Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu
Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 26.06.2019
Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht.
transcript
(Bielefeld) 2019.
104 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4786-0.
D: 19,99 EUR,
A: 19,99 EUR,
CH: 25,30 sFr.
Reihe: Sozialtheorie.
Thema
Pierre Bourdieu, den weltweit überaus bekannten französischen Soziologen, der 2002 verstarb, braucht man nicht vorzustellen. Während seine unzähligen Texte in einer nicht leicht verständlichen Sprache abgefasst sind, versuchen recht viele Einführungen, in sein Denken einzuführen. Bislang fehlte jedoch eine Beschreibung von Bourdieus Wirken im Alltag. Diese Lücke füllt nun Franz Schultheis mit einem kurzen Erfahrungsbericht.
Autor
Franz Schultheis ist nach seiner Emeritierung als Soziologie-Professor an der Universität St. Gallen Seniorprofessor für Soziologie der Kunst und Kreativarbeit an der Zeppelin-Universität Friedrichshafen. Er wirkt auch als Mitherausgeber der vierzehn-bändigen „Gesammelten Schriften“ Bourdieus im Suhrkamp-Verlag.
Aufbau
Das Buch enthält folgende neun Kapitel:
- Wofür steht der Name Bourdieu?
- In der Lehr-Werkstatt
- Forschen mit Bourdieu
- Soziologie publizieren. Bourdieu als Herausgeber
- Öffentlicher Auftritt
- Raisons d’agir. Bourdieu als Leitfigur der „Gauche de la Gauche“
- Das Projekt „Für einen Raum der Europäischen Sozialwissenschaften“
- Die Fondation Pierre Bourdieu
- Bilanz. Was bleibt?
Inhalt
Schultheis‘ Buch „Unternehmen Bourdieu“ setzt mit einem überraschenden Zitat ein: „Ich kann sagen, dass ich wohl derjenige bin, der am beharrlichsten versucht hat, Kollektives zu schaffen und damit auch am meisten gescheitert ist“. Bourdieu äußerte diese Worte ein halbes Jahr vor seinem Tod an einer Tagung in Cerisy-la-Salle. Sie dienen Schultheis als Leitmotiv für seinen Bericht. Er nimmt sich vor darzustellen, „wie und warum die Idee, bzw. die ‚Realutopie‘, wie Bourdieu zu sagen pflegte, eines ‚kollektiven Intellektuellen‘ von solch enormer Bedeutung für sein wissenschaftliches und politisches Wirken werden konnte und welches spezifische intellektuelle Ethos sich in ihr spiegelt. Gleichzeitig geht es auch darum, die Gründe des Scheiterns dieser Idee nachvollziehbar zu machen“ (S. 7).
Bereits im ersten Kapitel kritisiert Schultheis eine wissenschaftliche „Rezeptionslogik (…), die weiter dazu tendiert, singulären Genies zu huldigen“ (S. 10). Sie vermag dem unablässigen Versuch der Bildung eines kollektiven Intellektuellen nicht gerecht zu werden. Der Autor, der den Beginn seiner Freundschaft mit Bourdieu auf 1986 datiert, nennt dabei vier wichtige Elemente, auf die er immer wieder zurückkommt:
- die 1975 gegründete Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales, das „Flaggschiff des sozialwissenschaftlichen Kollektivs rund um Bourdieu“ (S. 11);
- Liber, „Bourdieus Realutopie eines ‚internationalen kollektiven Intellektuellen‘“ (ebd.);
- Vorlesungen am Collège de France ab 1980;
- sowie die Forschungsseminare an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (EHESS).
