Florian Hinken: Zusammenarbeit in der Jugendhilfe-Infrastruktur
Rezensiert von Prof.in Dr. Jennifer Hübner, 06.11.2019

Florian Hinken: Zusammenarbeit in der Jugendhilfe-Infrastruktur. Freie Träger in und zwischen Jugendhilfeausschüssen, Arbeitsgemeinschaften und Jugendhilfeplanung. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 236 Seiten. ISBN 978-3-7799-6078-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Die in dem Buch veröffentlichte Dissertation von Florian Hinken stellt eine empirische Untersuchung zur Deutschen Kinder- und Jugendhilfe in den Fokus und fragt nach der Zusammenarbeit von öffentlicher und freier Jugendhilfe auf kommunaler Ebene. Konkret interessiert sich der Autor für drei im achten Sozialgesetzbuch aufgeworfene „formelle“ Instrumente und widmet sich darüber hinaus den informellen Kooperationszusammenhängen der beteiligten Aktant*innen.
Autor
Florian Hinken ist Geschäftsführer im Elisabethstift – Jugendhilfe der Diakonie – gGmbH. Das hier zensierte Buch entspricht seiner Dissertation am Fachbereich 1 der Universität Hildesheim aus dem Jahr 2018.
Aufbau
Seine Arbeit unterteilt Florian Hinken in sieben verschiedene Gliederungspunkte, die sukzessive aufeinander aufbauen. Nach der Einleitung (Punkt 1) rahmt Hinken seine Untersuchung durch die für ihn relevanten Begrifflichkeiten (Punkt 2) „Sozialstaatliche Wohlfahrstaatlichkeit“, die daran beteiligten „Akteure“ und „Sozialwirtschaft“, welche er als gemeinsame Klammer der daran anschließenden Kapitel positioniert.
Die Abschnitte drei bis fünf befassen sich mit für Empirische Forschung gängigen Prämissen eines Untersuchungsdesigns: Operationalisiert Hinken unter „Ausgangslage und Forschungsstand: Strukturelle Einflussmöglichkeiten freier Träger auf die Gestaltung von Jugendhilfe-Infrastrukturen“ (Punkt 3) die drei zentralen Untersuchungsgegenstände Jugendhilfeplanung, Jugendhilfeausschuss und Arbeitsgemeinschaft; stellt er ihnen seine Überlegungen zur grundsätzlichen Zusammenarbeit von Organisationen einschließlich ihrer besonderen Bedeutung in der Kinder- und Jugendhilfe im selbigen Kapitel voran.
Das fünfte Kapitel nutzt Hinken zur Elaboration seiner heuristischen Rahmung. Neben Ausführungen zu Governance und Netzwerkstrukturen, werden hier vor allem die Forschungsfragen und Hypothesen des Autors stark gemacht (Punkt 4). Diese sind vor allem deswegen hervorzuheben, weil sie im sechsten Kapitel durch Angaben zu ihrer Veri- oder Falzifizierung besonders prominent werden. Schließlich entwirft Hinken seine konkrete Forschungsmethodik (Punkt 5) und lässt die Lesenden in seinen Untersuchungsplan samt Fragebogenkonstruktion und Sampling hineintauchen. Seine Ergebnisse, also die zentrale Pointe der Arbeit, stellt Hinken im sechsten Kapitel vor (Punkt 6). Der letzte Abschnitt beschäftigt sich standardgemäß mit einer resümierenden Diskussion und einem Fazit (Punkt 7) zur Gesamterhebung. Insgesamt ergeben sich also folgende Teilbereiche:
- Einleitung
- Rahmung: Wohlfahrtsproduktion in der Kinder- und Jugendhilfe
- Ausgangslage und Forschungsstand: Strukturelle Einflussmöglichkeiten freier Träger auf die Gestaltung von Jugendhilfe-Infrastrukturen
- Theoretischer Zugang und Forschungsperspektive
- Anlage und Methodik der Untersuchung
- Empirische Ergebnisse: Zusammenarbeit und Jugendhilfe-Infrastrukturgestaltung
- Diskussion und Resümee
Inhalt
