQ*-Lebensweisen stattgefunden hat. Vielmehr dominiere in Ausstellungen und Vermittlung eine Reproduktion binärer Geschlechtermodelle und heteronormativer Lesarten. Für das Lernen in Museen und mit Artefakten wird die Notwendigkeit der Interaktion und schließlich auch der Partizipation betont, welche eine multiperspektivische Auseinandersetzung mit Inhalten ermöglicht. Um derartige Praktiken an einem erfolgreichen Beispiel festzumachen, wird das Konzept des Jugend Museums Schöneberg kleinschrittig und anschaulich, auch mit Fotografien aus der Ausstellung, vorgestellt.

Das vierte Kapitel umfasst die Darstellung und Reflexion des Forschungsdesigns. Neben teilnehmenden Beobachtungen von Workshops sowie der Dokumentation der Exponate wurden 14 leitfadengestützte Interviews mit pädagogischen Professionellen geführt (Mitarbeiter_innen des Jugend Museums, Lehrer_innen, Sozialpädagog_innen) und drei Gruppendiskussionen in Workshops realisiert. In der Reflexion von Erhebung und Auswertung wird der Schwerpunkt partizipativer Arbeit und einer formativen Evaluation deutlich. Das Selbstverständnis der Forscher_innen wird als „Critical Fellows“ bezeichnet, womit u.a. regelmäßige kritische Rückmeldungen an das Pädagog_innen-Team gemeint sind. Diese Form der Rückmeldung, die auch als formative oder responsive Evaluation bezeichnet werden könnte, veranschaulichen die Autor_innen anhand eines Beispiels von Othering-Prozessen in einem Exponat und den Begründungen für die Darstellung durch die Museumsschaffenden.

Das fünfte Kapitel gibt einen ersten konkreten Einblick in die Vermittlungsarbeit im Museum. Hier wird die Struktur der Ausstellung mit ihrer räumlich-thematischen Gliederung und den antizipierten Interpretationsebenen vorgestellt, indem Lesende den Besucher_innen der Ausstellung (vornehmlich Berliner Schulklassen) sprichwörtlich folgen. Vier Bereiche der Ausstellung werden ausführlich dargestellt (Think outside the box, Gendermarketing, Trans*-Menschen und Queer Fashion). Diese umfassen zum einen detaillierte Beschreibungen der Exponate und Aufforderungen an die Besucher_innen, zum anderen eine Darlegung der didaktischen Konzepte sowie Erfahrungsberichte über den Umgang von Schüler_innen damit. Daran schließt sich jeweils eine Reflexion zur Weiterentwicklung der Stationen an.

Im sechsten Kapitel erfolgt die Analyse der Interviews, Beobachtungen und Gruppendiskussion hinsichtlich der Fragestellungen, welche Gelingensbedingungen und welche Herausforderungen in der Vermittlung von queeren Lebensweisen im Museum auszumachen sind. Dazu werden die Aussagen der Befragten inhaltlich zusammengetragen und geclustert. Zum Gelingen – welches u.a. an Interesse und Neugier der Adressat_innen festgemacht wird – tragen ein offener Kommunikationsraum, anschlussfähige Themen und ein guter Umgang mit beschränkter Zeit bei. Als Herausforderungen werden Vertrauensaufbau und der Umgang mit festgefahrenen Denkweisen genannt. Ausführlich werden auch Abwehrverhalten bei Kindern und Jugendlichen sowie die Bedeutung sozialer Differenzen und Positionierungen im Vermittlungsprozess analysiert. Ein Unterkapitel widmet sich den Auseinandersetzungen der pädagogischen Fachkräfte im Museum mit sich selbst und im Team. Die eigenen Wissensbestände, Ansprüche und die Vermittlungstätigkeit werden von ihnen teils in einem Spannungsverhältnis erlebt.

Im siebten Kapitel resümieren die Forscher_innen, dass es „schwieriger ist, als es auf den ersten Blick erscheint, den Topos ‚geschlechtliche und sexuelle Vielfalt’ pädagogisch umzusetzen, ohne entgegen besserer Absichten heteronormative Mechanismen zu reproduzieren“ (S. 177). Aus den Analysen und Reflexionen leiten sie zum einen ab, dass diese Herausforderungen paradigmatisch für die Vermittlung von queeren Lebensweisen sind. Zum anderen erarbeiten sie acht konkrete Vorschläge für eine heteronormativitätskritische Bildungsarbeit.

Im letzten, dem achten Kapitel schreibt eine der Beforschten, die Leiterin des Jugend Museums, über das Forschungsprojekt und die Zusammenarbeit und macht deutlich, dass diese dann erfolgreich ist, wenn sie von gegenseitiger Wertschätzung und einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse sowie Vertrauen geprägt ist.