Sprachbarrieren behindern die deutsche Rezeption maßgeblich. „Ähnlich wie die visuelle Soziologie Bourdieus aus den Zeiten seiner ethnographischen Feldforschungen in Algerien wurde der Umstand, dass der Name Bourdieu von Anfang an für ein kollektives Unternehmen mit einer Vielzahl von Akteuren in wechselnder Zusammensetzung stand, bei der Rezeption bis weit nach seinem Tod weitgehend ignoriert“ (S. 12) – Schultheis machte sich hinsichtlich des Frühwerks schon verdient mit seinem Buch „Bourdieus Wege in die Soziologie“ von 2007 sowie der gemeinsam mit Christine Frisinghelli 2003 realisierten Herausgabe von Bourdieus „In Algerien – Zeugnisse der Entwurzelung“, der Sammlung von Bourdieus Fotografien von seinen Forschungen zwischen 1956 und 1961. Abgesehen von Luc Boltanski und Robert Castel bleiben dem breiteren sozialwissenschaftlich interessierten Publikum die Namen der meisten am Kollektiv Beteiligten unbekannt. Schultheis zeigt sich davon überrascht, da es sich bei Bourdieu eben „um einen Forscher handelt, der über mehr als vier Jahrzehnte seine Theorie der sozialen Welt aus der empirischen Feldforschung in enger Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden und Kolleginnen heraus entfaltete“ (S. 13). Bourdieus Alltag hat man sich folgendermaßen vorzustellen: „Tagsüber war er, von den Wochenenden und Ferien mal abgesehen, ein unablässig in soziale Prozesse und Konstellationen eingebundener Kommunikator (…). Zum Verfassen seiner zahlreichen Publikationen kam er erst, wenn er sich nach Hause an den Schreibtisch zurückzog und bis tief in die Nacht intensiv arbeitete“ (ebd.). Seine Rolle ist jene des „‘Patron‘ eines Kleinunternehmens, einer soziologischen Forschungswerkstatt“ (S. 14), eine Rolle, die mit viel symbolischem Kapital verknüpft ist. „Wo eine solche Fülle symbolischen Kapitals in einer Person inkarniert ist, lassen sich Erfahrungen symbolischer Gewalt und Verletzung wohl kaum vermeiden: Auch Bourdieus beachtliche Verlustrate an engen Mitarbeitern über die Jahre verweist auf diese besondere sozialpsychologische Problematik“ (S. 14). Viel deutlicher als in diesen Zeilen wird Schultheis auch an den wenigen anderen Stellen in seinem Buch nicht, wo er Kritik streift, die an Bourdieu nicht selten angebracht wurde, etwa an seinem angeblich autoritären Führungsstil oder der Neigung, die Leistung zudienender Mitarbeitender zu verschweigen. Das Ideal einer Assoziation auf Augenhöhe war wohl immer schon illusorisch.
Das zweite Kapitel berichtet aus Bourdieus Forschungsseminaren im Maison des Sciences de l’Homme am Boulevard Raspail in Paris – an solchen nahm der Rezensent 1998 selber während einiger Monate teil. „Seine Aversion gegen intellektuelle Selbstinszenierung, empirieferne theoretische Höhenflüge und konkurrenzorientiertes Gehabe, aber auch die ihm eigene Zurückhaltung und Bescheidenheit wurden zum kollektiven Stil“ (S. 20). Schultheis hebt hierbei die unübliche Pädagogik hervor: „Wie Bourdieu selbst festhielt, orientierte sich sein pädagogischer Stil mehr am Modell eines Sport-Trainers, der seiner ‚Mannschaft‘ sein über lange Jahre inkorporiertes Erfahrungswissen ‚in Aktion‘ vor Augen führt und für die eigene Praxis anwendbar macht“ (S. 22). Der Charakter – so ein anderer Vergleich – ähnlich einer Werkstatt von Renaissance-Künstlern kontrastierte völlig mit seinen Vorlesungen am Collège de France. Bereits Tage vor diesen konnte Bourdieu kaum noch schlafen, gestand er einmal Schultheis. Von diesen Vorlesungen wurden bisher folgende publiziert:
- Sociologie générale, vol. 1 (1981–1983) (2015)
- Sociologie générale, vol. 2 (1983–1986) (2016)
- Sur l'état (1989–1992) (2012, dtsch. 2014)
- Anthropologie économique (1992–1993) (2017)
- Manet. Une révolution symbolique (1998–2000) (2013, dtsch. 2015)
- Science de la science et réflexivité (2000–2001) (2001)
Das kennzeichnende pädagogische Ethos stammt laut Schultheis schon aus der Zeit in den frühen fünfziger Jahren, als Bourdieu als Gymnasiallehrer für Philosophie tätig war – und von der Schülerschaft wegen seiner Initialen „Pablo“ genannt wurde. Es floss auch in das mit Chamboredon und Passeron geschriebene Werk „Der Beruf des Soziologen“ von 1968 ein; die drei Autoren zerstritten sich allerdings später.