„Wohlfahrtstaatlichkeit im Sozialstaat“ nimmt in der Arbeit einen bedeutsamen Stellenwert ein und fungiert zugleich als mitunter wichtigste Rahmung der gesamten Untersuchung. Das Sozialstaatsprinzip ist für Hinken dabei nicht nur normativ, sondern verlangt dem Staat spezifische Verpflichtungen ab; die einerseits für wirtschaftliche Sicherheit, Gerechtigkeit und Freiheit sorgen; andererseits aber auch grundsätzlich zur Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens beitragen sollen. Diskutiert werden entlang dieser definitorischen Leistung die beiden Maxime Leit- (Solidarprinzip, Personalitätsprinzip, Äquivalenzprinzip, Subsidiaritätsprinzip) und Strukturprinzipien (Versicherungsprinzip, Versorgungsprinzip, Fürsorgeprinzip), an denen sich die Konstruktion Sozialstaat darstellt bzw. Hinken zufolge vollzieht. Mit Verweis auf die Ausdeutung verschiedener Wissenschaftler*innen – etwa Josef Schmid oder Christoph Butterwegge – führt Hinken in den ausdifferenzierten Politiksystem-Begriff der Wohlfahrtsstaatlichkeit ein, welche „soziale Sicherheit durch staatliche Regelungen ermöglicht“ und durch Mechanismen der Sozial- und Wirtschaftspolitik determiniert werden. Abgeschlossen wird die semantische Offenlegung der Begriffe durch die Abbildung ihrer Bedeutung für das individuelle Subjekt der Gesellschaft. Ihr zufolge ergeben sich aus den dargestellten Prinzipien personenbezogene Rechtsansprüche, etwa zur Absicherung gegen etwaige Risiken. Der/die Bürger*in darf also durchaus auf sozialpolitische (also rechtliche, ökonomische, ökologische und pädagogische) Interventionsformen (Kaufmann, 2005) vertrauen, wenngleich diese die konkrete „Ausgestaltung von sozialer Sicherung“ andernfalls auch bestimmen.
Unter Wohlfahrtsproduktion versteht der Autor das Zusammenspiel von „verschiedenen Akteuren auf unterschiedlichen Ebenen […], deren gemeinsames Ziel es ist, im Zusammenwirken Wohlfahrt auszugestalten.“ Die personenbezogene und personenunabhängige Produktion rekurriert sowohl auf den Prozess, als auch deren Ergebnis, sowie deren interdisziplinäres Zusammenspiel. Florian Hinken benennt darauffolgend die am Wohlfahrtstaat beteiligten Akteure, leitet diese historisch her und ordnet Sozialverwaltung, freie Wohlfahrtspflege, Jugendverbände und private Träger in aktuelle, auch jugendhilfebezogene Diskurse ein.
In seinem Beitrag zur „Finanzierung der freien Kinder- und Jugendhilfe“ kommt Hinken erstmalig auf das sozialrechtliche Dreiecksverhältnis zu sprechen, welches Potenziale und Herausforderungen für die Kinder- und Jugendhilfe herausstellen soll (siehe auch 2.3 Sozialwirtschaft als Handlungsrahmen). Die Kombination der Akteure als gemeinsames Wohlfahrtsarrangement ist dabei ein „Zusammenwirken der verschiedenen Trägersysteme auf […] strukturgestaltenden und administrativen Ebene […], wodurch“ die „personenbezogenen Wohlfahrtsproduktion gerahmt wird.“
Die normative Rahmung wird im Anschluss daran auf den Untersuchungsgegenstand, also die drei konkreten Jugendhilfeinstrumente (Wohlfahrtarrangements) angewendet. Der Jugendhilfeausschuss nach § 71 SGB VIII, die Arbeitsgemeinschaft nach § 78 SGB VIII und die Jugendhilfeplanung gemäß § 80 SGB VIII werden dabei sowohl solitär als auch dialektisch aufbereitet und entlang rechtlicher Grundlagen als auch durch Verweise auf bekannte Wissenschaftler*innen wie Mike Seckinger (Deutsches Jugendinstitut), empirische Forschungsergebnisse und die Darstellung derzeitiger Praxen kontrovers, auch im Hinblick auf Abgrenzung, Überlappung und Zusammenarbeit von öffentlicher und freier Jugendhilfe, diskutiert.