Diskussion

In „Heteronormativitätskritische Jugendbildung. Reflexionen am Beispiel eines museumspädagogischen Modellprojekts“ geben die Autor_innen einen gut nachvollziehbaren Einblick in das museumspädagogische Modellprojekt »All Included« und in die wissenschaftliche Begleitung sowie Reflexion.

Das Buch besticht durch seine Nähe zum Gegenstand und eine intensive Bemühung um Nachvollziehbarkeit und Reflexivität, sodass es den Leser_innen ein Musterbeispiel wissenschaftlicher Begleitung und Praxisreflexion bietet. Der normative Anspruch und die Positionierung der Forscher_innen werden explizit gemacht. Ziel des Buchs, aber auch des Projektes selbst, ist eine kritische Reflexion mit (museums)pädagogischen Ansätzen speziell zu LSBTIQ+-Lebensweisen. Das Buch bietet den Leser_innen Anregungen, Wissen und Handlungsempfehlungen, die direkt aus empirischen Erkenntnissen entspringen und damit direkt aus der Praxis stammen. Dies ist insofern erfrischend, als dass nicht allein normative Ansprüche formuliert werden, die im alltäglichen Umgang nur schwer umgesetzt werden können und alle Beteiligten frustrieren.

Die Perspektiven und Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen haben hingegen nur vermittelt Eingang in das Buch gefunden haben und hinterlassen eine gewisse Leerstelle. Dies ist im Forschungsdesign zwar nachvollziehbar und mag das Material und die Analyseperspektive übersichtlich halten, dennoch wäre es im Sinne einer Multiperspektivität und Partizipation sicherlich aufschlussreich gewesen. Überhaupt wäre es interessant, adoleszenzspezifische Überlegungen und Erkenntnisse in die Arbeit mit Jugendlichen einfließen zu lassen. Wie Artefakte, Stationen, das Agieren der Kinder als auch Jugendlichen und das Intervenieren seitens pädagogischer Fachkräfte zusammenwirken, bleibt daher an mancher Stelle analytisch etwas dünn. Für Anschlussprojekte ergeben sich hier lerntheoretische Fragestellungen, die empirisch zu untersuchen sind. Was die Adressat_innen des Buchs betrifft, ist zu konstatieren, dass die Verständlichkeit in den einzelnen Kapiteln stark divergiert und unterschiedliches Vorwissen voraussetzt. Während etwa Kapitel zwei sich eher an Fachkolleg*innen und Personen richtet, die sich bereits mit Heteronormativitätskritik auseinandergesetzt haben, sind andere Kapitel auch ohne ein solches Wissen verständlich.

Letztlich ist es nachvollziehbar, dass aufgrund aktueller politischer Diskussionen vor allem das Thema „Migrationsgesellschaft“ herangezogen wird, um macht- und herrschaftskritisch an das Material heranzugehen, was auch das empirische Material selbst nahelegt; demgegenüber bleiben jedoch andere Formen sozialer Ungleichheit – im Sinne einer intersektionalen Analyse -etwas unterbelichtet.

Fazit

Das Buch bietet eine, sonst eher seltene, Reflexion eines Praxisprojektes und verbindet damit wissenschaftlichen Anspruch und Weiterentwicklung von Ansätzen, Reflexionen und Handlungsfähigkeiten anhand eines konkreten Gegenstands. Dass queere Lebensweisen – auch in außerschulischen und informellen Lernanlässen – nicht ohne Weiteres vermittelt werden können, zeigt sich in der Praxis selbst. Dennoch bieten die empirischen Analysen Vorschläge für eine gelingende Praxis.

Literatur

Hartmann, Jutta (2017): Perspektiven queerer Bildungsarbeit. In: Behrens, Christoph/ Zittlau, Andrea (Hg.): Queer-Feministische Perspektiven auf Wissen(schaft). Interdisziplinäre Rostocker Gender und Queer Studies, Band 1, S. 158–181, unter: https://www.genderopen.de/handle/25595/286 (14.07.2019).

Nettke, Tobias (2018): Partizipation in Museen. Einblicke in Theorie und Praxis aus Sicht der Hochschullehre. In: Standbein Spielbein. Museumspädagogik aktuell, 109, S. 29–38.

Rezension von
Prof. Dr. Anne-Christin Schondelmayer
Dipl. Päd., Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Heterogenität
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Es gibt 1 Rezension von Anne-Christin Schondelmayer.

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ISSN 2190-9245