Vielleicht ist „Das Elend der Welt“ jenes Werk Bourdieus, das im Kontext der Sozialen Arbeit am meisten Beachtung gefunden hat. Es erschien 1993 auf Französisch (1997 in deutscher Übersetzung) und sollte, wie das dritte Kapitel zeigt, ein Werk des kollektiven Intellektuellen sein. Bourdieu konnte aus dem Reservoir der Autorinnen und Autoren der Actes de la Recherche en Sciences Sociales schöpfen. „Letztlich wurden weniger als die Hälfte der vorgelegten Interviews und soziologischen Kommentierungen für geeignet befunden. (…) Interessanterweise waren es ausgerechnet die im akademischen Betrieb arriviertesten Mitglieder des Teams, deren Beiträge besonders oft aussortiert wurden. Die besten Beiträge wurden nach Meinung Bourdieus von weiblichen Mitarbeitenden geliefert und in einem Fall obendrein noch von einer administrativen Angestellten des Centre ohne soziologische Ausbildung“ (S. 32). Bourdieu sagt Schultheis einmal, die Arbeit an diesem Werk forderte ihn in seiner gesamten Laufbahn am meisten heraus.
Schultheis fragt sich dabei, ob die Rede vom kollektiven Intellektuellen vielleicht gar nur beschönige, und findet, „dass Bourdieus Konzept des ‚kollektiven Intellektuellen‘ nicht unterstellen will, dass alle sozialen Rollen- und Statusunterschiede, dass jedwede Differenz im Erfahrungsreichtum und den intellektuellen Ressourcen einfach ausgeschaltet und vergessen werden können. (…) Der Dirigent orchestriert die Vielzahl unterschiedlicher Expertisen zu einem harmonischen Gesamtklang, zu einem Werk, an dem er zwar maßgeblichen, aber nicht alleinigen Anteil hat“ (S. 33). Schultheis stellt angesichts dieser Kompetenzenverteilung keine besondere Problematisierung seitens der rund zwanzig Mitarbeitenden fest, aber davon wird zuweilen auch anders berichtet (z.B. www.srf.ch/sendungen/reflexe/pierre-bourdieu-popstar-der-soziologie; Bourdieu-Handbuch S. 402). In Deutschland wurde durch die knapp 850-seitige Übersetzung des Gemeinschaftswerks „Gesellschaft mit begrenzter Haftung“ von Franz Schultheis und Kristina Schulz angeregt, in der Schweiz „Das Ende der Gemütlichkeit“ von Claudia Honegger und Marianne Rychner. Der große Erfolg von „La Misère du Monde“ ließ ein internationales Netzwerk entstehen und motivierte zur Beteiligung am Fünften Programm für Forschung und technologische Entwicklung der EU. Als Themen wurden einerseits die Prekarität der Jugend in Europa und andererseits neue Formen der Regulierung von Devianz gewählt. „Die beiden TSER-Projekte fielen in die Zeit eines starken politischen Engagements. Gerade diese jüngeren Forscherinnen und Forscher waren deutlich mehr in Bourdieus Initiativen zur Mobilisierung und Verknüpfung unterschiedlicher sozialer Bewegungen rund um Raisons d’agir engagiert als die älteren, arrivierten Mitglieder des Kreises“ (S. 38).
Schultheis bemerkt zu den zwei Projekten, „dass sie mit einem eher mediokren Output an Ergebnissen und Publikationen endeten, was Bourdieu selbst angesichts der doch beachtlichen finanziellen Mittel aus Brüssel nachhaltig ärgerte“ (S. 40). Zwar erschienen durchaus Artikel, zum Beispiel in den Actes. „Die Gesamtbilanz blieb aber weit unter Bourdieus Erwartungen und trug zu einer spürbaren ‚Entzauberung‘ der Idee des ‚kollektiven Intellektuellen‘ bei, die sich auch im Engagement rund um Raison d’agir und die verschiedenen involvierten sozialen Bewegungen zeigen sollte. Hier bleibt zu bemerken, dass Bourdieu in dieser Spätphase seines Lebens an zu vielen Fronten gleichzeitig kämpfte. (…) Wie in Fellinis Film ‚Prova d’Orchestra‘ brach ohne den Dirigenten immer wieder Anarchie aus“ (S. 41). In kleinerem Kreis wurde denn drei Jahre später noch ein Forschungsprojekt zum Vergleich nationaler Bildungssysteme konzipiert. Bourdieus Tod verhinderte dessen Realisierung.