In den theoretischen Mittelpunkt seiner Arbeit stellt Florian Hinken den Begriff der Governance-Perspektive, hier verstanden als „Wechselspiel von Hierarchie, Mark und Netzwerk“ entlang der Jugendhilfe. In Anlehnung an ein Modell von Adalbert Evers und Birgit Riedel erläutert Hinken die an dem Erbringen von Sozialen Diensten beteiligten Aktanten 1.) Staat und Kommunen, 2.) Markt und 3.) Netzwerke und Akteure der Zivilgesellschaft. Abermals werden die für die Arbeit relevanten Netzwerkstrukturen markiert. Steht „die Analyse von Kooperationen, Koalitionen, Aushandlungs- und Interdependenzprozessen der verschiedenen Wohlfahrtsproduzenten im Fokus“, ist die Governance-Perspektive besonders geeignet, um deren Verflechtungen und Abhängigkeiten herauszustellen. Die Arbeit mit dem Begriff „Policy-Netzwerk“ ermöglicht eine Forschungsperspektive, die von freiwilliger Zugehörigkeit und Mitarbeit ausgeht und das „größtmögliche Wohlergehen der AdressatInnnen“ (Grundwald, Roß, 2014) in den Fokus von Zusammenarbeit stellt.
Hinken stellt zwei empirische Leitfragen für seine Untersuchung heraus:
- Forschungsfrage 1: „Welchen Einfluss haben formelle und informelle Kooperationszusammenhänge auf die Mitgestaltungsmöglichkeiten freier Träger in Jugendhilfeausschüssen, Arbeitsgemeinschaften gem. § 78 SGB VIII in Prozessen der Jugendhilfeplanung?“
- Forschungsfrage 2: „Bestehen Zusammenhänge zwischen Kooperations-/​Konkurrenzzusammenhängen, finanziellen Abhängigkeiten und Einflussmöglichkeiten in der Jugendhilfe-Infrastruktur?“
Um eine möglichst breite Teilnahme einerseits und einer stärkeren Stichprobenumfang andererseits zu generieren, wurde sich in der Arbeit für eine Online-Befragung entschieden. Zur Auswertung des Materials konnten daher 317 Datensätze aus allen 16 Bundesländern genutzt werden. Die zentralen Ergebnisse seiner Arbeit finden ihre Darstellung auf den Seiten 153 bis 182.
Hypothese 1: „Je mehr Strong Ties in informellen Netzwerken der freien Jugendhilfe bestehen, desto größer sind auch die Möglichkeiten der Einflussnahme in den jeweiligen Events.“
Im Rahmen der Untersuchung konnte diese Hypothese nur partielle Bestätigung finden. Arbeiten freie Träger vor allem mit Organisationen ihresgleiches zusammen, ist ein entscheidendes Kriterium für die Zusammenarbeit von Akteuren eine ähnliche, also gemeinsame fachliche Haltung. Inhalte offizieller Gremien werden in informellen Zusammenkünften nur von Fall zu Fall thematisiert. Die „Häufigkeit informeller Treffen hat“ dabei „keinen signifikanten Einfluss auf die Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Jugendhilfe-Infrastruktur.“
Hypothese 2: „Je mehr Strong Ties in den formellen Kooperations- und Konkurrenzzusammenhängen bestehen, desto höher sind die Möglichkeiten der Einflussnahme in den jeweiligen Events.“[1]
Die Untersuchung zeigt einen linearen Zusammenhang „zwischen einem gemeinsamen Interesse freier Träger“ und ihrer „Beteiligung an der Entwicklung des Planungsverlaufs, […] der Bestandsfeststellung, […] der Bedarfsermittlung und […] der Reflexion von Planungsergebnissen.“ Den Ergebnissen zufolge geht ein gemeinsames Interesse von freien Trägern an der Umsetzung von Zielstellungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes mit einer als hoch wahrgenommen Transparenz bzgl. der Implementierung von Planungsergebnissen einher.
Hypothese 3: „Je näher der einzelne freie Träger mit dem öffentlichen Träger in Verbindung steht, desto höher sind seine Möglichkeiten der Einflussnahme in den jeweiligen Events.“
Die dritte Hypothese wird durch die Untersuchung großflächig verifiziert. Die wichtigste Einflussgröße bei der Mitgestaltung ist aus Sicht der freien Träger der Einbezug in die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe vor Ort. Darüber hinaus bedeutet ein höherer Informationsstand der freien Träger eine als besser wahrgenommene Möglichkeit Einflüsse auf den Jugendhilfeausschuss, die Arbeitsgemeinschaft oder die Jugendhilfeplanung auszuüben. Auch kritische Äußerungen der freien Träger gegenüber der öffentlichen Kommune tun der Bestätigung diese Hypothese keinen Abbruch.