Im vierten Kapitel behandelt Schultheis die Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales, die Buchrevue Liber und Raisons d’agir, um Bourdieu als Herausgeber zu charakterisieren. Die Actes entstanden 1975 in enger Zusammenarbeit mit Luc Boltanski, Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron. Bourdieu wirkte als Direktor, (Mit-)Gründer und sogar Eigentümer. „Actes steht für das systematische Experimentieren mit unterschiedlichen Darstellungsformen, Gattungen, Stilelementen und Techniken. In der Kombination von Text, Photographie, Grafik, synoptischen Diagrammen, Quellenzitaten und Datenvisualisierungen trug die Zeitschrift maßgeblich zur Erneuerung des gängigen Repertoires sozialwissenschaftlicher Textproduktion bei. (…) Bourdieus Konzept des ‚kollektiven Intellektuellen‘ fand in Actes von Beginn an seine materielle Grundlage“ (S. 49 f.). Die Arbeit an der Zeitschrift fördert Bourdieus Reflexivität. Schultheis berichtet auch vom „langwierigen Basteln des Layouts“, das eben von Hand erstellt wurde. Obwohl Bourdieu selber oft in den Actes publizierte und mit seinen Beiträgen jeweils einen Vorgeschmack auf seine in der Folge erscheinenden Monographien lieferte, blieb die Zeitschrift jenseits der französischen Grenzen weitgehend unbeachtet. Die bei Suhrkamp erscheinenden vierzehn Bände „Gesammelte Schriften“ lassen diese Texte nun in deutscher Übersetzung wiederlesen. Als Vorbild für die Actes galten Emile Durkheims „L’Année Sociologique“ oder die berühmte Encyclopédie aus der Zeit der französischen Aufklärung. Für Bourdieu bedeutete die Herausgabe der Zeitschrift eine enorme zeitliche Belastung: „Zeit seines Lebens erschien in Actes kein Beitrag, der nicht über seinen Schreibtisch und durch sein kritisches Lektorat gegangen wäre“ (S. 54). Zu den ungeschriebenen Spielregeln zählte indessen auch, den Namen Bourdieu in den Beiträgen möglichst wenig zu nennen! Die Zeitschrift besteht bis heute und ist geprägt von einem zum Habitus verfestigten wissenschaftlichen Stil. Über zweihundert Nummern sind bislang erschienen.
Die Rolle des Orchesterchefs nahm Bourdieu auch im Verlagskontext wahr. Er konnte bei „Les Editions de Minuit“ eine eigene Reihe gründen und nannte sie „Le sens commun“. Hier erschienen wichtige seiner Werke, etwa „La Distinction“, einige von Mitarbeitenden wie Boltanski, Champagne, Muel-Dreyfus oder Pinto, solche der klassischen französischen Soziologen (Durkheim, Mauss, Halbwachs), jedoch auch von Cassirer, Panofsky, Goffman u.a.m. Nach Unstimmigkeiten bei „La Misère du Monde“ wechselte Bourdieu zum Verlag Seuil, wo er eine neue Reihe, „Collection Liber“, gründete.
Weniger Erfolg war der Buchrevue Liber beschieden, die von 1989 bis 1998 erschien. Hier beabsichtigte Bourdieu, „besonders nachdrücklich seine ‚Realutopie‘ vom internationalen kollektiven Intellektuellen praktisch umzusetzen“ (S. 56). Vorbild war die „New York Review of Books“. Bei der Gründung wurde die Idee der europäischen Buchrevue namhaften Intellektuellen kommuniziert, beispielsweise Pierre Boulez, Georges Canguilhem, Georges Dumézil, Norbert Elias, Jürgen Habermas, Wolf Lepenies oder Claude Simon. Lepenies reagierte skeptisch, da eben erst ein „Berlin Review of Books“ genanntes Projekt gescheitert war. Am besten gelang die Zusammenarbeit mit der italienischen Revue „Indice“. Mit anderen Partnern, etwa der FAZ, überwarf man sich bald. Die Ereignisse um Liber zeigen „eine Ironie der Geschichte dieses realutopischen intellektuellen Projekts, das an genau den Problemen interkultureller Kommunikations(un)fähigkeit scheitern sollte, gegen die es angehen wollte“ (S. 64). Ein Liber-Jahrbuch in deutscher Sprache konnte bloß zweimal erscheinen. Bourdieu lieferte für Liber Essays, Dialoge mit ausgewählten Personen und sogar viele Rezensionen zu beeindruckend unterschiedlichen Themen. „Erstaunlicherweise ist diese wichtige Facette des Bourdieu’schen Wirkens heute im Kollektivgedächtnis seiner Anhängerschaft so gut wie inexistent“ (S. 67). Immerhin sollte aus Liber, erst nach Bourdieus Tod, das Netzwerk „für einen Raum der europäischen Sozialwissenschaften“ (ESSE) entstehen.