Hypothese 4: „Je sicherer ein freier Träger seine Existenz einschätzt, desto besser nimmt er Möglichkeiten der Einflussnahme wahr.“
Die Untersuchung zeigt, dass sich entgeltfinanzierte Einrichtungen und Träger finanziell sicherer als pauschalfinanzierte Einrichtungen und Träger einschätzen. Die Hypothese bzgl. des Zusammenhangs zwischen finanzieller Sicherheit und einer Einflussnahme von freien Trägern findet keine Bestätigung.
In seinem Resümee fasst Florian Hinken die zentralen Ergebnisse seiner Untersuchung noch einmal zusammen und verknüpft diese mit der empirischen Forschungslandschaft. Deutlich wird hier, dass auch privat-gewerbliche Träger eine indes wichtige Rolle in der Jugendhilfe-Infrastruktur einnehmen. Unterstrichen wird darüber hinaus die Dreh- und Angelpunkt-Position der öffentlichen Jugendhilfe, die in ihrer Rolle die Wohlfahrtarrangements zwar dominiert, die Träger der Jugendhilfe von ihrer Selbstverpflichtung zur aktiven Mitarbeit jedoch nicht befreit. Der Jugendhilfeausschuss nimmt als Beteiligungsmöglichkeit die exponierteste Stellung ein. Uneindeutig bleibt die Einschätzung, ob die am Jugendhilfeausschuss konkret beteiligten Träger von ihrer Multiplikatorenfunktion Gebrauch machen. Untersuchungen zu den Arbeitsgemeinschaften nach § 78 SGB VIII sind in Deutschland bislang nicht nur wenig fundiert; auch diese Arbeit kann keinen wesentlichen Beitrag zu deren empirischen Fundierung leisten. Die Praxen der Jugendhilfeplanung wiederum präsentieren sich sowohl während der Planungskonzeption als auch ihrer Umsetzung, wie diese und andere empirische Befunde zeigen, sehr heterogen.
Schließlich stellt der Autor in seinem Werk heraus, dass „die Stärke der Steuerungsformen Hierarchie in den Wohlfahrtarrangements durch die öffentlichen Träger“ zwar „vorgegeben wird. Die Steuerungsform Markt“ jedoch von verschiedenen Gesichtspunkten abhängt. „Auf die Steuerungsform Netzwerk […] können freie Träger einen großen Einfluss nehmen.“
Fazit
Die Arbeit von Florian Hinken gibt einen fundierten, vor allem empirischen Überblick über drei relevante Einflussmöglichkeiten der Deutschen Kinder- und Jugendhilfe und deren interdisziplinäre Verzahnung. Unter der theoretischen governance-netzwerkstrukturorientierten Rahmung werden diese nicht nur durch die Elaboration historischer Bezüge und aktuelle Diskurse diskutiert, sondern mithilfe eines quantitativen Befragungsformates auf ihre Anwendung und Nutzung hin umfangreich überprüft. Geht der Autor des Werks in seiner Rahmung zur Wohlfahrtsproduktion zwar punktuell auf inhaltliche Aspekte der Jugendhilfe ein, stellt die Gesamtarbeit jedoch grundsätzlich die Betrachtung von Strukturen und nicht die Perspektive der Adressat*innenschaft in den Fokus.
Mit seinem Werk stärkt Florian Hinken die Selbstverpflichtung der Träger, sich in die Ausgestaltung der Jugendhilfe-Infrastruktur einzubringen und wirkt gewissermaßen appellativ, von dieser Möglichkeit verstärkt auch jugendpolitisch Gebrauch zu machen.
Es bleibt zu hoffen, dass Wissenschaftler*innen diese und ähnliche Arbeiten zum Anlass nehmen, ein zunehmendes Interesse an der Analyse von Strukturdeterminanten der Kinder- und Jugendhilfe zu entwickeln und dieser im größeren Rahmen als bislang Rechnung zu tragen. Richtet sich das überwiegende Interesse der Disziplin doch vor allem an die konkrete Praxis, nehmen Untersuchungen – wie Florian Hinken sie implementiert hat – noch immer eine Randposition in der deutschen Forschungslandschaft ein.
Das Buch bietet Studierenden der Sozialen Arbeit und Kindheitspädagogik einen soliden Überblick, die Steuerung von Kinder- und Jugendhilfe unter der maßgeblichen Beteiligung von freier Trägerschaft verstehen und reflektieren zu lernen.
[1] Evens: Jugendhilfeausschuss, Arbeitsgemeinschaft oder Jugendhilfeplanung.
Rezension von
Prof.in Dr. Jennifer Hübner
Professorin für Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit an der katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln.
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