Bourdieus gesteigertes politisches Engagement führte 1996 zur Idee, sich mit einer eigenen Schriftenreihe öffentlich einzumischen. Der Name war derselbe wie jener der sozialen Sammlungsbewegung: „Raisons d’agir“. Die kleinen Büchlein, die bis in unsere Tage erscheinen, sind billig, da die Autorinnen und Autoren auf ein Honorar verzichten, und richten sich an ein breites Publikum. Mittlerweile sind es gegen fünfzig. Das erste war Bourdieus „Über das Fernsehen“. Bei den deutschen Übersetzungen stellte sich viel weniger Erfolg ein als in Frankreich.
Nicht nur durch all diese Publikationen erschien Bourdieu der Öffentlichkeit, sondern auch durch seine Auftritte. Darüber informiert kurz das fünfte Kapitel. Für Schultheis war Bourdieu ein „sehr bescheidener, ja schüchterner Mensch“ (S. 72). Er berichtet von einem Gespräch mit dem frisch gekürten Nobelpreisträger Günter Grass (www.youtube.com/watch?v=YY0SYZZGB8I), an das er ihn begleitete. Bourdieu war sehr nervös und meinte nach dem Gespräch als Erstes, die Aufzeichnung dürfe nicht ausgestrahlt werden. Man kann auch an die Szene zu Beginn des Films von Pierre Carles „Die Soziologie ist ein Kampfsport“ denken, in der Bourdieu sich nach einer Videozuschaltung anlässlich eines Kongresses in Chicago über seine eigene Nervosität entsetzt und sich die Hände vor das Gesicht hält.
Das sechste Kapitel nimmt Bourdieus Hinwendung zur Politik in den 1990er Jahren in den Blick. Salon-Philosophieren, Moralismus, „Radical Chic“, Anbiederung an die Medien, all dies ist Bourdieu zuwider. Im Dezember 1995 hält er eine Rede vor streikenden Bahnangestellten an der Gare de Lyon (s. „Gegenfeuer“, S. 34 ff.). Für Schultheis besteht freilich kein Grund, die Bedeutung dieses Ereignisses zu überhöhen. Er kommentiert: „Zunächst muss daran erinnert werden, dass Bourdieus Soziologie durch und durch als Herrschaftssoziologie und somit als radikale Gesellschaftskritik mit starken politischen Implikationen und Intentionen verstanden werden muss: Schon in Algerien stellte er seine Forschung in den Dienst der Kritik am Kolonialismus bzw. der antikolonialistischen Befreiungsbewegungen. Vom politischen Gehalt her änderte sich also Mitte der 1990er nichts und Bourdieu hatte schon Jahre zuvor die Rolle eines öffentlich agierenden Intellektuellen eingenommen, z.B. bei den zahlreichen Petitionen, die er unterschrieb und publizierte. Dennoch stimmt es, dass das Bild Bourdieus, der vor Streikenden mit Flüstertüte in der Hand im öffentlichen Raum politisch agiert, ein Novum war. (…) Tatsächlich kam es ab 1995 zu einer massiven Verlagerung des Engagements und der Alltagspraxis Bourdieus hin zu einer ‚eingreifenden‘ Wissenschaft unter dem Leitmotiv ‚Raisons d’agir‘“ (S. 76).
Laut Schultheis „lässt sich hier von einem Schlüsselmoment sprechen, in dem eine außergewöhnliche gesellschaftliche Situation und ein spezifischer Habitus wie füreinander bestimmt aufeinandertrafen“ (S. 77). Von Nutzen ist das besonders mit der Berufung ans Collège de France sowie mit „Die feinen Unterschiede“ und „Das Elend der Welt“ angehäufte symbolische Kapital. Er wird zur Personifikation der neuen „Gauche de la Gauche“. Schultheis zitiert eine längere Passage von Bourdieu (und nennt eine Quelle von 2001, wobei unklar ist, worauf sich diese Angabe bezieht – eventuell auf ein Gespräch über Sartre): „Der kollektive Intellektuelle, der Ökonomen, Soziologen, Historiker usw. vereinigt, ist eine Instanz, die mit allen Mitteln der Wissenschaft ein aktuelles politisches Problem anpackt, und steht sowohl der Politik, die von ihren Experten umgeben ist, als auch dem unverantwortlichen Intellektuellen (den ich als ‚negativen Intellektuellen‘ bezeichne) gegenüber, der zu allen Problemen des Augenblicks Stellung bezieht, ohne andere Instrumente als sein individuelles Urteilsvermögen, d.h. sehr oft seine Vorurteile. Ich hatte lange Zeit die Schaffung dieses kollektiven Intellektuellen gefordert, der 1981 zum ersten Mal an der Frage Polens zum Einsatz kam. Wenn mir die Intervention auf politischem Boden seit den 1990er-Jahren notwendiger als je zuvor erschien, dann deshalb, weil mir die neoliberale Politik (getarnt als ‚Globalisierung‘) eine beispiellose Bedrohung für die Zivilisation darstellte und weil dieser Bedrohung, die einen Teil ihrer Stärke einem intellektuellen Herrschaftseffekt verdankt (ich denke dabei insbesondere an die Rolle der Ökonomie und der Ökonomen), ein angemessener Widerstand entgegengesetzt werden musste“ (S. 79).
Die historisch also weit zurück reichenden Wurzeln werden dabei von Schultheis nicht ganz ausgeleuchtet. Mit keinem Wort im ganzen Buch wird Bourdieus Verbindung mit Michel Foucault erwähnt, der auch am Collège de France lehrte und 1984 starb. In der Biographie über Foucault von Didier Eribon (Suhrkamp, 1991) lässt sich einiges mehr über die Entzweiung von Foucault und Bourdieu von der damaligen französischen Sozialdemokratie erfahren sowie eben auch über den Entstehungshintergrund von „Das Elend der Welt“. Eribon (S. 443) berichtet: „Beide stimmen darin überein, die Reflexion, soweit möglich, in Richtung einer ‚Logik der Linken‘ zu orientieren, indem sie alle Gesichtspunkte hervorheben, in bezug auf die die Sozialisten nichts oder zu wenig oder nur ganz Schlechtes tun. Aus ihren Dialogen entsteht zunächst die Idee eines ‚Weißbuches‘, das von einem Spezialistenkollektiv erarbeitet werden und das Elend und die Probleme in einer bestimmten Zahl von Bereichen beschreiben soll, indem es gleichzeitig Lösungsskizzen und Handlungsvorschläge beisteuert. Kultur, Erziehung, Forschung … sollen im Mittelpunkt dieses Einmischungs-Buches stehen“. Über sein Verhältnis zu Foucault äußert sich Bourdieu selber in „Ein soziologischer Selbstversuch“ (S. 90 ff.). Umgekehrt verweist Foucault offenbar lediglich an zwei Stellen seines Werks allgemein auf Bourdieu (Bourdieu-Handbuch, S. 44).
Für die Entstehung von Raisons d’agir als Protestbewegung viel bedeutsamer als die Ereignisse an der Gare de Lyon hält Schultheis eine Veranstaltung in Grenoble im Jahre 1997. Gemeinsam mit den dortigen Bewegungen wurde als Thema Prekarität bestimmt. Bourdieu sagt über sie in seiner Rede, die auch in „Gegenfeuer“ (S. 96 ff.) abgedruckt ist: „Die Prekarität ist Teil einer neuartigen Herrschaftsform, die auf der Errichtung einer zum allgemeinen Dauerzustand gewordenen Unsicherheit fußt“ (Gegenfeuer, S. 100). Schultheis spricht von einem „Prozess der Vergemeinschaftung von Wahlverwandten“ (S. 81). Bourdieu wird sich in den nachfolgenden Jahren in Deutschland, der Schweiz, Belgien und sogar Griechenland für diese erhoffte Bewegung einsetzen. Mit ihm engagierten sich vor allem die Jüngeren aus seinem Kreis. Viele Petitionen entstanden. Für die Vorstellung des kollektiven Intellektuellen gab es ein Vorbild: 1960 wurden rund zehn Personen um den Philosophen Francis Jeanson verhaftet, die den antikolonialistischen Kampf in Algerien unterstützten. Dies führte damals zum „Manifest der 121“. Ähnlich entstand vier Jahrzehnte später die „Charta 2000 – Für die Einberufung von Generalständen der sozialen Bewegung in Europa“. Der Text ist in Schultheis‘ Buch nochmals abgedruckt (S. 84–86). Als zu vereinende Bewegungen explizit genannt werden Gewerkschaften, die Bewegungen der Arbeitslosen, Obdachlosen, Staatenlosen, Frauen, Homosexuellen sowie Umweltvereinigungen. Gegnerin ist die neoliberale Politik. Die Kritik richtet sich gegen die Tatenlosigkeit angesichts der „Polarisierung ganzer Bevölkerungsgruppen“. Ziel ist es, den Widerstand dagegen zu bündeln, „einen gemeinsamen schöpferischen Prozess in Gang“ zu bringen, „eine realistische Utopie“ zu eröffnen.
Der Text wurde über das Internet hinaus auch in der österreichischen Zeitschrift „Kulturrisse“ publiziert. Österreich schien besonders geeignet wegen der Beteiligung von Jörg Haiders rechtspopulistischer FPÖ an der Regierung. Im November fand in Wien dann auch eine zweitägige Tagung statt. Bourdieu hält den Vortrag „Für eine Renaissance der Europäischen Aufklärung“. Die Begegnung zwischen den Pariser Intellektuellen und den österreichischen Bewegten sollte jedoch nicht gelingen. „Manchmal denke ich bei mir, ich könnte es doch so locker haben. Warum mache ich mir das Leben so kompliziert?“(S. 88), bemerkte Bourdieu dazu. Schultheis‘ Erklärung: „Der realutopische Entwurf eines kollektiven Intellektuellen scheiterte an den Realitäten eines weiterhin in den je eigenen ethnozentrischen Relevanz- und Plausibilitätsstrukturen befangenen kulturspezifischen intellektuellen Habitus“ (ebd.). In der Folge redimensionierte Bourdieu das Konzept des kollektiven Intellektuellen, engagierte sich im verbleibenden Lebensjahr zwar weiterhin für die Reihe Raisons d’agir, war aber nur noch in einem viel kleineren Kreis von Vertrauten aktiv.
Das siebte Kapitel bezieht sich auf Bourdieus letzte Lebensphase. Er erfuhr erst Anfang Dezember 2001 von seinem Krebsleiden und starb am 23. Januar 2002. Im Zentrum stand nun noch die Konzeption eines europäischen Netzwerks, das den Titel „Für einen europäischen Raum der Sozialwissenschaften“ (ESSE) trug. „Es ging Bourdieu darum, die Grundlagen für einen Fortbestand des von ihm rund um sein Werk und seine Praxis vereinten kollektiven Intellektuellen zu schaffen“ (S. 89). Die kurze Projektskizze ist in Schultheis‘ Buch wiedergegeben. Darin kommt folgender Anspruch zum Ausdruck: „Unter den verschiedenen theoretischen paradigmatischen Ansätzen, die im europäischen Raum und weit darüber hinaus präsent sind, scheint sich der am Centre de Sociologie entwickelte in besonderer Weise für die Kristallisation und Vereinheitlichung eines wahrhaft europäischen sozialwissenschaftlichen Feldes zu eignen“ (S. 90). Die internationale Verbreitung, die thematische Breite, die gute Übersetzungslage, der interdisziplinäre Ansatz und dass er erlaube, „die künstlichen Spaltungen zwischen den Werken eines Marx, eines Durkheim, eines Weber, oder eines Elias zu überwinden“ (S. 91), sprächen für ihn. Bourdieus Werk eigne sich als „Konvergenzpunkt“ für den zu schaffenden europäischen sozialwissenschaftlichen Raum. Diese Idee am Ende von Bourdieus Leben, das Vorhaben, einen allgemeinen Raum der europäischen Sozialwissenschaften zu schaffen, an einen Namen allein zu binden, mutet aus heutiger Sicht seltsam an. Oder war sie nur exemplarisch gemeint? Sie setzte jedenfalls das bereits mit Liber verfolgte Ziel fort. Der kleinen Arbeitsgruppe, die sich nach Bourdieus Tod bildete, gehörten auch Remi Lenoir, Patrick Champagne, Franck Poupeau und Louis Pinto an. Sie erarbeitete einen Antrag an die Adresse des 6. Rahmenprogramms der EU. Über 120 Forschende aus vierzehn Ländern hatten sich angeschlossen. Dieses Netzwerk wurde während vier Jahren von der EU finanziert. Schultheis bemängelt im Rückblick „ein hohes Maß an Selbstreferenz und Selbstgenügsamkeit“ (S. 95).
Daraus sollte indessen, wie das achte Kapitel schildert, die „Fondation Pierre Bourdieu“ (http://fondation-bourdieu.org/) hervorgehen. Sie wurde 2005 in Genf gegründet, scheint jedoch mittlerweile etwas eingeschlafen zu sein. Die Stiftung tat sich insbesondere mit der Veröffentlichung von Bourdieus Fotos aus seiner Zeit in Algerien hervor. Schultheis verbucht auch die deutsche Herausgabe der „Gesammelten Schriften“ als Erfolg der Stiftung. „Das eigentliche Zielt jedoch, das Forschungsnetzwerk ESSE zu verstetigen und lebendig zu erhalten, wurde weitgehend verfehlt“ (S. 98), beklagt er.
Fragt sich zum Schluss: Was bleibt? So lautet der Titel des neunten Kapitels. Schultheis kommt auf sein Leitmotiv, Bourdieus Realutopie des „kollektiven Forschers und Intellektuellen“, und dessen letztlich resigniert anmutende diesbezügliche Einschätzung zurück, die zu Beginn dieser Rezension genannt wurde. Der Autor von „Unternehmen Bourdieu“ nennt folgende Gründe für das Scheitern:
- Brüche mit nahen Forschenden
- widerliche organisatorische Bedingungen, geographische Distanzen
- Überambition beim Projekt Liber
- gruppendynamische und persönliche Konflikte
Positiv hebt Schultheis dagegen zuallerletzt hervor, dass die praktizierte Vorstellung kollektiven wissenschaftlichen Forschens Beteiligte aus vielen Ländern nachhaltig geprägt hat, und der Zeitschrift Actes de la Recherche en Sciences Sociales ist immer noch Erfolg beschieden, ebenso der Reihe Raisons d’agir.
Diskussion
Schultheis berichtet mit feinem Gespür für den interessierenden Detaillierungsgrad über seine Erfahrungen während gut anderthalb Jahrzehnten im Kollektiv, dessen Patron Pierre Bourdieu war. Da die Entwicklung dieses Unternehmens weit mehr als bloße Schulbildung sein wollte, ist sie noch heute von besonderem Interesse über den Rand der Soziologie hinaus. Schultheis stellt die Informationen in seinem Bericht gut und tatsächlich informiert zusammen und legt den Schwerpunkt dabei auf die Erzählung der Ereignisse und nicht auf die Analyse. Letztere ist denn weitgehend den Lesenden überlassen. Schade, fehlen viele Quellen, auf die im Text verwiesen wird, im Literaturverzeichnis am Schluss, läse man doch gerne den einen oder anderen erwähnten Text – aus Bourdieus, Schultheis‘ oder anderer Feder – nach.
Nichts erfährt man in Schultheis‘ Buch – es will ja vom Unternehmen berichten – über das private Leben Bourdieus. Er war von 1962 bis 1983 mit der Kunsthistorikerin Marie-Claire Brizard (1936–2014) verheiratet und hatte drei Söhne, Jérôme (Ökonom), Emmanuel (Philosoph, Regisseur) und Laurent (Physiologe). Das Grab befindet sich auf dem Pariser Friedhof Père-Lachaise. Eine gut recherchierte Biographie fehlt bis heute. Das in der Reihe „Grandes Biographies“ im Verlag Flammarion mit dem simplen Titel „Bourdieu“ 2008 erschienene Buch von Marie-Anne Lescourret zum Beispiel erntete in der Zeitschrift „Le Nouvel Observateur“ (März 2008) harsche Kritik von Didier Eribon. Zur Hand nehmen kann man bei Interesse die Sammlung „Rencontres avec Pierre Bourdieu“ (Éditions du Croquant), die sein Mitarbeiter Gérard Mauger 2005 herausgab und zu der über sechzig Autorinnen und Autoren beitrugen.
Fazit
Das Buch gewährt einen kurzen und dennoch informativen Einblick hinter die Kulissen der Bühne, auf der Pierre Bourdieu in verschiedenen Rollen wirkte. Franz Schultheis legt als enger Vertrauter Bourdieus einen Erfahrungsbericht vor, der im Unterschied zu dessen Werken nicht in theoretischer Sprache verfasst ist und sich daher leicht und voraussetzungslos liest. Nicht erwartet werden kann, dass hier die letzten Geheimnisse gelüftet werden, etwa zu den nicht wenigen Entzweiungen, die Bourdieus Leben begleiteten. Vielmehr lässt der Bericht gut nachvollziehen, wieviel sozialwissenschaftliche Energie um den heutzutage weltweit bekanntesten französischen Soziologen nach Durkheim gebündelt und freigemacht wurde.
Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 26.06.2019 zu:
Franz Schultheis: Unternehmen Bourdieu. Ein Erfahrungsbericht. transcript
(Bielefeld) 2019.
ISBN 978-3-8376-4786-0.
Reihe: Sozialtheorie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25640.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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